Kultur

„Ich will nicht behindert sein!“

Neu im Kino „DORA oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, Regie: Stina Werenfels

Von Angelika Nguyen

„Was wäre, wenn wir alles absetzen“ fragt im ersten Satz des Films Kristin, die Mutter der geistig behinderten Dora einen Arzt. Mit „alles“ sind Psychopharmaka gemeint, die Dora täglich zu schlucken bekommt . Auch zur Ruhigstellung ihres Sexualtriebs. Dora selbst sehen wir zunächst nicht. Die ersten Einstellungen des Films zeigen, was sie selber sieht: die vielen Tabletten, die Morgenstulle, den Arzt, das Gesicht der Mutter, die Diskussion der Eltern, zwei sich paarende Schnecken, nah gefilmt, im Garten. Und von Dora sehen wir erst nur die Augen, dunkle sanfte aufmerksame Augen .
Dann nimmt die Geschichte ihren Lauf. Dora wird 18, große Gartenparty, Luftballons, Kuchenkerzen, Seifenblasen, wie beim Kindergeburtstag. Patentante, Vater, Mutter, alle haben sich an die ewige Kindlichkeit Doras gewöhnt, die sich intellektuell und psychisch etwa auf der Stufe einer Achtjährigen befindet. Das ist unterhaltsam, wie kleine Kinder eben sind und garantiert eine gewisse Räson: die Stabilität der verteilten Rollen Vater, Mutter, Kind. Dann aber zeitigt das Absetzen der Medikamente, die offenbar Doras Sexualtrieb ausbremsen sollten, seine Wirkung: während die Mutter der badenden Dora das Lieblingsmärchen vorliest, entdeckt die Tochter die Lust am Körper, was der Mutter natürlich peinlich ist. Wieder beobachtet Dora die Schnecken im Garten, und dem Vater will sie beim Familienkuss die Zunge in den Mund stecken. Die erwachende Lebens- und Sexuallust Doras bringt Gefahren mit sich, vor der Eltern ihre Kinder immer gern bewahren wollen – insofern handelt es sich hier um ein ganz normales Pubertätsdrama. Aber eben ohne die übliche soziale Selbstkontrolle der Heranwachsenden, das bringt nicht nur das Sozialgefüge der kleinen Familie ins Wanken, das wird vielleicht ausufern, und man hat keine Vorstellung, wohin. Dann beobachtet Dora am Obststand einen Mann dabei, wie er in einen Apfel beißt – und verliebt sich. Dora verfolgt diesen Mann durch die Schächte der U-Bahn, bis in eine öffentliche Toilette, wo sie ihm ihre Verliebtheit zeigt und wo er sie daraufhin sexuell gebraucht – und geht. Eine Liebe beginnt da nicht zwischen den beiden, aber eine Geschichte um Sehnsucht und Nähe und ein paar Momente großen Glücks und am Ende großen Schmerz.
Das zweite große Sujet des Films ist das Drama zwischen Mutter und Tochter, der Prozess der Ablösung, voran getrieben von der beeinträchtigten und damit besonders gefährdeten Dora – ermöglicht aber überhaupt erst von der Mutter, die auf die verrückte Idee gekommen ist, die Medikamente abzusetzen. Der Vater ist durch ständige Arbeit meistens abwesend: ein immer wiederkehrendes Sozialmodell. Die wirkliche Symbiose existiert zwischen Mutter und Tochter, und die expressiven Gefühlsmomente entladen sich nur zwischen den beiden. „Ich will nicht behindert sein!“ ruft Dora, sich steigernd, in einem sehr verzweifelten Moment. Wobei der Satz sprachlich auslegbar ist und auch verstanden kann im neuzeitlichen Verständnis „Ich will nicht behindert werden!“ fest am Arm gehalten von der Mutter, die selber auch nicht weiter weiß. Das ist so eine Szene, aus der es keinen Ausweg gibt. Für beide nicht. Es ist wie es ist. Dora ist nun mal geistig behindert – oder beeinträchtigt und wird sozial immer abhängig bleiben, aber auch die Mutter hat unerfüllbare Wünsche: mit 47 will sie unbedingt noch ein Kind kriegen, ein unbehindertes, ein „gesundes“. Aber die In-Vitro-Fertilisation klappt nicht mehr. Das spitzt sich zu, als Dora schwanger wird. Da kommt die Eifersucht der Älteren auf die Fruchtbarkeit der Jüngeren hinzu, noch verschärft durch die nun mögliche Verantwortlichkeit für noch ein Baby und eine Art Haftungsverlängerung der Sorge ums Kind – nun auch ums Enkel. Da darf Kristin das erste Mal frei drehen. Sie zertrümmert brüllend das Kinderzimmer der Tochter. Die Szene zerrt an den Nerven, schmerzt, berührt nachhaltig. Das findet ihr Mann „hässlich“.
Sich befreien – das müssen beide, Dora und Kristin. Der Film rührt an gleich zwei große Tabus unserer Gesellschaft: Geistig Behinderte dürfen keine Kinder kriegen, und Mütter dürfen nicht versagen. Da ist es nicht von ungefähr, dass diese Geschichte zuerst ein Theaterstück – von dem Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss – war: im Theaterraum mit seinen Papp-Kulissen wird Radikales schon mal eher verkraftet im Filmkunstraum, ist sowieso im Bereich des Artifiziellen, Übertriebenen, eben Theater. Aber Film ist Film. Als Originalstoff wäre der Film nicht durchgekommen. Auch so jedoch musste Stina Werenfels um die Realisierung kämpfen, scheiterte in der Schweiz und fand in Deutschland eine Ko-Produktion. Vor allem ging es um einzelne Szenen, die die Produzenten nicht haben wollten: die gefährliche Situation, in die Dora gerät, als ein Sadist sie missbrauchen will oder die surreale Schlussszene mit Doras Mutter. Das Diktat des filmischen Realismus in den Kulissen des Lebens verpflichtet – und lässt Geldgeber meist auf Nummer Sicher gehen. Erst eine Koproduktion mit deutschen Firmen machte den Film möglich.
Victoria Schulz (Jahrgang 1990) spielt die Dora so glaubhaft, dass man sie googeln muss, um zu erfahren, dass es sich bei ihr um eine nicht behinderte Darstellerin handelt. Sprache und Sprechweise Doras entwickelte sie mit einer Trainerin, für die Sexszenen mit Lars Eidinger erfand sie eine eigene Choreographie. Victoria Schulz ist ein enormes Naturtalent, eine Schauspielausbildung in Babelsberg hat sie abgebrochen und macht gegenwärtig auch noch in einer anderen Kino-Rolle Furore (Von jetzt an kein Zurück). Jenny Schily als Mutter spielt wie sehr oft im TV gesehen die Angespanntheit als Dauerzustand ihrer Figur, die Verkopftheit sitzt hinter ihrer Stirn, Aufgeklärtheit, Vernunft, und wie so oft versucht ihre Figur ihre Ängste wegzulächeln – statt zu weinen. Lars Eidinger als Dritter im Bunde spielt den Liebhaber Doras als eleganten Zyniker, attraktiv, ichbezogen, sexy, und man versteht, warum Dora ihn gewählt hat. Gelangweilt wirkt dieser Mann, scheint aber manchmal selber überrascht, wieviel Leben und sogar Fröhlichkeit Dora noch in ihm zu wecken vermag – bevor er sie verlässt. Nicht eine Sekunde lässt der Film Zweifel daran, dass zwischen den beiden viel Distanz ist und bleiben wird. Desto bewegender sind die kurzen Momente von Nähe. Die ursprünglich modellhaft-theatralischen Entwürfe der Figuren scheinen durch, werden neu spannend im Medium Film.
Die Figur der Dora kommt dabei am besten weg : Die manchmal unerwartete Festigkeit und Ernsthaftigkeit, mit der Dora den Eltern widerspricht, erinnert daran, dass sie trotz allem ein Mensch ist, der nach Selbstständigkeit und Emanzipation drängt, in einer Gesellschaft, die bisher solches für sie eher nicht vorsah. Nicht umsonst wurde mit der Verlegung der Handlungszeit aus den 1970iger Jahren in die Gegenwart der grausige Stück-Schluss, da Dora die Gebärmutter entnommen wird, umgewandelt in ein zwar poetisch überhöhtes und ambivalentes, aber irgendwie glückliches Ende. Dora darf Mutter werden. Ein Trick der Poesie – und ein politisches Wagnis. Wenig überzeugend dagegen ist die parallel erzählte sexuelle Emanzipation der Mutter auf einer Drogenparty. Danach guckt Kristin nicht weniger angestrengt.
Der Film endet pünktlich, ehe die nächsten Probleme auftauchen. Und vielleicht liegt in diesem Rollenwandel das Moderne: Dass die vom Rand ins Zentrum rückt; dass die, die früher die Närrin des Stückes gewesen wäre, heute strahlende Heldin ist. Ein Coming-Of-Age- Drama der besonderen Art. Sinnlich, vehement, radikal.

(Foto auf der Startseite: Wikipedia, Lars Eidinger bei der Eröffnung der Berlinale 2014, CC BY 3.0)