Kultur

„Ich bin die grosse Frage.“ – Über „Emmy Hennings DADA“

Emmy Hennings ist nicht leicht auf die Schliche zu kommen. Mit Kurt Schwitters ließe sich sagen, Hennings war Dada, weil sie durch Dada hindurchgegangen ist.

Von Jürgen Schneider

(Aus telegraph #131/132)

EMMY_HENNINGS

Im kommenden Jahr wird der 100. Geburtstag des Zürcher ‚Cabaret
Voltaire’ und der Entstehung der tumultanen Dada-Bewegung gefeiert werden. Die Stadt Zürich will den Geburtstag gebührend würdigen, während die Politikanten der Schweizerischen Volkspartei schon 2010 beherzt reaktionär fragten, was das denn für eine Botschaft sei, die Dada von Zürich in die Welt tragen solle. Die Botschaft sei das Nichts – antikapitalistisch, antibürgerlich und antichristlich.

Zum Dada-Jubiläum ist mit allerlei Versuchen zu rechnen, Dada vereinnahmen und seine Intentionen entstellen zu wollen.
Eine zentrale Protagonistin von Zürich Dada war Emmy Hennings. Für den Zürcher Verlag Scheidegger & Spies haben Christa Baumberger und Nicola Behrmann nun den üppig gestalteten Großband Emmy Hennings Dada herausgegeben.

Bis zur Ausstellung Emmy Ball-Hennings 1885-1948 ,ich bin so vielfach’, 1999 in Zürich und Flensburg zu sehen, war Emmy Hennings mehr oder weniger vergessen. Der zu dieser Ausstellung erschienene gleichnamige Katalog mit Texten, Bildern und Dokumenten (Stroemfeld/Roter Stern) kann als Standardwerk über sie gelten. In dem 1957 erschienenen Buch DADA – Gedichte der Gründer (Die Arche) fanden sich Gedichte von ihr, und sie war auf der Cover-Rückseite abgebildet, doch als Autoren wurden lediglich ihre Kollegen Arp, Huelsenbeck und Tzara genannt. In dem dicken Katalogbuch Dada in Zürich von 1985 (Kunsthaus Zürich/Arche) kam Emmy Hennings nur am Rande vor. Seither sind zwei Biographien erschienen: René Gass, Emmy Ball-Hennings: Wege und Umwege zum Paradies (Pendo Verlag, 1998) sowie Bärbel Reetz, Emmy Ball-Hennings – Leben im Vielleicht (Suhrkamp, 2001). 2013 gab Hagen Schied einen Band mit ihren Gedichten heraus: Emmy Ball-Hennings: Hochaufgetürmte Tage (Hochroth Verlag, 2013).

Der Protagonistin, so ihre Biographin Bärbel Reetz, „ist nicht leicht auf die Schliche zu kommen. Das merke ich immer wieder. Wenn ich glaube, sie zu kennen, zeigt sich eine neue Seite.“ Die in Flensburg geborene Emmy Hennings war Schauspielerin in einer Wandertruppe, Hausiererin, Diseuse in Tingeltangels, deren Stimme, so heißt es in einer Kritik jener Zeit, „über Leichen hüpfen und sie wie ein gelber Kanarienvogel seelenvoll trällernd verhöhnen“ könne; sie war Modell für Maler, eine Morphium- und Äther-Süchtige und Gelegenheitsprostituierte. Nachdem ein Mann ihr in einem „ Café“ erklärt hatte, dies sei kein Milieu für sie, und dann mit ihr geschlafen hatte, fand sie sich auf der Straße wieder mit einem Geldstück in der Hand. Später erinnerte sie sich an ihre erste Sexarbeit: „Ich fühle nur ein Grauen in mir, von dem ich mich nicht befreien kann. […] Für dieses Zehnmarkstück wurde ich selbst auf den Tisch gelegt.“ Als um 1910 die jungen Expressionisten aufbrachen, stand sie in deren Zentrum und fing bald auch an zu schreiben: „An die Scheiben schlägt der Regen, / Eine Blume leuchtet rot. / Kühle Luft weht mir entgegen. / Wach ich oder bin ich tot?“ (Äther, in: Die Aktion, 14. August 1912, Nr. 33). Einsamkeit, Ekstase, Gefangenschaft, Sucht und Tod sind Gegenstand ihrer Gedichte.

Sie war die Geliebte und Inspiration vieler Dichter jener Generation: Johannes R. Becher, für den sie „die blonde Muse“ war, Jakob von Hoddis, Georg Heym, Ferdinand Hardekopf, Erich Mühsam, der sie ein „erotisches Genie“ nannte und für den sie später alle Hebel in Bewegung setzt, nachdem er in ein Konzentrationslager gebracht worden war. Sie fuhr im April 1934 nach Oranienburg, durfte Mühsam aber nicht sehen und konnte nichts für ihn tun. Am 10. Juli 1934 wurde er im KZ Oranienburg ermordet.

In der Münchner Künstlerklause Simplizissimus, in der Emmy Hennings als Vortragskünstlerin engagiert war und Volkslieder und Balladen sang, lernte sie um 1913 den Dramaturgen Hugo Ball kennen, der sich als eifriger Käufer ihrer von Hand geschriebenen und in bunte Seide gebundenen Gedichtbändchen erweisen sollte und sich deswegen, so Hennings in Ruf und Echo, ein Lied aus ihrem Repertoire aussuchen durfte. Sie sang Nur Liebe ist Leben für ihn, und er lud sie anschließend zu einer Erbeerbowle ein. Hennings erster „richtiger“ Gedichtband Die letzte Freude erschien 1913 im Kurt Wolff Verlag. Im Sommer 1914 landete Emmy Hennings „wegen eines Diebstahls, begangen in Hannover an einem nächtlichen Besucher, in Untersuchungshaft in Neudeck.“ (Erich Mühsam) Im Gefängnis erfuhr sie vom Kriegsausbruch: „Der Krieg brach aus – Die Kunde vernahm ich durch das sogenannte Judasloch, das Guckfenster in der Eisentüre … Ein kleines Bauernmädel ist’s gewesen, die mir sagte: ‚s’isch Krieg’. Ich verstand.“ Am 19. Oktober 1914 hatte sie ihre im Prozess verhängte Strafe abgesessen, aber von Mitte Dezember 1914 bis Januar 1915 war sie wieder in Haft wegen des Verdachts der Mithilfe bei der Desertion und Ausreise des Schriftstellers Franz Jung.

Ende Mai 1915 emigrierten Hugo Ball und Emmy Hennings „ziemlich ohne Geld in ein Ungewisses“ und nahmen Aufenthalt in Zürich, der „Lebensinsel im Todesmeer“ (Hans Richter), einem „Brennpunkt kritischer Energien, ein Zentrum revolutionärer Temperamente. Wer Zürich erreichte, hatte sich aus dem Blut-Ozean, wenn auch nur für kurze Zeit gerettet. Hier war eine Urlaub-von-dem-Tode-Stimmung, eine Ausgelassenheit, die sich mit Melancholie verband“ (Richard Huelsenbeck, Dada in Zürich). Kurz darauf sollte ein anderer Emigrant aus Triest in Zürich eintreffen: der irische Schriftsteller James Joyce. Obwohl Joyce gerne Cafés und Kneipen besuchte, haben sich die Wege von Hennings und Ball und Joyce offenbar nicht gekreuzt. Seiner Schwester Maria schrieb Ball: „Ich bin aus Deutschland weggegangen, weil ich immer die Absicht hatte, mich im Ausland weiterzubilden und weil der Krieg und der ‚Patriotismus’ meinen Überzeugungen widersprach.“ Vor der Abreise nach Zürich hatte Ball mit Huelsenbeck zur Gedächtnisfeier für gefallene Dichter, darunter Balls Freund Hans Leybold, ein literarisches Manifest verfasst, in dem es heißt: „Wir gehen los gegen alle ‚ismen’, Parteien und ‚Anschauungen’. Negationisten wollen wir sein.“

Über ihre prekäre Existenz in Zürich schrieb Emmy Hennings in Ruf und Echo: „Die kleine Geldsumme, die wir mitgebracht hatten, war rasch verbraucht. […] Wir wohnten eine Zeitlang in der Schoffelgasse, wo wir ein paar Tage hinter geschlossenen Türen Knöpfe auf Karton nähten […] Beim Knopfannähen mußte ich Hugo für ‚dauernd untauglich’ erklären. Er ließ auch willig davon und verschanzte sich hinter Büchern, die er aus der Bibliothek holte.“ In einem Bericht der Stadtpolizei Zürich vom Juli 1919 heißt es: „Das Concubinatspaar lebte, weil niemand arbeitete, in grosser Armut. Von Dr. Brupbacher, in Zürich, bekannter Anarchist, erhielten sie Unterstützung.“ Von Oktober bis Dezember 1915 waren Emmy Hennings und Hugo Ball am Varieté-Ensemble ‚Maxim’ engagiert. Gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Käthe Brodnitz veranstalteten sie am 17. Dezember 1915 einen ‚Modernen Autoren-Abend’ im Zunfthaus zur Zimmerleuten. Mit dem eigenen Varieté-Ensemble ‚Arabella’, bestehend aus ehemaligen ‚Maxim’-Künstlern, unternahmen sie zu Beginn des Jahres 1916 eine Tournee, die sie in schweizerische Bodensee-Städte führte.
Danach konnten sie den holländischen Wirt der ‚Meierei’ in der Spiegelgasse 1 zu Zürich überzeugen, ihnen dessen Räumlichkeiten für ihr eigenes Cabaret zur Nutzung zu überlassen. Am 5. Februar 1916 wurde das ‚Cabaret Voltaire’ eröffnet, aus dessen Treiben sich Dada entwickeln sollte. „Mde. Hennings und Mde. Leconte sangen französische und dänische Chansons. Herr Tristan Tzara rezitierte rumänische Verse. Ein Balalaika-Orchester spielte entzückende russische Volkslieder und Tänze. Viel Unterstützung und Sympathie fand ich bei Herrn M. Slodki, der das Plakat des Cabarets entwarf, bei Herrn Hans Arp, der mir neben eigenen Arbeiten einige Picassos zur Verfügung stellte und mir Bilder seiner Freunde O. van Rees und Arthur Segall vermittelte. Viel Unterstützung bei den Herren Tristan Tzara, Marcel Janco und Max Oppenheimer, die sich gerne bereit erklärten, im Cabaret auch aufzutreten. Wir veranstalteten eine RUSSISCHE und bald darauf eine FRANZÖSISCHE Soirée (aus Werken von Apollinaire, Max Jacob, André Salmon, A. Jarry, Laforgue und Rimbaud). Am 26. Februar kam Richard Huelsenbeck aus Berlin, und am 30. März führten wir eine wundervolle Negermusik auf (toujours avec la grosse caise: boum boum boum boum – drabatja mo gere drabatja mo bonooooooooooooo –).“ (Hugo Ball, Als ich das Cabaret Voltaire gründete …) In seinem Tagebucheintrag vom 18.April 1916 erwähnte Ball erstmals das Wort Dada, und am 31. Mai 1916 erschien die Anthologie Cabaret Voltaire, in der erstmals das Wort ‚Dada’ gedruckt ist. Es verwundert nicht, dass sich alle möglichen Herren an ihr Revers heften wollten, auf das Wort gekommen zu sein. In Rebellen und Bekenner (1929) schrieb Emmy Hennings allerdings: „Dada – das Wort stammt von mir. Ich habs in einer Spielerei oft Hugo gesagt, wenn ich spazieren gehen wollte. Alle Kinder sagen zuerst: Dada.“ Hans Richter führt in DADA – Kunst und Antikunst aus: „Man kann ohne Schwierigkeiten in nahen oder fernen Zeiten Dada-Tendenzen oder -Manifestationen finden, ohne deswegen von Dada sprechen zu müssen. Fest steht indessen, daß um das Jahr 1915/16 ähnliche Manifestationen allenthalben in verschiedenen Teilen der Erde das Tages- oder Nacht-Licht erblickten. Aber nur EINE dieser Manifestationen wurde zu einer Bewegung durch jene Magie der Persönlichkeiten und der Ideen, die offenbar zur Bildung einer Bewegung gehört. Die eigentümlich verdichtete, spannungsvolle Lage in der neutralen Schweiz mitten im großen Krieg gab den passenden Hintergrund. Diese Bewegung, die andere nach sich zog, entstand in Zürich im Cabaret Voltaire Anfang 1916.“

Am 23. Juni 1916 trug Ball in kubistischer Kartonverkleidung erstmals seine Lautgedichte vor, dann war bereits Schluss mit dem ‚Cabaret Voltaire’. Es folgten acht Dada-Soiréen an verschiedenen Zürcher Orten. Im Frühjahr 1917 gründeten Emmy Hennings, Hugo Ball und Tristan Tzara die Galerie Dada in der Zürcher Bahnhofstrasse. Ende Mai reiste Ball aus Zürich ins Tessin ab. Emmy Hennings blieb zurück und löste mit Tzara, der sich längst zum unermüdlichen Propagandisten des Welt-Dada entwickelt hatte, die Galerie Dada auf. Ball hatte bereits Mitte 1916 erklärt, dass Expressionismus und Dadaismus „schlimmste Bourgeoisie“ seien und hinzugefügt: „Übel, übel, übel.“ Stattdessen plädierte er für „Plausibilitäten. Wirklichkeiten. Ach, das ist viel schwerer, viel abenteuerlicher als das andere.“ (zit. n. Reetz) Emmy Hennings schrieb nach Balls Tod im Jahre 1927 in Rebellen und Bekenner: „[Ich] hatte wenig Lust, mich als dienendes Glied an eine nicht einmal halbe Kunstrichtung anzuschließen. Es waren mir zu viele Leute entzückt davon. […] Keiner von den Dadaisten hat auch nur eine Bibliothek verbrannt. Niemand hat eine Maschine zertrümmert. Alle Autos sind heil geblieben, und unsere Soiréen waren gut besucht von Fünf-Uhr-Tee-Leuten.“ Immer den kleinen Leuten zugetan, lebte sie in größter Einfachheit und bekundete: „Ich gehe immer auf die Gasse, und meine Bücher sind Gassenbücher.“ (zit. n Reetz) Zum Lebensende blieben ihr Pläne und monotone Fabrikarbeit.

In Emmy Hennings Dada sollen ihre vielen Facetten durch eine Polyphonie von Stimmen über die Zürcher Dada-Zeit von 1915 bis 1918 deutlich gemacht werden. Verdienstvoll sind das Faksimile des Roten Heftes von Emmy Hennings, einem von ihr gebastelten Gedichtheft von 1916 aus dem Cabaret Voltaire, sowie der erstmalig vollständige Abdruck ihres Typoskripts Verse und Prosa aus dem Jahr 1917. Eine erläuternde Auflistung all derer, die um Emmy Hennings herum die Aktionen der Dada-Gruppe miterlebten, vorbereiten halfen oder kommentierten, macht das weite und offene Netzwerk an Beziehungen und Freundschaften deutlich, das sich um Emmy Hennings und Dada gebildet hatte.

Einige Formulierungen in den Vorbemerkungen der Herausgeberinnen bedürfen allerdings eines Kommentars. Christa Baumberger konstatiert, es existierten kaum Dokumente, die uns einen unmittelbaren Eindruck der Soiréen und dadaistischen Vortragsabende vermitteln könnten. Natürlich gibt es Berichte, etwa von Richard Huelsenbeck, der beschreibt, wie Emmy Hennings mit ihrer durchdringenden Stimme das Publikum zu fesseln vermochte, wie die Zuschauer ihre Spazierstöcke wild auf den Boden stießen und vor Begeisterung schrien. „Sie verstand es immer, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen, obwohl sie keineswegs schön war.“ (Huelsenbeck, Das Cabaret Voltaire, in: Emmy Ball Hennings 1885-1948)

Der Titel des Buches, Emmy Hennings Dada, gehe, so Nicola Behrmann, zurück auf einen undatierten Brief von Hennings an Tristan Tzara, den sie mit „Ihre Hennings-Dada“ unterschrieb. Hennings, so heißt es weiter, habe „weder ein Simultan- noch ein Lautgedicht verfasst, kein Manifest produziert oder unterschrieben und nie ernsthaft einen Anspruch auf Mitgliedschaft erhoben. Und dennoch: Emmy Hennings war Dada. Immer zugleich ‚da’ und nicht ‚da’. Von jenem rätselhaften, verrückten und suggestiven Nicht-Wort Dada, dem blinden Fleck, der beliebig mit Bedeutung gefüllt werden kann, ist sie nicht zu trennen.“ Warum Hennings Dada war, zeigt Behrmann in der Folge auf. Mit Kurt Schwitters ließe sich sagen, Hennings war Dada, weil sie durch Dada hindurchgegangen ist. Dada Zürich resultierte aus dem breiten Fundus der Heterogenität, bei der sich Aktion, Literatur und moderne Kunst ohne einen gemeinsamen Nenner kreuzten (s. Dada in Zürich). Eine Dada-Mitgliedschaft gab es nicht. Und Dada war auch nicht gekennzeichnet durch eine postmoderne Beliebigkeit. Die Herausgeberinnen verzichten „auf die ‚objektive’ historische Perspektive“. Hans Richter hat einst zu Recht darauf hingewiesen, um zu erkennen, wie ernst und real Dada war, müssten erst einmal die Spielregeln wiederhergestellt werden, die ein gewisses Maß von historischer Treue gewährleisten. Dazu gehört, dass Dada Zürich nur zu fassen ist, wenn man im Grauen des Ersten Weltkrieges einen zentralen Impuls der in Zürich agierenden Dadaisten sieht, den Krieg in der genannten Polyphonie nicht nur hier und da beiläufig aufscheinen lässt.

Den durch das Gemetzel des Ersten Weltkrieges hohl gewordenen abendländischen Werten widmeten die Dadaisten ihren grellen Hohn. Ihr bruitistischer Lärm galt den Ohren der Kriegsherren, die ihre Jugend in den Granathagel und das Gas der Schlachtfelder schickten. Ball dichtete: „Ich liebte nicht die Totenkopfhusaren, / Und nicht die Mörser mit den Mädchennamen, / Und als am End die großen Tage kamen, / Da bin ich unauffällig weggefahren.“ (zit. nach Hans Richter, DADA – Kunst und Antikunst, DuMont, 1973) Bereits Neujahr 1915 hatte Ball in Berlin notiert: „ Auf dem Balkon der Marinetti-Übersetzerin demonstrierten wir auf unsere Weise gegen den Krieg: Indem wir in die schweigende Nacht der Großstadtbalkone und Telegraphenleitungen hinunterrufen: ‚A bas la guerre!’“ Ball, der sich im August 1914 patriotisch entflammt als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, aus gesundheitlichen Gründen aber abgewiesen wurde, war die Situation im kriegsbegeisterten Berlin längst unerträglich: „O Deutschland, Vater- und Mutterland in hundertfachen Verbänden bist du die Mumie unter den Völkern. Alle Welt schleppt sich in dir mit Leichen.“ (zit. nach Reetz) Im Spätsommer 1914 hatte Ball frontnahe Orte in Lothringen besucht. Aus diesen Tagen stammen seine nachhaltigen Eindrücke von den unmittelbaren Opfern und Verwüstungen des Krieges. Am 1. Oktober 1916 notierte er: „Sie (Emmy Hennings) hält die Sommeschlacht für die wirkliche Hölle, von der prophezeit ist. Sie hat ein Bild gesehen, Leute mit tierischen Gasmasken, die wie Rüssel und Schnauzen aussehen. ‚Seither glaube ich ganz fest, daß das wirklich die Hölle ist, von der geschrieben steht. Warum sollte es nicht möglich sein?’“ (zit. nach Emmy Hennings Dada). Über Jancos Masken, mit denen Ball, Hennings & Co. im Cabaret Voltaire auftraten, schrieb Ball, sie hätten das Grauen dieser Zeit, den paralysierenden Hintergrund der Dinge, sichtbar gemacht. Emmy Hennings erinnerte sich für die Neue Zürcher Zeitung im Mai 1934: „Es wurde in unheimlich wirkenden Larven und Panzern getanzt, die an Tanks und Gasmasken erinnerten, an die furchtbare Ausrüstung des Krieges, wie die wilde Zeit überhaupt auf die Kunst abfärbte.“ In der niederländischen Zeitung Niuwe Amsterdamer berichtet Adrianus Baltus van Tienhoven am 1. Juli 1916 von einer Soirée im ‚Cabaret Voltaire’: „Emmy Hennings singt mit einem häßlich expressiven Stimmchen und das magere, vom Morphium zerstörte Gesicht grinst bei den heftigen Bildern, die sie malt. Sie singt ein Soldatenlied von ihrem Freund Hugo Ball auf diesen Krieg, wobei ihr weißer, magerer Kopf einem Totenschädel gleicht. Sie singt es zu einer einfachen, beinahe fröhlichen Melodie, und in jeder Zeile hört man den Sarkasmus und den Hass auf den Herrn Kaiser, die Verzweiflung der in den Krieg gejagten Männer.“ Bei dem Soldatenlied handelte es sich um Balls ‚Totentanz’. Das Gedicht war im Januar 1916 auf der Titelseite der Zeitschrift „Revoluzzer“ erschienen, zu der Ball über Brupbacher Kontakt bekommen hatte: ‚So sterben wir, so sterben wir, / So sterben wir alle Tage. / Weil es so gemütlich sich sterben läßt […] Die Schlacht ist unser Freudenhaus / Von Blut ist unsre Sonne […] So morden wir, so morden wir / Und morden alle Tage […].’ Das Gedicht wurde von Emmy Hennings zur Melodie des Marschliedes ‚So leben wir’ gesungen und endete als ein höhnischer Wiegengesang: ‚Schlafe nur, schlaf sanft und still / Bis dich auferweckt / Unser armer Leib, der den Rasen deckt.’“

Hans Arp schrieb 1958 rückblickend: „Die Dadaisten waren, sind und werden stets gegen den Krieg sein. Die Dadaisten verabscheuen den Krieg aus tiefstem Herzensgrund. […] Der Dadaist leidet unter der Tobsucht des menschlichen Größenwahns, der mit dem Weltkrieg von 1914 begann.“ (Dada, in: DaDa – Dada in Europa. Werke und Dokumente, Dietrich Reimer Verlag, 1977) Hans Richter fragte während der 8. Dada-Soirée am 9. April 1919: „Man macht mit Ernst gute Geschäfte, Krieg, Kinder und Grausamkeit, was noch?“ Und er fuhr fort: „Der mangelnde Glaube an jede Zusammengehörigkeit, dem wir Ihrer: Gesellschaftsform (oh Staat!) verdanken – ihrer Gemeinschaft; die uns verpflichtet, sich in jeder Form davon zu unterscheiden, war das Zwangsmittel zur Bildung dieses mondsteinfarbenen Dada – …“

Im Kapitel Die Dada-Szene um Emmy Hennings in Emmy Hennings Dada findet auch Lenin Erwähnung. Im Gegensatz zu Hans Richter erwähnt Emmy nirgendwo, dass sie Wladimir Iljitsch begegnet sei. Richter schreibt: „Ich habe Lenin in der Bibliothek mehrmals gesehen und ihn auch einmal in Bern in einer Versammlung sprechen hören. Er sprach gut Deutsch. Mir schien, als wären die Schweizer Behörden weit mißtrauischer gegenüber den Dadaisten, die ja jeden Augenblick in irgend etwas Unerwartetes ausbrechen konnten, als gegen diese ruhigen gelehrten Russen…, auch wenn diese die Weltrevolution planten und zum Erstaunen der Behörden auch durchführten.“ (DADA – Kunst und Antikunst)

Reiner Ganahl (DADALENIN) ist überzeugt, daß Lenin Gründungsmitglied von Dada und der vierte Mann der orientalisch aussehenden Deputation von vier Männlein war, die laut Hugo Ball vorzeitig zur Eröffnung des Cabaret Voltaire erschienen, vielmals diskret sich verbeugend: „Marcel Janco, der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco und ein vierter Herr, dessen Namen mir entging.“ (Hugo Ball, Flucht aus der Zeit, 1927) Daß Lenin Dadaist gewesen sei, weise mit „ stringenter Beweiskette“ (Der Spiegel) auch Dominique Noguez in Lenin dada nach (Limmat Verlag, 1990; durchgesehene Neuauflage 2015) Dort heißt es: „Der Schweizer Schriftsteller Sergius Golowin unterstreicht bereits 1966 durchaus zu Recht die Tatsache, daß sich zumindest geographisch der Dadaismus und der Bolschewismus berühren. …“ Stringenz? Nur weil in meiner Nachbarschaft einer auf die Pauke hat, bin ich noch lange kein Musiker. Alfred Dreifuß und Klaus Michael schreiben in ihrem Nachwort zu Hugo Balls Flametti oder vom Dandysmus der Armen (Aufbau Verlag, 1989), der Besuch Lenins im Cabaret Voltaire am 4. Mai 1916 zur „Russischen Soirée“ „ist verbürgt“, ohne jedoch den Bürgen zu nennen. Der Kunsthistoriker Adrian Notz äußerte sich gegenüber der Tageszeitung Neues Deutschland: „Es gibt keine Belege, weil Lenin anonym im Cabaret Voltaire gewesen ist und sich sogar verkleidet haben soll. Also, es ist wahrscheinlicher, dass er hier war, als dass er nicht hier war, weil er ja 50 Meter nebenan wohnte. Lenin mochte Kabaretts. Und wenn er nicht über den Imperialismus geschrieben hat, ist er sicher auch ins Cabaret Voltaire gekommen.“ In Emmy Hennings Dada heißt es zur Klarstellung über Dada und Lenin, der vom 21.2.1916 bis zum 2.4.1917 in der Spiegelgasse 14 in unmittelbarer Nähe des Cabaret Voltaire wohnte: „Ein Besuch im Cabaret Voltaire hat sich trotz zahlreicher Behauptungen nie eindeutig bestätigen lassen. Die zahlreichen russischen Emigranten, die im Cabaret Voltaire verkehrten, könnten aus dem Kreis um Lenin kommen. Eine persönliche Begegnung zwischen Emmy Hennings und Lenin ist ebenfalls nicht nachgewiesen. Auch Ball notiert sich lediglich in sein Tagebuch: ‚Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, daß ich bei dem Vortrag Brupbachers am 11. Juni 15 in Zürich Lenin sprechen hörte.’ (Ball TB, 23.2.1923). Ichak, Hubermann, Brupbacher und Alvarez del Vayo waren persönlich mit ihm bekannt.“

Der Spanier Julio Alvarez del Vayo war aus Berlin nach Zürich gekommen. In Berlin hatte er Kontakt zu Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, deren Schriften er ins Spanische übersetzte. In Zürich traf er sich mit Lenin. Später wurde er spanischer Botschafter in der Sowjetunion (1933–1935) und Außenminister der Spanischen Republik (1936–1939). Über Hans Richter lernte er 1917 Emmy Hennings kennen und begann mit ihr eine Liebesbeziehung. Die Schriftstellerin Claire Goll erinnerte sich an die Vayo-Affäre: „Ein spanischer Journalist und Schönredner entführte Emmy Hennings eines Tages, und Ball suchte sie verzweifelt in der ganzen Stadt, einen Revolver in der Tasche. Ein paar Wochen später bekam er sie zurück, ohne jemanden umzubringen.“ (zit. n. Reetz) 1918 reiste Alvarez del Vayo aus der Schweiz ab. In seinem Buch The Last Optimist (1930) schrieb er über Emmy Hennings: „Keine Leidenschaft war ihr fremd, und selbst in den tiefsten Abgründen war es ihr irgendwie gelungen, ihre innere Reinheit zu bewahren. Grausame Brutalität und perverse Erotik schienen entwaffnet, wenn sie es mit ihr zu tun hatten. Später, als sie sich in Literatenkreisen bewegte, fand sie in der künstlerischen Boheme von München und Berlin die enthusiastische Aufnahme, die denen vorbehalten war, die nicht nur ein außerordentliches Talent, sondern auch ein Stück jenes Lebens vorweisen konnten, das die Bohèmiens vergöttern konnten, ohne seine Freuden, sein Elend und seine Täuschung je selbst erlebt zu haben.“

Christa Baumberger & Nicola Behrmann (Hrsg.), Emmy Hennings Dada, Scheidegger & Spiess, Zürich 2015, 236 S., 48 EUR

Jürgen Schneider ist Autor, Übersetzer und Irland-Experte.
Er lebt in Düsseldorf.