Einigkeit über Stalin herrscht in Russland 63 Jahre nach dem Tod des Diktators nicht. Stalin und Stalinismus war und bleibt für die einen ausschließlich positiv besetzt. Für diesen Personenkreis bleibt er ein Klassiker. Für die anderen verkörpert Stalin bzw. der Stalinismus das genaue Gegenteil.
Von Wladislaw Hedeler
(Aus telegraph #133/134)
Foto: CC BY-SA 3.0, RIA Novosti-Archiv, Bildnummer 910753, RIAN-Archiv 910753 Young Pioneer-Einführungsfeier auf dem Moskauer Roten Platz.jpg
Seit 2013 erscheint in Russland eine Ausgabe der Reden und Schriften von J. W. Stalin, deren 40 Bände an die Stelle der seit 1997 auf 18 Bände erweiterten Ausgabe treten sollen. Prof. Rygard Kosolapow, bis 1986 Chefredakteur der Theoriezeitschrift der KPdSU „Kommunist“, seit 2012 Mitglied des ZK der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei-KPdSU steht dem Herausgeberkollektiv vor. Das Interesse an Stalin, unterstreichen Soziologen, nimmt zu. Seit 2006 werden in der Russischen Föderation regelmäßig Befragungen über die Bewertung von Stalin durchgeführt. 2015 überwog erstmals die positive Einschätzung. Bei den über 55-Jährigen und in der Provinz lebenden Bürgern ist sie besonders hoch.
Doch Stalinbiographien, wie die jüngst von Oleg Chlewnjuk verfasste, waren und bleiben in Russland – verglichen mit Publikationen zum Thema „Stalin und …“ die Ausnahme. Nach der Biographie aus der Feder von Dmitri Wolkogonow (Moskau 1989) ist die von Edward Radsinski (Moskau 1997) und zwei Bände von Jurij Jemeljanow „Stalin. Der Weg zur Macht“ und „Stalin. Auf dem Gipfel der Macht“ (beide Moskau 2003) erschienen. 1990 und 1997 lag die Übersetzung der von Robert Tucker geschriebenen Stalinbiographie vor. Stalins Vorgänger Lenin wird weitaus weniger Aufmerksamkeit entgegengebracht. Nach 1994 wurde es zunehmend still um ihn. In Ermangelung von neuen Forschungsarbeiten russischer Historiker erschien 1997 in russischer Übersetzung Louis Fischers „Lenins Leben“ aus dem Jahre 1964. Bis auf Wladlen Loginow (Nomen est omen: Wladlen steht für Wladimir Lenin) gibt es in Russland auch heute noch keinen Biographen, der sich – unter Verwendung der nunmehr zugänglichen Archivalien – mit Lenins Leben und Werk beschäftigt. Zwei der drei Bände umfassenden Biographie liegen heute vor.
Unter Boris Jelzins Präsidentschaft galt Lenin nicht mehr als der „Träumer im Kreml“. Er bewegte bestenfalls als „Schläfer auf dem Roten Platz“, entwürdigt zu einer postsowjetischen Mumie mit Mausoleum, noch die Gemüter. Die Ehrenwache vor dem Mausoleum wurde abgezogen, heute befindet sich der Posten Nr. 1 am Grabmal des unbekannten Soldaten im Alexandergarten.
Oleg Chlewnjuk, der an der Moskauer Universität Geschichte lehrt, hat zwar kein Problem, seine Erkenntnisse über Stalin in Vorlesungen kundzutun, wenn auch seine Sicht manchen älteren Kollegen nicht gefällt. In den Schulbüchern zum Fach Geschichte findet man seine Erkenntnisse nicht. In zwei Heften zur Vorbereitung auf die Geschichtsprüfung in der neunten Klasse kommt der große Terror nicht vor. Die dreißiger Jahre werden allein unter dem Stichwort „Industrialisierung“ abgehandelt. Lawrenti Berija, Jeshows Nachfolger im Amt des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten, wird in diesem Zusammenhang als „fähiger Manager“ gewürdigt. Ein Geschichtsbuch für die elfte Klasse erwähnt den Massenterror mit keinem Wort. Das ist eine Nebenwirkung der Kontrolle der Lehrbücher durch die im Mai 2009 eingesetzte „Kommission zum Widerstand gegen Versuche der Falsifizierung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands“. Ein einziges Geschichtsbuch widmet dem Terror knapp drei Seiten – aber dort geht es nur um die „Säuberungen“ in der KPdSU, d.h. um Stalins Vernichtungsfeldzug gegen die Eliten.
Die geopolitische Komponente
In der von Nikolai Starikow herausgegebenen Reihe „Leseempfehlung“ sind u.a. Nachdrucke der Protokolle der Moskauer Schauprozesse 1937 und 1938 erschienen. In den Vorworten ist unter Hinweis auf die aktuelle Entwicklung in der Ukraine von der Berechtigung der Prozesse und des Kampfes gegen die sogenannte 5. Kolonne die Rede. Hier geht es in erster Linie um Geo- und Großmachtpolitik.
Georgi Dimitroff, Generalsekretär der Komintern, hat Stalins Toast auf dem Empfang zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution in seinem Tagebuch notiert: „Die russischen Zaren haben viel Schlechtes getan. Sie haben das Volk ausgeraubt und geknechtet. Sie führten Kriege und eroberten Territorien im Interesse der Gutsherren. Aber eine große Sache haben sie vorzuweisen: sie haben ein Riesenreich zusammengezimmert – bis nach Kamtschatka. Wir haben diesen Staat als Erbe erhalten. Und wir Bolschewiki haben diesen Staat erstmals gefestigt, zu einem einheitlichen, unteilbaren Staat, nicht im Interesse der Gutsherren und Kapitalisten, sondern zum Nutzen der Werktätigen, aller Völker, die diesen Staat bilden. Wir haben den Staat so geeint, dass jeder Teil, der von diesem allgemeinen sozialistischen Staat losgerissen würde, nicht nur letzterem schaden würde, sondern allein auf sich gestellt auch nicht existieren könnte und unvermeidlich unter ein fremdes Joch geraten würde. Deshalb ist jeder, der versucht, diese Einheit des sozialistischen Staates zu zerstören, der danach strebt, einzelne Teile und Nationalitäten von ihm abzutrennen, ein Feind, ein geschworener Feind des Staates, der Völker der UdSSR. Und wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten. Jeden, der mit seinen Taten und in Gedanken einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates unternimmt, werden wir erbarmungslos vernichten. Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe – bis zum Ende!“
Eine Woche nach Kriegsbeginn, am 29. Juni kam Stalin auf dieses Thema zurück: „Lenin hat uns ein großartiges Vermächtnis hinterlassen. Und wir, seine Erben, haben es verschissen.“ Es dauerte vier Jahre, bis die Rote Fahne auf dem Reichstagsgebäude gehisst werden konnte. Der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ wird heute als der zentrale Feiertag in Russland begangen. Seit vier Jahren folgt landesweit auf die Militärparade eine Großdemonstration unter dem Namen „Unsterbliches Regiment“. Die junge Generation gedenkt ihrer Großeltern, die den Sieg erarbeiteten und erkämpften und feiert bei dieser Gelegenheit die Einverleibung der Krim und die Besetzung von Neurussland gleich mit.
Heute geht es um Siege, nicht um Niederlagen. Lenins Putsch im Oktober wird als Anfang vom Ende der einstigen Weltmacht angesehen. So wurde der 7. November im Jahre 2005 als Feiertag abgeschafft, oder um genauer zu sein, durch den Tag der Einheit des Volkes, der am 4. November begangen wird, ersetzt. Am 4. November 1612 wurden die polnischen Besatzer aus Moskau vertrieben.
Am Vorabend des 100. Jahrestages der Russischen Revolution war unklar, welche Vorgaben die Putinadministration mit Blick auf das Jubiläum verkünden würde. Immer wieder hatte es Anzeichen für eine Neuausrichtung der „Geschichtspolitik“ gegeben. Ob ein Bezug auf die Februarrevolution als
Anknüpfungspunkt für die Wiederaufnahme einer russischen demokratischen Tradition hergestellt werden würde, blieb offen. „Nicht Liberalismus, Demokratie und Zivilgesellschaft und schon gar nicht das Aufbegehren gegen die Obrigkeit sind angesagt, sondern das Ideal des mächtigen russischen Staates, der an die einstige Größe des russischen wie des sowjetischen Imperiums anknüpft“, hatte der Osteuropahistoriker Dietmar Neutatz 2017 geschrieben. Die Neuausrichtung im Umgang mit der „vaterländischen Geschichte“, den er beschreibt, spiegelt sich sichtbar u. a. im öffentlichen Raum, in Moskau wie in anderen Städten der Russischen Föderation. Auf die Umbenennung der Straßen im Zentrum, sie tragen wieder ihre historischen ‚vorrevolutionären‘ Namen, folgte die Umbenennung der nach Revolutionären benannten Metrostationen sowie die Umgestaltung des den Kreml umgebenden Terrains sowie zentraler Plätze der Hauptstadt und die Wiedererrichtung alter Denkmäler.
1918 hatten die Bolschewiki die zur Erinnerung an den 300. Jahrestag des Beginns der Herrschaft des Hauses Romanow im Jahre 1913 am 10. Juli 1914 errichtete Stele aus dem Alexandergarten entfernt und im Auftrag der neuen Machthaber umgestaltet. Von nun an trug sie die Namen von Revolutionären. Am 2. Juli 2013, der 400. Jahrestag der Dynastie stand ins Haus, wurde die Stele zwecks Instandsetzung abgetragen und durch eine Nachbildung der Romanowschen ersetzt.
Im Dezember 2016 hatte das Warten ein Ende, denn der Präsident plädierte in einer Rede vor dem Föderationsrat für einen respektvollen Umgang mit der vaterländischen Geschichte und rief zu Versöhnung und nationaler Eintracht auf. Lenin, führte Putin u. a. aus, hat eine Atombombe unter ein Gebäude namens Russland gelegt. Später ist sie explodiert. Die Revolution war überflüssig. Nicht Revolution und Bürgerkrieg, sondern Stabilität, Sicherheit und Entwicklung sind die neuen Wegmarken.
Der Terror gegen das Volk
Heute ist die Dimension des Terrors gegen das Volk bekannt und in Erschießungslisten dokumentiert. Doch die Forschung hierzu kommt nicht voran. Die aufeinander folgenden und sich zum Teil überlappenden Verhaftungswellen und Deportationen erfassten Exilanten und Staatsbürger aller in den grenznahen Republiken und Gebieten der UdSSR ansässigen Nationalitäten. Zu den ersten Opfern im August 1937 gehörten die Polen und die Koreaner. Anfang September wurde ihre Umsiedlung beschlossen, danach erfolgte die Verhaftung der ehemaligen Mitarbeiter und Angestellten der ostchinesischen Eisenbahn, Ende November 1937, waren die Letten an der Reihe, Anfang Januar 1938 die Iraner.
Ende Januar 1938 gestattete das Politbüro dem NKWD die Weiterführung der Repressalien gegen Bürger nichtrussischer Nationalität. Im Befehl war von Polen, Letten, Deutschen, Esten, Finnen, Griechen, Harbinern, Chinesen, Rumänen, Bulgaren und Mazedoniern die Rede. Die jeweiligen nationalen Operationen wurden bis zum 15. April 1938 verlängert.
Über diesen von der Parteiführung geplanten und vom NKWD durchgeführten Ausrottungsfeldzug in der Zeit des Großen Terrors in der Sowjetunion sind in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen erschienen, die das Vorgehen gegen die einzelnen Bevölkerungsgruppen beschreiben und dokumentieren. Die Nationalen wurden nach einem mit dem Politbüro abgestimmten Plansoll zum Tode oder zu Zwangsarbeit in den Lagern verurteilt.
Von 2004 bis 2005 erschien eine 7-Bände umfassende Edition zur Geschichte des Stalinschen Gulag, ein Band behandelt und dokumentiert die Massendeportationen. 2014 ist in Sankt Petersburg Band 13 des Leningrader Martyrologs erschienen, es ist ein Namenverzeichnis der 40.906 in Leningrad 1937 und 1938 erschossenen Frauen und Männer. Eine von „Memorial“ verbreitete CD enthält biografische Angaben von über 3 Millionen Repressierten. Dimensionen und Topographie des Terrors spiegeln die für Moskau und das Moskauer Gebiet erarbeiteten und zwischen 1993 und 2005 veröffentlichten Erschießungslisten für die Sonderobjekte des NKWD Butowo und Butowo-„Kommunarka“ sowie für die Friedhöfe Donskoe und Wagankowskoe wider. Auf den vier Moskauer Friedhöfen erinnern Denkmale an über 25.000 in den Terrorjahren erschossene Bürger.
Ähnlich den Stolpersteinen in der BRD gibt es in Russland eine Initiative, Gedenktafeln für die „Letzte Adresse“ an den Wohnhäusern von Opfern des Terrors anzubringen. Da bis heute kaum Grabanlagen bekannt sind, bleibt nur dieser Weg der Erinnerung.
Heute sind im Unterschied zum Beginn der Perestroika Namen und genaue Angaben zu Verhaftung, Verurteilung und Exekution von rehabilitierten Opfern bekannt. Doch es gibt keine exakten Angaben über die Zahl der zu Besserungsarbeit Verurteilten. Es gibt keine Täterforschung in Russland (auch keinen russischen Begriff dafür, von Henkern ist die Rede), obwohl im Gesetz über die Rehabilitierung, das in der Amtszeit von Boris Jelzin 1991 verabschiedet wurde, gefordert wird, auch die Namen der Täter, der Verantwortlichen, zu benennen.
Synonym für die Terrorjahre ist nach wie vor Jeshow. Berija, sein Nachfolger, steht für die Beendigung des Terrors. Stalin bleibt als Auftraggeber im Schatten. Es ist kein Zufall, daß die vor Jahren im Zusammenhang mit der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Woprossy istorii“ angekündigte kommentierte Publikation der Stenogramme der Plenartagungen vom Dezember 1936 und Februar-März 1937 bis heute aussteht.
Folgenlos blieb die Publikation der Namenlisten der im Sonderverfahren zum Tode verurteilten Funktionäre. Von Februar 1937 bis Oktober 1938 haben Stalin und seine Gefolgsleute 383 solcher Listen bestätigt. In diesen Listen sind die Namen von 44.500 Personen erfasst, von denen annähernd 39.000 zum Tode durch Erschießen verurteilt werden sollten. Die Anzahl der Listen die von Führungsmitgliedern unterschrieben worden sind, ist bekannt. Molotow hat 373 solcher Listen unterschrieben, Stalin 362, Woroschilow 195, Kaganowitsch 191, Shdanow 177, Jeshow 8, Mikojan 8 und Kossior 5.
Die unterschriebenen und mit dem Urteil versehenen Listen wurden dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR übergeben. Dies war ein formaler Akt, denn das Urteil stand ja bereits fest. In diesen Fällen nahm Stalin den Urteilsspruch des Obersten Gerichts vorweg und fällte die Todesstrafe. Stalins Entscheidung, unter Umgehung des Gerichtsverfahrens, sogar eines formellen, Todesurteile zu fällen, ist gemäß dem damals und dem heute gültigen Strafgesetzbuch Mord.
Selbst Stalinisten leugnen heute den Terror nicht mehr. Zu seiner Rechtfertigung berufen sie sich auf die von Historikern formulierten Erklärungsmuster des Massenterrors 1937 als einer Unterdrückungsaktion gegen den von Parteifunktionären der lokalen Leitungsebene geplanten Umsturz. Die Initiative der zunehmenden Repressalien wird nicht auf Stalins Drängen sondern auf die an Stärke und Einfluss gewonnen Parteifunktionäre in den Regionen des Landes zurückgeführt. Vergleichbare Phantasien haben die Rechtfertigung Stalins zum Ziel, sie laufen auf den Versuch hinaus, Stalins Aktivitäten als erzwungene und Antwortreaktionen darzustellen. Dabei liegt es auf der Hand, dass von keinem von der Parteielite geplanten Umsturz die Rede sein konnte. Denn die Macht und die Autorität von Stalin waren damals so groß, dass er nicht befürchten musste, dass Politbüromitglieder gegen seinen Willen agieren. Er hatte sie alle unter Kontrolle.
Das Ende der Archivrevolution
Auf dem Hintergrund des 2009 eingeläuteten Endes der Archivrevolution war es der russische Historiker Alexander Vatlin, der auf die für Forscher immer größer werdenden bürokratischen Hürden hinwies: In diesen Jahren der Archivöffnung brachte das GARF (Staatliches Archiv der Russ. Föderation) eine Serie von Findmitteln zu den sog. Sondermappen der Politbüromitglieder heraus, Chruschtschow, Molotow, Stalin, Berija, NKWD. Die Annotationen sind hilfreich, aber die meisten Akten nach wie vor nicht zugänglich.
Das FSB-Archiv gibt die von 1922 bis 1934 Stalin vorgelegten Informationsberichte über die Stimmung im Land heraus, dass Russische Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI) setzt die im Jahre 1995 aufgenommene Edition der Briefe an die Partei- und Staatsführung fort. 2015 erschien ein Band, der eine Auswahl der an Stalin 1952-53 adressierten Briefe enthält. In Petersburg erschien 2006 der 1. Band der Dokumentenedition „Stalin und die Geschichtsideologie in den 1920-1950er Jahren“ in einer Auflage von 500 Exemplaren. 2008 folgte ein Sonderheft des „Boten des Archivs des Präsidenten“ mit Dokumenten zur Entstehung der Lehrbücher „Geschichte der UdSSR“. Die Entstehungsgeschichte des „Kurzen Lehrgangs“ liegt in einer archivgestützten Dokumentation vor, das Journal der von Stalin in seinem Kabinett empfangenen Personen, die Stenogramme der Sitzungen des Politbüro liegen in einer 3-Bände umfassenden Edition vor, eine Dokumentation der auf den Empfängen im Kreml von 1935 bis 1949 gehaltenen Reden. Diese Bände liefern unkommentiertes faktologisches Material. Die Bewertung und Auslegung des Materials wird dem Leser überlassen.
Zweifellos treten nun Details deutlicher hervor, aber Fragen nach Anfang und Ende, Aufgabenstellung und Fazit, Verantwortung für die Nationalen Operations- und Terrorwellen bleiben nach wie vor im Dunklen. Die Zuordnung und Beantwortung dieser Fragen geschieht in Abhängigkeit vom Auftraggeber. Alles hängt davon ab, ob die Herausgeber aus staatlichen oder FSB-Archiven stammen. Die Trennlinie ist sehr klar.
Politische Polizei und Parteiführung – wer trägt die Verantwortung?
Das FSB stellt aus dem eigenen Archiv Dokumente über Dsershinskij, die GPU in den Jahren der NÖP, den Kampf gegen die bürgerliche Professur bereit. Die Betonung liegt hier auf der Umsetzung der im Politbüro formulierten Vorgaben.
Immer dann, wenn es um die Deutungshoheit geht, werden die Differenzen sichtbar. So beteiligen sich Autoren, die an der Hochschule des FSB lehren, an Ausarbeitungen wie „Das Recht auf Repression“ während sie bei der Beteiligung an der 7 Bände umfassenden Geschichte des Stalinschen Gulag eher Zurückhaltung an den Tag legten. Da die Quellenbasis in staatlichen Archiven für die frühen Jahre der Sowjetmacht dürftig ist, setzt die bereits erwähnte Gulagedition in den 1930er ein. Das Ergebnis ist ein Zerrbild.
Mit Blick auf die Debatten um den Übergang von Lenin zu Stalin tragen diese Editionen wenig zur Klärung bei. Fast zeitgleich sind drei Jeshow-Biografien erschienen. Doch in keiner wurden die im RGASPI überlieferten Dokumente ausgewertet. Nach zwei Beria-Biografien, denen Material aus den Parteiarchiven zugrunde lag, meldet sich der dem FSB nahestehende Historiker Mozochin mit der Edition „Das Politbüro und der Fall Berija“ zu Wort. Er gibt die Lesart der aus dem Archiv des Präsidenten der Russ. Föderation an das RGASPI übergebenen Dokumente vor. Soweit zur Illustration der von Vatlin formulierten These über „das Warten auf die ‚kaiserlich genehmigten’ Quellensammlungen“. In Abhängigkeit von der Herausgeberschaft wird entweder die Parteiführung oder die politische Polizei für die „Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit“ verantwortlich gemacht. Da sich die Herausgeber selten die Mühe machen, Namen, Funktionen und Lebensdaten der in den jeweiligen Dokumentenbänden erwähnten Kader und Funktionsträger zu recherchieren, bleibt z. B. deren Pendeln zwischen Parteiapparat und Geheimdienst im Dunkeln, was dazu beiträgt, die KPdSU(B) losgelöst und isoliert vom NKWD/KGB zu betrachten.
Einigkeit über Stalin herrscht in Russland 63 Jahre nach dem Tod des Diktators nicht. Stalin und Stalinismus war und bleibt für die einen ausschließlich positiv besetzt. Für diesen Personenkreis bleibt er ein Klassiker. Für die anderen verkörpert Stalin bzw. der Stalinismus das genaue Gegenteil. Diese Polarisierung erinnert an die Entstehung des Stalinismusbegriffs in der Arbeiterbewegung. Erst im Zuge des von Stalin geführten Kampfes gegen den Trotzkismus wurde der Begriff „Stalinismus“ innerhalb der kommunistischen Bewegung derart diskreditiert, dass er fast ausschließlich als Begriff zur Verunglimpfung des Sozialismus galt.
Stalins Führungsstil bleibt im Dunkeln
Doch gerade diese Interpretation wird zum Problem. Stalins Führungsstil beruhte auf Einzelleitung statt kollektiver Führung. Seine Bemerkungen über die Schräubchen oder die Hierarchien in der zum Schwertträgerorden erklärten Kommunistischen Partei sind bekannt. Sie passen heute nicht ins Bild. Das Interesse an der Aufdeckung seines Führungsstils geht gegen Null. 2010 lagen die zuvor in der Zeitschrift „Istoritscheskij archiw“ publizierten Journale der Besucher in Stalins Kabinett als Buch vor. Doch der Herausgeber Anatolij Tschernobajew geht in der Vorbemerkung „Ein wertvolles Handbuch zur Geschichte der Sowjetunion“ mit keinem Wort darauf ein. Sich mit Stalin zu beschäftigen, betont hingegen Chlewnjuk, bedeutet gegen die Mythologisierung seiner Person anzukämpfen, sich mit der Art und Weise der Führung im Staat auseinanderzusetzen. Der Stalinismus als System darf nicht aus dem Blick geraten. Das ist die Botschaft der russischen Historiker, die sich heute ernsthaft mit Leben und Werk von Stalin beschäftigen.
Wladislaw Hedeler ist Historiker, Übersetzer und Publizist. Er arbeitet vor allem zur Geschichte der Sowjetunion und gilt als einer der international namhaften Kommunismusforscher.