„Der Funktionär“ Dt. 2019, Buch und Regie: Andreas Goldstein
Von Angelika Nguyen
Als freundlichen Mann, sagt Andreas Goldstein im Interview, habe er seinen Vater erlebt. Das klingt schon distanziert genug. Und dann kommt noch wie ein Paukenschlag hinterher: „Aber vor allem war er nicht da.“
Jetzt holt der Sohn den Vater zurück, mit einem Dokumentarfilm. Und kann sich öffentlichen Interesses sicher sein. Trug doch dieser sein Vater einen berühmten Namen: Klaus Gysi. Und war er doch auch der Vater von Gregor Gysi, des anderen wortgewandten Funktionärs in der weit gestreuten Familie. Aber das erwähnt der Film mit keinem Wort. Dies ist die Stunde des anderen, viel jüngeren Gysi-Sohnes, von einer anderen Mutter; des Regisseurs und Autors Andreas Goldstein. Es ist seine Erzählung über seinen Vater, für 72 Minuten gehört er nur ihm allein.
Goldstein erzählt von Gysi, der 20 Jahre mit seiner Mutter zusammenlebte und drei Kinder mit ihr bekam, aus möglichst großer, emotionaler Distanz, eintönig, mit erworbener Sachlichkeit. So betrachtet er das einzige Foto, das ihn mit Mutter und Vater zusammen zeigt, erzählt er vom Zurückbleiben der Kinder und der Mutter, als der Vater als DDR- Botschafter nach Rom geht. Er drapiert die blauhimmlischen Ansichtskarten aus Rom in Collage vor der Kamera, erwähnt den Abschiedsbrief des Vaters an den Sohn, den die Mutter zerrissen hat; eine Kindheit voller Verletzungen. Jenen fernen Mann, der ein Zuhause nach dem anderen, drei Familien und sieben Kinder verließ, beschreibt Goldstein im Nachhinein als tragisch, unfrei, flüchtig. Wie er ihn damals empfand, sagt er nicht. Zugleich geht es im Film, siehe Titel, auch um den DDR-weit bekannten Partei- und Staatsfunktionär: Klaus Gysis Lebensweg von den Klassenkämpfen auf der Straße in den 1920iger Jahren zur Kommunistischen Partei Deutschlands zur Illegalität in der Nazizeit, zur obersten Parteikader-Kaste der DDR, mit allen Gnaden und Ungnaden, Verlagsleiter, Kulturminister, bis kurz vor Schluss und längst jenseits des Renteneintrittsalters Staatsekretär für Kirchenfragen; bis zum TV-Interview des Entmachteten durch Günter Gaus nach dem Mauerfall bis zu Gysis Tod 1999.
All das erzählt der Film nicht chronologisch-biographisch, vielmehr in einer Folge von Assoziationen, ein filmischer Essay, in dem der Regisseur auch viel von sich erzählt. Denn der Film hat zwei Hauptprotagonisten: sichtbar Klaus Gysi (Jahrgang 1912) und unsichtbar Andreas Goldstein selbst (Jahrgang 1964).
Den Funktionär Gysi vom Menschen Gysi trennen zu wollen, wie der Regisseur im Interview seine Absicht beschreibt, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Bestimmten doch die Zäsuren in Klaus Gysis Parteiarbeit direkt die Zäsuren in seinem Privatleben. Die macht der Film sichtbar, in einem einsamen langen Monolog, von Goldstein geschrieben, von Goldstein gesprochen. Elegisch bis zur Erschöpfung.
Der Film ist vieles: Spurensuche, Erinnerung, Abrechnung, Selbsttherapie, auch der Generationenfilm eines 1960igers aus dem Osten. Jener Generation, die sich lange Zeit jenseits aller „großen historischen Erzählungen“ sah, wie am Beginn des Films anklingt – die zu jung war für die Aufbaujugend der 1940er und frühen 1950er, welche noch die offene deutsche Grenze kannte. Die erst nach dem Mauerbau aufwuchs, im großen europäischen Frieden, in der Langeweile von sozialer Sicherheit und Konsolidierung der Systeme. Die später die alten Männer da oben satt hatte. Die als Jugendliche mit Lust auf Risiko und Abenteuer nicht ins kapitalistische Ausland reisen durfte, falls sie nicht zufällig zu einer privilegierten Familie gehörten.
Als die „windstillen 80iger Jahre“ beschreibt Andreas Goldstein seine Ost-Jugendjahre, in denen er die vielen menschenleeren Schwarz-Weiß-Fotos schoss, die den Film bevölkern. Wie schon in „Adam und Evelyn“ ist Goldstein auch hier einer, der sich Zeit lässt mit der Erzählung, ja, die manchmal fast zum Stillstand kommt. Zum Beispiel, wenn er den Tod und mutmaßlichen Selbstmord seiner Mutter beschreibt, ihre letzten Jahre nach dem Mauerfall, den sie nicht verkraftet hat. Da hält der Film innerlich an, sind Privatfilmaufnahmen einer verlassen wirkenden Wohnung zu sehen; eine Küche, ein Boiler, ein tropfender Wasserhahn, Essensreste; ein Zettel, auf dem die Mutter einen Traum niederschrieb. Man wünscht sich, dass Goldstein es nicht vorliest. Er liest es vor. Warum diese eingehende Erzählung über den Tod der Mutter? Eine traurige Sequenz, indiskret; zu dicht, zu persönlich. Und sie fällt aus dem sonstigen Fokus von „Der Funktionär“ gänzlich heraus.
Spät redet Andreas Goldstein, Regisseur seit 1999, über diese Zeit der Kindheit und Jugend, über seine Eltern, über seine ganz spezielle DDR-Erfahrung, sein Verlorensein zwischen den Erwachsenen, die privat nicht klar kamen, aber für die Partei funktionierten wie Automaten, bis mit der Mauer auch ihr Leben zusammenfiel. Jetzt, 20 Jahre nach dem Tod des Vaters, redet er, als wäre es gestern gewesen. Sein Film wirkt wie eine Flaschenpost, die in den 1980igern abgeschickt wurde und seither im Meer der Weltgeschichte herumgeirrt und jetzt ins Netz gegangen ist.
Atmosphäre ist dem Film wichtig, Bilder, Geräusche: minutenlange Einstellungen auf die Straßen im Berlin der Gegenwart, in Farbe; und die Rückblicke in Schwarz-Weiß: das nass glänzende Pflaster am Ostberliner Fernsehturm in den 80ern; ein Altneubau-Innenhof, eine verwischte S-Bahn; Tauben vor einer Speisegaststätte in Prenzlauer Berg. Geräusch-Minimalismus. Gewitter. Regen. Vogelzwitschern.
Vorbeisausende Züge. Ein einzeln dröhnendes Flugzeug. Die selbstgewissen, schnell wieder verloschenen Reden von Ost-Prominenz am 4. November 89 auf dem Alexanderplatz nur als Tonaufnahme, dazu noch mal das menschenleere Foto unterm Fernsehturm. „ Kellner, die mit dem Kapitän Fragen der Befehlsgewalt diskutieren, während das Schiff sinkt.“ beschreibt Goldstein treffend die damalige politische Situation.
Der Film nimmt sich auch Archivbilder mit Gysi vor und seziert sie. TV-Aufnahmen des Vaters, in Zeitlupe verfremdet, ohne Originalton, mit einzelnen Pianoklängen. Eine Audienz der Minister bei Walter Ulbricht gerät in ihrer zweimaligen Vorführung zum archäologischen Fund; erst beim zweiten Mal ist zu sehen, wie exotisch sich der vergleichsweise klein gewachsene, intellektuelle, jüdisch verwurzelte Klaus Gysi, offensichtlich gerade ironisch kommentierend, im Kreise seiner Kollegen ausnimmt. Als würde Goldstein diese Szene mit seinem Vater rühren, stellt er ausgerechnet an dieser Stelle große Fragen der Versöhnung: „Warum erwarten wir von den Vorangegangenen, dass sie in jedem Augenblick ihres Lebens mit sich selbst identisch sind, um uns ein Bild zu geben?“ Da ist der Sohn mal sehr erwachsen und richtet einen Vorwurf an sich selbst: „Wir würden Fragen nach der Legitimität unserer eignen Existenz abweisen. Wie kommen wir dazu, sie immer an die Vergangenheit zu richten?“ Dazu dramatische Opernmusik und die Karl-Marx-Allee. Großer Filmmoment.
Irgendwann im letzten Drittel des Films lässt die Spannung nach. Die lange Kommentarlinie des Regisseurs ist erschöpft, die 80er sind vorbei. Der Windstille der 80er folgte der Lärm der 90er. Im Film statt dessen der Abspann.
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