Kultur

Polke am Heinrich-Böll-Platz

Von Jürgen Schneider

Das Museum Ludwig am Heinrich-Böll-Platz zu Köln zeigt noch bis zum 5.Juli eine großangelegte Retrospektive mit 250 Werken des 2010 gestorbenen Künstlers und Wahl-Kölners Sigmar Polke, die von New York über London an den Rhein gelangte. Der Wahl-Ire Böll hat uns stets verschwiegen, dass es in Ballycastle in der irischen Grafschaft Mayo eine exzellente Kombination aus einem Lebensmittel- & Zeitungsladen und einem Pub mit dem Namen »Polke« gibt. Viel lieber war dem rheinischen Katholen die irische katholische Kirche, die schon zu seinen Zeiten die ihm anvertrauten jungen Gläubigen in Schulen und Heimen traktierte, ausbeutete, quälte. Ein Alibi fand sich immer. Unter dem Titel »Alibis« werden im Ludwig Museum erstmals alle von Sigmar Polke genutzten künstlerischen Medien berücksichtigt. Bekanntlich war vor Polke kein Material sicher, selbst die in Irland wegen der verheerende Folgen zeitigenden Kartoffelfäule Mitte des 19. Jahrhunderts gefürchtete Feldfrucht nicht. Die Kartoffel ziert sein »Kartoffelhaus«. In Polkes Kölner Atelier ging es zuweilen zu wie in einem Chemielabor. Er experimentierte mit Silbernitrat, Lacken, Kunstharz, Schellack, unterschiedlichen Pigmentträgern, Eisenglimmer. Thomas Kapielski, Berliner, Schreiber, Künstler und Flötist hat im vergangenen Jahr bei Suhrkamp den Volumenroman »Je dickens, destojewski« erscheinen lassen, der deswegen Volumenroman heißt, weil er 455 Buchseiten lang bis oben prall gefüllt ist. Kollege Frank Witzel nennt sein gerade von Matthes & Seitz veröffentlichtes Opus magnum »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« trotz seiner stattlichen 817 Seiten bescheiden und ohne voluminöse Aufschneide einen »Roman«. Dessen Protagonist schreibt nicht nur alles in ein DIN A4-Heft, was mit der RAF zu tun hat, sondern denkt zudem über seine Messdienertätigkeit in Wiesbaden-Biebrich sowie über die Beichte nach. Kapielskis Hauptprotagonist Ernst L. Wuboldt, genannt Örni, wird uns vor allem als Stammgast im Gasthaus Büttelmann am Rundtisch zu Spandau vor Augen geführt. Wuboldts Losung und Wahrspruch lautet: »Vier Bier nach vier; vier Bier vor vier und vier Bier um vier!« Ein Arzt fragte ihn einmal: »Trinken Sie, Herr Wuboldt? Woraufhin er antwortete: Ja, was haben Sie denn so da, Herr Doktor?« In Kapitel 189 sitzt Örni allerdings zu Hause am Tisch und hat vor sich auf der »Anglerwoche« einige Bogen Papier liegen. Er beäugt den Kunstbetrieb nur selten noch, lässt sich aber gelegentlich hinreißen, eigenen Ideentaumel produktiv werden zu lassen auf Bierblockzetteln. Bevor er seinem Bettschatz Bucker aus der Kochkolumne vorliest: »Man nehme Butter und lasse sie in der Pfanne zerschleichen«, und Bucker die Kartoffeln quetscht und zerschlichene Butter zutut, eilt Ernst innerlich durch die Gänge des universellen Modernen Museums und notiert: »Kippenberger – Maumau!« Bei Sigmar Polke angekommen, kritzelt er hingegen flugs und sicher aufs Blatt: »Polke ¬– prima!« Dieses bündig-präzise Urteil auf Seite 293 ist ihm von keinem höheren Wesen, vielleicht jedoch von seinem Mentor Pohlen befohlen worden.

ALIBIS. Sigmar Polke. Retrospektive. Museum Ludwig, Heinrich-Böll-Platz, 50667 Köln, bis 5. Juli 2015. www.museum-ludwig.de

Foto auf der Startseite: Courtney Collison, Sigmar Polke – Spiderman. CC BY-SA 2.0