Kultur

Neu erzählt

„Die rote Kapelle – Das verdrängte Widerstandsnetz“; Dt. 2021, Buch und Regie: Carl-Ludwig Rettinger

Von Angelika Nguyen

Zu seinen frühesten Erinnerungen zähle, dass er an der Rockschürze seiner Großmutter hing und dass fremde Menschen in die Gartenkolonie zu ihrem Häuschen kamen und ihn so traurig angesehen hätten und dass er nicht wusste, warum. Das erzählte Hans Coppi junior, der Sohn des ermordeten Paares Hans und Hilde Coppi aus einer deutschen Widerstandsgruppe, genannt die „Rote Kapelle“, auf der Bühne zur Premiere dieses neuen Dokumentarfilms. Hans Coppi, geboren 1942, zweieinhalb Monate nach der Verhaftung seiner Eltern, im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße. Bei der Hinrichtung seiner Mutter war er noch keine neun Monate alt, übergeben im Kissen am Gefängnistor an seine Großmutter. Zunächst wohnhaft im Westen Berlins, dann noch als kleines Kind umgezogen nach Ostberlin, berühmt geworden in der DDR als Kind von Helden des antifaschistischen Widerstandskampfes. Es gibt Coppi-Schulen, Coppi-Straßen, Coppi-Gedenktafeln. Man ahnt: das war nicht immer leicht für ihn. Wenn auch andere Angehörige und Freunde ermordeter Kämpferinnen und Kämpfer des Netzes im Film zur Sprache kommen, so ist Hans Coppi doch der zentrale Protagonist. Mit ihm beginnt und endet der Film.

Hans Coppi spielt bei der Erkundung der historischen Faktenlage über die „Rote Kapelle“ eine Doppelrolle. Einerseits als betroffener Zeitzeuge, andererseits als Geschichtswissenschaftler. An der Erforschung der „Roten Kapelle“, deren einstige Gestapo-Bezeichnung inzwischen der gültige geschichtliche Name geworden ist, hat er großen Anteil, reiste nach dem Mauerfall als Mitarbeiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand nach Moskau, erfuhr dort in den Archiven, dass kein einziger Funkspruch seines Vaters je dort angekommen ist.

Der Film präsentiert nicht unbedingt Neues zum Thema, aber doch eine neue Form der Erzählung – über ein historisches Phänomen, das als loses westeuropäisches Widerstandsnetz gegen das deutsche Naziregime begann und seit Kriegsende als Deutungsfeld im Kalten Krieg sowohl dem Westblock (kurz: Sowjet-Spione) als auch dem Ostblock (kurz: Widerstands-Helden) diente und nach dem Mauerfall, so sollte man meinen, endlich vorurteilsfrei erforscht werden konnte.

Die Idee kam zustande, erzählt Regisseur Carl-Ludwig Rettinger, als er entdeckte, dass die beiden deutschen Spielfilme, die es über die Rote Kapelle gibt, einer im Westen als TV-Serie (Titel „Die rote Kapelle“) gedreht, der andere im Osten als Kinofilm (Titel „KLK an PTX – Die Rote Kapelle“), etwa zur selben Zeit erschienen waren: 1971/1972 und, einander gegenübergestellt, eine Widerspiegelung des Kalten Krieges enthielten. Im Westen galt die Rote Kapelle als Spionagenetz für die Sowjetunion, im Osten als Widerstand gegen die deutsche Faschismus-Diktatur.

In kühn montierter Kontinuität erzählt der Film die parallelen Geschichten des Widerstandsnetzes: Mittels vieler Ausschnitte aus beiden Spielfilmen, die die gesamte Dokumentation durchziehen und mittels Interviews mit Angehörigen und Freunden der Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer.

Die soziale Vielfalt des Widerstandsnetzes, die Breite in Herkunft, Alter und Berufsstand seiner Akteure werden noch anschaulicher. Im West-TV-Film kommen vor allem historische Figuren der Widerstandsgruppe in Belgien vor, die im Ost-Spielfilm unerwähnt bleiben und überhaupt in der DDR eher unbekannt waren und aus völlig anderen Biografien und Milieus kamen als die Deutschen. Zentral waren dort jüdische Kommunisten mit bewegtem Vorleben: Leopold Trepper, Organisator der Gruppe und die Chiffrier-Spezialistin Zofia Poznańska („Zosia“), die beide ihrerseits schon in Palästina vom britischen Geheimdienst verfolgt worden und zur Flucht nach Europa gezwungen waren sowie Leon Großvogel, der, als Geschäftsmann getarnt, einer der Funker in Brüssel wurde. Vierter im Bunde war der russische Jude Anatoli Gurewitsch, der nach Europa entsendet wurde und auch Schulze-Boysen aufsuchen sollte. Namen und Adressen der Deutschen waren in einem der Funksprüche genannt worden, was schließlich zu den Verhaftungen und Hinrichtungen in Berlin führte, die auch Hans Coppis Eltern das Leben kosteten. Einige der führenden Leute in Belgien dagegen überlebten durch Flucht oder Kollaboration. Zofia Poznańska, die den Code kannte, wurde schwer gefoltert und floh in einem unbeobachteten Moment in den Freitod, ohne den Code verraten zu haben. „Man soll sich an sie erinnern.“ sagt eine Weggefährtin von ihr, die im Film Zosias Folterqualen detailliert beschreibt. Tatsächlich ist der Name dieser tapferen Frau kaum bekannt, und es ist ein Verdienst des Films, dass er ihn weiterträgt. Die TV-Serie zeigt die Aufdeckung der Gruppe als eine Art gerechtfertigter Festnahme von Sowjet-Agenten, denen nun das Handwerk gelegt wird, es ist letztlich die Sicht der Gestapo – und der Westmächte im Kalten Krieg.

Die Dokumentation von Rettinger zeigt die Spiel-Szenen pur, ohne Off-Kommentar. So wird die Geschichte des Widerstandsnetzes zeitweise als aufregender Politthriller erlebt, dann wieder unterbrochen, „verfremdet“ mit Gesprächen und historischen Analysen. Der Regisseur sagt, dass die Spielfilme jeweils immer nur die Hälfte der wahren Geschichte der „Roten Kapelle“ erzählen. Ihm gelingt es, gewissermaßen, die beiden „Hälften“ zusammen zu führen. Einzig seine Darstellung von Stalin und Hitler als zwei Paktierer, die einander ebenbürtig gewesen seien und sich als Diktatoren nicht viel nahmen, hat noch einen Hauch von Kaltem Krieg. Und dass der Film die westliche Sicht doch zumindest sprachlich verinnerlicht hat, zeigt seine Schreibweise: Im Osten wurde das Adjektiv stets großgeschrieben, hieß es immer „die Rote Kapelle“, während man im Westen das Adjektiv klein hielt. Das ist mehr als Orthografie, das ist eine politische Position.

Rettinger behauptet glücklicherweise nicht, jetzt endlich die „Wahrheit“ über die Rote Kapelle zu bringen, sondern betont im Gespräch die Subjektivität auch seiner Erzählung.

Der Raum, den der Dokumentarfilm den beiden fiktiven Spiel-Darstellungen der „Roten Kapelle“ aus Ost und West gibt, wirft auch ein Bühnenlicht auf die Bedeutung von Schauspielarbeit im Begreifen von Zeitgeschichte. Es ist ein Unterschied, ob man im Interview historische Einzelheiten nennt oder ob sie in Szene gesetzt werden – wir als Zuschauende werden damit Teil der Handlung. Es ist ein Unterschied, ob Leopold Trepper in der TV-Serie im historischen Personenzug nach Brüssel sitzt und sich andauernd nach Verfolgern umsieht oder ob seine Großnichte Lital Levin im Gespräch von ihm erzählt. Unvergesslich auch die Schlussszene im DDR-Film, in der der fiktive Arvid Harnack den Arm um seine Frau Mildred legt und dies von der Gestapobeamtin augenblicklich unterbunden wird. Das Ende jeder Freiheit und besser als Folterszenen, die Rettinger übrigens in beiden Spielstücken vermisste. Die emotionale Spielfilmebene nützt nicht nur der Gesamtwirkung dieses Dokumentarfilms, sondern der Regisseur ehrt damit auch die Fiktion, das Spiel; die physische Arbeit der Mimen, die die historischen Figuren wieder lebendig werden lässt. So war es nur logisch, dass auch der sich längst im Theater- und Film-Olymp befindliche Schauspieler und Regisseur Manfred Karge, der in „KLK an PTX“ den Hans Coppi spielt, bei der Premiere auf dem Podium saß. Ein Vertreter seiner Zunft, die für diese Dokumentation so wichtig ist.

Der Film berichtet von der undifferenzierten Heldenverehrung im Osten ebenso wie von der westdeutschen Nazi-Kontinuität an den Schaltstellen der Macht. Nicht nur, dass die Täter nach dem Krieg meistens straffrei blieben. Sondern auch, dass zum Beispiel der Richter Manfred Roeder, ein Hauptankläger der Widerstandskämpfer und mitverantwortlich für die Todesurteile, den Widerstand der „Roten Kapelle“ lange nach Kriegsende als „Landesverrat“ öffentlich in Interviews und Publikationen verkaufen konnte, das streicht der Film klar heraus.

Das größte Pfund des Films jedoch ist seine Nähe zu Hans Coppi junior. Zu jenem Mann, für den Hilde und Hans Coppi keine Helden waren, sondern einfach nur seine Eltern, die er sein Leben lang vermisst. Gegen Ende liest Hans Coppi von einem vergilbten Zettel vor – Zeilen seiner Mutter an ihr Kind. Hochemotional für den Protagonisten. Der aber, seit der Kindheit daran gewohnt, von öffentlichem Interesse zu sein, kann Beherrschung, das vielleicht am besten. Und der Regisseur will ihm auch gar nicht zu nahetreten, fängt vielmehr den Moment filmisch ein, lässt den Regen auf die Neubausiedlung, in der sein Protagonist wohnt, akustisch aufdrehen, macht ihn zum Soundtrack. Auch so kann Trauer sein.

Am Premierenabend wies Hans Coppi außer auf die Nazis von heute noch mal extra auf die 20 ermordeten Frauen des Widerstandsnetzes hin. Sie kämen immer zu kurz in den Darstellungen. Es sei ein Film über Hilde Coppi geplant. Das wäre was!

 

 

Foto: DIE ROTE KAPELLE _privat_2
Foto von Margarete Barcza und Anatoli Gurewitsch
© Sacha Barcza Dits