Allgemein, Osten, Politik

Verbindlichkeit, Effizienz und Kontinuität durch Organisierung?

Mitglieder der Berliner AABO-Gruppe F.e.l.S. über ihre Arbeit und Positionen

Ein Interview aus der jüngeren antifaschistischen Geschichte und zur Organisierungsdebatte der 1990er Jahre in Deutschland.

(Aus telegraph #2/1994)

telegraph: Franz und Karl, Ihr seid Mitglieder von F.e.l.S. – einer Gruppe, die „für eine linke Strömung“ angetreten ist. Hauptsächlich kamen die Mitarbeiter von F.e.l.S. aus der autonomen Bewegung und sie waren zugleich Kritiker dieser Bewe­gung?

Karl: Ich selbst bin Ostdeutscher und habe keine autonome Vergangenheit. Insofern bin ich da nicht repräsentativ.

Franz: Ich bin zwar Westdeutscher, habe aber früher auch nicht zur autonomen Bewegung gehört. Ich bin aus anderer Richtung zu F.e.l.S. gekommenen.

Karl: Aber die Herkunft aus der autonomen Bewegung ist für viele Leute aus der Gruppe ein entscheidendes Motiv gewesen. Die Kritik an den Autonomen, die sich aus dieser Heinz-Schenk-Debatte entwickelt hat, war F.e.l.S.-bildend. Aber über die Hintergründe kann ich nicht so furchtbar viel sagen.

telegraph: Dann machen wir es umgekehrt und fragen bei euch einige der Hauptkritik­punkte ab. Vor allem ging es bei der Heinz-Schenk-Debatte um die „Kampagnen­politik“. Es gibt, so eure Papiere, bei den Autonomen keine Theorie, es gibt nicht einmal den Versuch einer strategischen Diskussion über einen jeweiligen Punkt hinaus. Es gibt nur eine sogenannte „revolutionäre Praxis“, die insofern vom Gegner bestimmt wird, als sie ihn an jeweils einem seiner Angriffslinien zu bekämpfen . und zurückzudrängen sucht, statt selbst über eine kontinuierliche Strategie zu verfügen und daraus eine Taktik abzuleiten.

Franz: Es ist so, wie du sagst. Bei solchen Kampagnen wird ein spezielles Thema oder Ereignis als ganz wichtig eingestuft und dazu gearbeitet. Aber es gibt keine Perspektive und Kontinuität in der Arbeit. Es gibt zwar ein starkes Bedürfnis nach theoretischer Diskussion, aber das kann nicht in den bestehenden unverbindlichen autonomen Zusammenhängen geleistet werden. Nach jeder Kampagne bricht alles wieder auseinander und die Leute finden sich erst mühsam neu zusammen. Um eine theoretische Auseinandersetzung führen zu können, muss man unserer Ansicht nach einigermaßen strukturierte und kontinuier­liche Gruppen haben. telegraph: Kritisiert wurde interessanter­weise auch die Hierarchie der autonomen Szene. Es stimmt nicht, schreibt eurer eifrigster Autor, ein gewisser „Zettelknecht“, daß es in der autonomen Szene keine Hierarchie gibt. Sie ist nur intern und deshalb nicht kritisierbar.

Franz: Hierarchie stellt sich schon her, sobald es Leute gibt, die mehr arbeiten. Was sie sagen ist wichtiger. Sie können Druck ausüben, weil, wenn sie nichts mehr leisten, nichts mehr läuft. Hierarchien sind aber nicht nur formal, sondern können auf Sympathie beruhen oder irgendwelchen subtilen Formen von Ausgrenzung. Leute, die machen, reißen nicht die Entscheidungen an sich, aber es schleift sich dann so ein. Um dagegen vorzugehen bedarf es einer Auseinandersetzung mit dieser Form der Hierarchie und irgendwelcher Abmachun­gen, die dann auch einforderbar sind.

Karl: Man muss sich von einem einge­schränkten Hierarchiebegriff lösen, der sich vor allem an einer Parteihierarchie festmacht. Wissenshierarchien sind nicht weniger problematisch und nicht weniger ausgrenzend. Und die sind in der autonomen Szene stark vertreten. Nur sind sie nicht so leicht greifbar, weil sie nicht klar an Posten festzumachen sind.

Franz: Das, was wir als Organisation bezeichnen, ist dagegen kein Allheilmittel. Es ist ein Prozeß, der immer wieder neu vorangetrieben werden muss. Die allermei­sten Organisationen messen sich natürlich an Effizienz und haben sich nicht zum Ziel gemacht, gegen Hierarchien vorzugehen. Sie haben Hierarchie bewußt in Kauf genommen, um effizienter handeln zu können. Wir gehen da anders vor.

telegraph:
Welche Alterative habt ihr dazu in einer Organisation zu bieten?

Karl:
In unserer Gruppe wird das, was beschlossen wurde, allen vermittelt. Wenn wir einen Text veröffentlichen, haben den alle gelesen und wir schaffen Strukturen in Form von Arbeitsgruppen, damit der Text kritisiert werden kann. Gegenüber dem üblichen Verfahren, wo bei einer Vollver­sammlung mal etwas vorgestellt wird, die Leute eine viertel Stunde Zeit zum Kritisieren haben, und dann der Text beschlossen wird, ist das ein Fortschritt. Es gibt bei uns nicht, wie bei den Autonomen, Gruppen, in denen vorher intern Vorabspra­chen getroffen werden. Bei uns werden möglichst viele Informationen, über das, was Leute machen, in die Gruppe zurückgetragen und sind kritisierbar. Bei Aktionen, die nach draußen gehen, soll möglichst Rotation stattfinden, um zu gewährleisten, dass mehr Leute an Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Es ist auch innerhalb der AA-BO (Red: Antifaschistische Aktion – Bundes­weite Organisation) so, dass wir durch ein Delegiertenprinzip versuchen, viele Leute an dem Organisierungsprozess teilhaben zu lassen, statt irgendwelche Profis entstehen zu lassen. Auf der andere Weise sind durch dieses rotierende Prinzip die Leute, die dorthin fahren, gezwungen, sich in der Gruppe auszutauschen. Sonst blockiert sich das selbst.

telegraph: Das Problem ist dabei nur, daß das immer komplizierter wird, je größer die Gruppe ist und die Überschaubarkeit abnimmt. Und was machst du, wenn kurzfristige, spontane Entscheidungen nötig und komplizierte Absprachen nicht mehr möglich sind? Dann kannst Du doch noch nicht erst mal alle abfragen. Während des Bürgerkrieges in Russland wurden die Soldatenräte mit dem Argument abge­schafft, dass es vor dem Feind nicht die Zeit hatte, herum zu diskutieren.

Karl: Diese Probleme sind nicht unlösbar. Wenn die Gruppe größer wird, müssen wir andere Möglichkeiten überlegen. Wenn es wider Erwarten so kommt, dass in nächster Zeit große Massen zu uns stoßen, können wir den Arbeitsgruppen größere Entschei­dungsbefugnisse einräumen. Das müsste dann wieder in den großen Rahmen zurücklaufen, aber dann eventuell über Delegierte. Diese demokratische Struktur muss erhalten bleiben und das ist auch bei einer größeren Gruppe nicht unmöglich.

telegraph: Wenn ich das richtig verstanden habe, ist F.e.l.S. eine Gruppe, die für eine Organisation der Linken eintritt. Erklärt sich so die relative Diffusität der Inhalte, die ihr verkündet? Von einem eurer Streiter, diesem „Zettelknecht“, kommt sehr vieles, von den anderen weniger. Er sagt, wem ihr euch auf ein bestimmtes Konzept einigen würdet, hieße das, dass ihr einer dieser K-Gruppen gleicht, die im Hinterzimmer ein Revolutionskonzept macht und dann dürfen sich alle der einzigen und wahren Sache oder der wahren und einzigen Sache anschließen. Auf der anderen Seite scheint es (wenigstens bei Zettelknecht) einige Vorstellungen zu geben, was nicht sein soll. Im Positiven habe ich wenig inhaltliche Vorstellungen gefunden. Ab und zu kommt dann etwas von angeblichen „Gemeinsam­keiten aller Linken“ und da bekomme ich schon wieder Bauchschmerzen.

Franz: Es sollen Einzelpersonen und Gruppen mitarbeiten, Gruppen nach dem Arbeitsgruppenprinzip. Die Gruppen sollen sich später mit anderen Gruppen zu einer Organisation zusammenfinden. Das eine Ziel ist, politisch gezielter handeln zu können, indem verbindliche Absprachen getroffen werden. Das andere ist, dass verbindliche Strukturen emanzipatorische Prozesse der Einzelpersonen innerhalb der Gruppe ermöglichen. Das ist etwas, was völlig anders ist als bei den Autonomen, die sehr viel spontaner sind und anders als bei K-Gruppen, wo der emanzipatorische Aspekt nicht gerade betont wird. Bei der Formulierung eines inhaltlichen Konsens darüber hinaus, müsste ich schon sehr vorsichtig formulieren.

Karl: Der Wunsch nach einer Einheit der Linken ist schon ein Konsens von F.e.l.S Wir streben ein breites Spektrum an, das wir in unsere Gruppe einbinden wollen. Wir haben weder Berührungsängste zu Ökolinken, noch zu Leuten, die früher in einer K-Gruppe waren. Wir möchten niemand ausschließen, der in seinen Äußerungen und Verhaltensweisen uns nicht unemanzipatorisch erscheint.

Franz: Bei F.e.l.S. gibt es allerdings einen linksradikalen Konsens. Wir glauben nicht, dass die kapitalistische Gesellschaft reformierbar ist. Wir stellen uns allerdings den revolutionären Umsturz nicht so vor, dass irgendwann alle Telegraphenstationen besetzt werden. Eine grundsätzliche Erneuerung kann nur geschehen, wenn auch kulturelle Positionen mit unseren Inhalten besetzt werden. Die Veränderung der ökonomischen Bedingungen ist zwar notwendig für eine funktionierende Gesellschaft, aber nicht ausreichend.

Karl: Es gibt keine Widerspruchshierarchie, keine Haupt- und Nebenwidersprüche. Wenn nur die ökonomischen Zustände verändert werden, bleiben die anderen Widersprüche, die auch systemstabili­sierend sind, erhalten. Es muss also eine parallele Entwicklung geben.

telegraph: Gut, eine Mehrheit der Bevölkerung muss eine andere Art von Gesellschaft wollen. Aber dazu ist es ja nie gekommen. Das haben wir nie erreicht. Im Gegenteil, die Stärke der kapitalistischen Bewusstseinsindustrie ist so groß wie nie.

Karl: Ich bin nicht dieser Meinung. Die Zustände sind nicht haltbar und verschlech­tern sich für die Leute immer mehr. Das kann nicht ewig so weitergehen. Solange es Unterdrückung gibt, werden sich Leute dagegen wehren, dieses Potential so zu organisieren, dass in der Endkonsequenz eine Transformation in eine befreite Gesellschaft gelingt.

telegraph: Welche Mittel seid ihr bereit zu nutzen, welche Zielsetzung habt ihr, was würdet ihr auf keinen Fall mehr machen? Das wird bei euch nicht diskutiert, da kommt gar nichts. Wenn ihr euch irgendwie mit diesen Bolschewisten identifiziert, muss man doch sagen können, wie weit, an welchen Punkt man aussteigt?

Franz: Auf diese verschiedenen Punkte will ich mich nicht einlassen. Ich denke, ich kann mich nicht mit der bolschewistischen Bewegung identifizieren. Ich glaube, dass da viele Dinge von Anfang an schon falsch gelaufen sind, andere Sachen relativ spät noch einigermaßen richtig waren. Ich würde mich auf keinen Fall auf ein bolschewi­stisches Revolutionsmodell einlassen. Es ist halt so, dass, wenn man über revolutionäre Entwicklungen spricht, man ganz oft auf die Oktoberrevolution kommt, weil das die erste Revolution war, in der der bürgerliche Staatsapparat abgeschafft wurde. Aber demokratischen Zentralismus oder ähnli­ches würde ich ablehnen.

telegraph: Aber in eurer Broschüre heißt es, die errungene Macht müsse gesichert, dann vergesellschaftet werden. Wie?

Franz: Dass wir keine klassische kommuni­stische oder bolschewistische Partei wollen, ist sicher Konsens bei uns, wir wollen auch keinen demokratischen Zentralismus. Das, was wir für erstrebenswert erachten, ist zu wenig ausgeführt, dem wird sich F.e.l.S. in Zukunft stellen müssen. Das ist das, woran wir arbeiten müssen. Ich möchte eine Kritik an einer Revolution so formulieren: Da ist eine Ausgangslage, die ich begrüßenswert finde. Das Alte ist zusammengebrochen und es ist möglich, etwas neu aufzubauen. Deshalb beschäftige ich mich damit. Dann setze ich mich damit auseinander, was die Leute gemacht haben. Zum einen, was passieren Kann, wenn ein solcher sozialisti­scher Staatsapparat bestimmten Sachzwängen gegenübersteht. Zum anderen zu sagen, dass bestimmte Vorstellungen und Lösungs­modelle an sich schon falsch sind.

Karl: Wir halten es für sehr wichtig, uns mit Geschichte zu befassen, mit Geschichte von revolutionären Bewegungen und Revolutionen. Das ist auch eine Kritik, die wir an der autonomen Bewegung haben. Ich finde es wichtig, sich rückblickend mit Transformationsprozessen zu beschäftigen, um Fehler nicht noch einmal zu machen.

telegraph: In Polen und in der CSSR haben sich vor 1989 die Oppositionellen, Charta 77 und Solidamosc hingestellt und haben gesagt: Wir haben kein politisches Programm, unser gemeinsames Ziel ist es den Stalinismus zu stürzen. Wenn das passiert ist, sehen wir weiter. Und das war auch unser Problem als DDR-Oppositio­nelle, daß kaum jemand von uns sich einem Kopf gemacht hat. Der Ausgang ist ja bekannt. Wenn jetzt wieder dieser Punkt kommen sollte, es genauso plötzlich wieder möglich ist, eine gesellschaftliche Verände­rung durchzuführen, stehen wir heute wieder ohne Konzept da, die Entwicklung rennt uns davon und andere, die ein fertiges Konzept haben, ernten die Früchte.

Karl: Du hast vorhin gefragt, worin der Unterschied zwischen uns und einer Politsekte bestehen würde. Das ist es ja gerade, daß sie ein fertiges Konzept aus der Tasche ziehen können. Wenn solche Leute auf mich zukommen, lehne ich sie ab. Ein Konzept kann doch nur aus einem Diskussions- und Willensprozess und aus einem Akkumulieren von Meinungen entstehen. Natürlich muss man eine grobe Richtung im Kopf haben, aber die haben wir. Das Problem, daß die Massen an uns herantreten, existiert im Moment nicht. Deshalb haben wir nicht den unaufschieb­baren Druck, so etwas formulieren zu müssen. Wir diskutieren darüber und haben viele Sachen im Kopf.

telegraph: Wir würden gern noch einmal hören, wie ihr euch das mit der Organisie­rung von Organisationen vorstellt. Soll es überall solche Gruppen wie F.e.l.S. geben, die miteinander in Beziehung treten?

Franz: Natürlich sollten es nicht die gleichen Gruppen wie F.e.l.S. sein, aber es ist richtig, sie sollen sich zu einer Organisation zusammenfinden.

telegraph: Das ist die AABO?

Franz: Das ist die AA-BO.

telegraph: Dazu hatten wir ja diesen euch bekannten Artikel abgedruckt, indem wir der AABO die Strukturen einer Kaderpartei, demokratischen Zentralismus vorgeworfen haben. Es ging um die Art und Weise der Aufnahme von neuen Gruppen nach einer Probezeit, eine Trennung zwischen Beo­bachter und Vollmitglied. An Beschlüsse haben sich alle Gruppen zu halten und die Gruppen mit Beobachterstatus müssen sich ebenfalls an die Beschlüsse halten. Daran hat sich der Streit entzündet, deshalb ist etwa die Hälfte der Gruppen ausgetreten.

Franz: Ich denke, man kann erst arbeiten, wenn man sich auf Gruppen verlassen kann. Das ist erst gewährleistet, wenn man die Gruppen besser kennt. Für mich ist ein solcher Beobachterstatus gar nicht so schlecht. Und dass die Gruppen sich an gefasste Beschlüsse halten müssen, ist doch eine Frage der Verbindlichkeit. Für die Beobachter ist es so, dass sie entweder Mitglieder werden oder aus der Organisa­tion ausscheiden und dann sind die Beschlüsse für sie natürlich nicht mehr verbindlich. Das finde ich nicht problematisch, weil es eigentlich keine Konsequenzen hat.

Karl: Ich finde es generell sinnvoll, ergebnisorientiert zu arbeiten. Einige Ergebnisse der Diskussion müssen festge­macht werden, sonst ist die Diskussion nicht effektiv. Das würde ich auch einfordern, ohne daß das als Disziplinierung zu verstehen ist. Ich bin der Meinung, daß man Beschlüsse nach wie vor kritisieren und andere Varianten anbieten kann. Aber ich finde dieses System ziemlich sinnvoll und auch diesen Beobachterstatus.

Franz: Es werden ja nur Sachen verabschie­det, die von allen Gruppen getragen werden. Das ist ja auch meistens ein langer Prozess: Eine Sache wird bei der AA-BO vorgeschla­gen, muss in allen Gruppen besprochen, muss wieder zurückgetragen werden. Und wenn es keinen Konsens gibt, wird es auch nicht gemacht. Es ist auch einfacher, wenn die Gruppen, die an einer Sache mitarbeiten, regelmäßig Vertreter schicken. Wenn die Gruppen nur jedes dritte mal auftauchen, dann macht diese Organisierung einfach keinen Sinn.

telegraph: Das Problem ist, dass die Protagonisten der AABO, namentlich die Antifa M Göttingen, in ihrem Auftreten, ihrer Dominanz und ihrem Politikverständ­nis, wie ich sie erlebt habe, in die Richtung einer Partei gehen, in der sie ihr politisches Konzept durchsetzen. Sie sind die Leute, die in den letzten zwei Jahren die AABO inhaltlich bestimmt haben.

Franz: Es ist zweifellos richtig, dass die Antifa M in der AA-BO eine wichtige Rolle gespielt hat, dort den Organisationsvor­schlag aufgestellt hat. Mittlerweile kann ich das nicht mehr erkennen, dass die Antifa M dort eine so gewichtige Stimme hat. Es ist eben eine gut funktionierende Antifa-Gruppe.

Karl: Ich glaube, dass wir von verschiedenen Perioden reden und dass deshalb die Diskussion etwas aneinander vorbei geht.

telegraph: Wir kennen die Auseinanderset­zung bis zum Mai 1993.

Karl: Da waren wir noch nicht in der AA­BO und können deshalb nicht so viel dazu sagen. Die Konstituierung der AA-BO habe ich nur am Rande mitbekommen. Ich würde gern über die jetzige AA-BO reden, die Entwicklung, die sie heute nimmt. Die heutige Position der AA-BO ist eine andere als du sie beschreibst.

telegraph: Das ist natürlich ein bisschen schwierig, das jetzt gleichrangig weiter zu diskutieren. Eine wirkliche Kritik an einer der AABO-Broschüre „Einsatz“ von der Antifa A&P geleistet werden. Da heißt es:

…Und was den szeneinternen „Ost-West-Konflikt“ betrifft – solchermaßen als Problem formuliert, wird hier die völlig falsche Tatsache suggeriert, dass die Ostgruppen allein aufgrund ihrer Herkunft über einheitliche Bedingungen und einheitlichen Diskussionsstand verfügen. Richtig ist vielmehr, dass Ostgruppen spezielle Erfahrungen gemacht haben, die nur für sie gelten und also von ihnen politisch besonders aufgearbeitet werden müssen (zN. Auslieferung an die herr­schende Klasse eines anderen Landes, der BRD). Dies ist aber kein Argument dagegen, wieso über die eigenständige Ost-Opposition hinaus nicht auch noch enge Zusammenarbeit mit West-Gruppen möglich sein sollte. Z.B. bietet sich die Beratung in rechtlichen Fragen geradezu an, da West-Gruppen hier schon einige Jahre längere Erfahrung mit der bundes­deutschen Repression haben.“

Karl: Die Arroganz sehe ich auch. Es ist aber nicht zu leugnen, dass wir nicht mehr in der DDR leben und jetzt eine bundesdeut­sche Repression erfahren. Und Gruppen, die jahrelang die bundesdeutsche Repres­sion erfahren haben, haben damit Erfahrung gemacht, die nutzbar ist. telegraph: Es ist aber die Frage, ob die Erfahrungen, die die Ostgruppen mit einer anderen Art von System gemacht haben, der Herrschaft eines bürokratischen Systems, unwichtig geworden ist. Der Tenor ist: „Früher war im Osten irgend etwas, worüber man nicht näher sprechen kann. Jetzt ist im Osten auch der Kapitalismus, deshalb braucht man darüber nicht mehr zu sprechen, was früher im Osten war.“ Die Erfahrungen mit Stalinismus und Poststalinismus, die die Ostler haben, sind deshalb natürlich nicht gefragt. Stattdessen sollen wir reumütig darüber nachdenken, dass wir uns an die herrschenden Klassen der BRD ausgeliefert haben. Die Erfahrungen mit Geheimdiensten, die wir wirklich vermitteln können, sind schor gar nicht gefragt. Aber das sind, wenn wir über einen neuen Versuch zum Sozialismus nachdenken, die Erfahrun­gen, wie es auf keinen Fall mehr werden darf. Dazu kommt, dass die Akten aus dem Osten jetzt bei den anderen lagern und benutzt werden, daß alte Inoffizielle Mitarbeiter erpresst und für das neue System wieder aktiviert werden. Franz: Das Zitat aus der Einsatzbroschüre ist vielleicht eine unglückliche Formu­lierung.

Karl: Unsere Stalin-AG versucht explizit, das Thema Realsozialismus aufzuarbeiten und auch die Erfahrungen mit Geheim­dienst. Ich würde das auf keinen Fall ausklammern und verharmlosen. Das ist nicht meine Position. Aber wichtig ist es, diese Erfahrungen auszutauschen – die Erfahrungen mit der bundesdeutschen Repression und die mit der DDR-Repres­sion.

(Das Gespräch führten Jolly Jumper und W. Rüddenklau)