Kultur

Vor 90 Jahren besuchte James Joyce Wiesbaden

Von Jürgen Schneider

AKT I

Im Wiesbadener Verlag Thorsten Reiß erschien 2005 mein Büchlein James Joyce in Wiesbaden. Der Inhalt in aller Kürze: Der irische Schriftsteller James Joyce (1882-1941), seine Lebensgefährtin Nora Barnacle (1894-1951) sowie ihre gemeinsame Tochter Lucia (1907-1982) hielten sich vom 14. bis 21. April 1930 in Wiesbaden auf und wohnten im Hotel Rose. Die Goldenen Bücher des Hotels Rose durften nicht eingesehen werden. Der Verwalter dieser Gästebücher für Prominente teilte mit, Joyce habe es sich bekanntlich nicht leisten können, in diesem Hotel – heute Sitz des hessischen Ministerpräsidenten Bouffier – Zimmer zu bewohnen.


James Joyce und Nora Barnacle (Quelle: ulysses.net)

Lucia hatte den Wiesbaden-Aufenthalt sowie den Zweck des Besuches in einem an die wichtigste Mäzenin der Familie Joyce, Harriet Shaw Weaver (1874-1961), adressierten Brief vom 12. April 1930 aus dem St. Gotthard Hotel, Zürich, angekündigt: »Mein Vater möchte, daß sie ihm ins Hotel Rose, Wiesbaden, Deutschland, wohin wir am Montag fahren werden und wo ihn einen Augenarzt untersuchen wird, telegraphieren oder per Expressbrief mitteilen, ob Sie ihre Reise nach Paris ausdehnen können, da diese Untersuchungen drei oder vier Konsultationen erfordern und wir unter Umständen erst am 21. oder 22. in Paris sein werden. Sollten Sie dort nicht länger bleiben können, würde er aus Wiesbaden abreisen, um mit Ihnen alle wichtigen Dinge zu besprechen.«

In einem von Lucie Noel überlieferten Brieffragment des von den Nationalsozialisten ermordeten engsten Vertrauten von Joyce, Paul L. Léon (1893-1942), heißt es: »Départ de J. pour consultations à Wiesbaden (Pagenstecher).«

Joyce, der seit Kindestagen Probleme mit seinen Augen hatte, konsultierte vermutlich nicht nur einen Augenarzt, wie im Brief der Tochter vom 12. April 1930 angekündigt, sondern zwei Augenspezialisten: Professor Dr. Hermann Pagenstecher (1844-1932) und dessen Sohn Dr. Adolf Pagenstecher (1877-1937). Vater und Sohn betrieben eine Gemeinschaftspraxis in der Taunusstraße 63. Der international bekannte Hermann Pagenstecher hatte bereits die englische Königin Victoria behandelt, die Joyce nicht mit schönen Worten bedachte. In seinem Roman Ulysses, in dem er den Kampf gegen die britische kulturelle Hegemonie zu einem sprachlichen gestaltet, taucht Ihre Majestät an einer Stelle als »die alte Hexe mit den gelben Zähnen« auf.

Joyces einwöchiger Aufenthalt wurde lediglich im Wiesbadener Bade-Blatt vom 17. April 1930 vermerkt und dort – entgegen den Gepflogenheiten des Blattes – nicht im redaktionellen Teil, in dem sonst stets die Ankunft prominenter Gäste gemeldet wurde. In der Kur- und Fremdenliste findet sich folgender Eintrag: »Tages-Fremdenliste. Nach den Anmeldungen vom 16.4.30 als Passant angemeldet: Jocye [sic!], J., Hr. m. Fam., Paris –– Rose.«

Am Abend vor der Abreise nach Paris, ein Ostersonntag, besuchte die Familie Joyce im Großen Haus des Staatstheaters zu Wiesbaden eine Aufführung von Richard Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg, die im Rahmen der Wiesbadener Frühjahrs-Festspiele stattfand. Der Intendant des Hauses war Dr. Paul Bekker, gegen den die Ortsgruppe Wiesbaden der NSDAP bereits 1927 eine Veranstaltung mit dem Titel »Die Verjudung des Wiesbadener Staatstheaters und der deutschen Kunst« durchgeführt hatte.

 

AKT II

Über James Joyce in Wiesbaden hieß es in der Lokalpresse, das Ganze sei mehr oder weniger »spekulativ«. Selbst der durch Briefe von Lucia Joyce bestätigte Aufenthalt im Hotel Rose wurde mit Fragezeichen versehen.    Der Hessische Rundfunk berichtete 2007 über das Haus Taunusstraße 63 und dessen berühmten Besucher Joyce, ohne James Joyce in Wiesbaden zu erwähnen. Eigentum geht in diesem Land allemal vor literarischer Recherche, und so durfte die Eigentümerin dieses Hauses im Wiesbadener Literaturhaus Villa Clementine bei einer Veranstaltung zum Wiesbaden-Besucher Joyce lesen.

Die Frankfurter Rundschau (20. April 2016) schrieb die Funde zum Joyce’schen Wiesbaden-Aufenthalt der Autorin Susanne Kronenberg zu: »Haben Sie gewusst, dass 1930 der Schriftsteller James Joyce in Wiesbaden in einer Augenklinik behandelt wurde? Oder, dass beinahe von der ganzen Villenherrlichkeit der Stadt nicht viel übrig geblieben wäre? Nicht? Dann sollten sie mal das Buch Wiesbaden – einfach spitze durchblättern. Die Autorin Susanne Kronenberg hat dort diese und noch viel mehr spannende Themen über Wiesbaden zusammengetragen.«

 

AKT III

Seither ließen sich weitere Zeugnisse über den Aufenthalt von James Joyce in der hessischen Kapitale zusammentragen. Stuart Gilbert, Autor des Werkes Das Rätsel Ulysses notierte am 28. April 1930 in sein Paris Journal: »Zu Beginn des Monats reiste JJ zunächst nach Zürich, dann nach Wiesbaden, um Augenärzte zu ›sehen‹.« Joyces Tochter Lucia, die viele Jahre in einer englischen Anstalt leben musste, schrieb Ende der 1950-er Jahre in ihrem heute im Harry Ransom Centre (Austin, Texas) aufbewahrten Typoskript The Real Life of James Joyce: »In Deutschland reisten wir nach München und Wiesbaden (…) Als ich in Wiesbaden war, sah ich Die Meistersinger. Von all den Dingen, die ich sah, so muss ich sagen, gefiel mir Richard Wagners Musik am besten, und ich mag sie noch heute!«

Einen genauen Bericht jenes Tages, an dem die Familie Joyce die Wagner-Aufführung besuchte, verdanken wir dem Literaturwissenschaftler und Romanisten Ernst Robert Curtius (1886-1956), der Joyce seit 1924 persönlich kannte und 1929 den Text James Joyce und sein Ulysses veröffentlichte. In einem Brief an den Joyce-Biographen Richard Ellmann, der den Wiesbaden-Besuch von Joyce in seinem Opus nicht erwähnt, schreibt Curtius, er und seine Frau hätten die Familie Joyce in Wiesbaden getroffen, die im Hotel Rose residiert habe. Sie seien um 16 Uhr in Wiesbaden angekommen, und er habe sein Exemplar des Joyce-Textes Tales Told of Sham and Shaun/ Three Fragments from Work in Progress, (Paris: The Black Sun Press, August 1929) mitgebracht und Joyce um Erläuterungen gebeten. Zwischen 18 und 21 Uhr habe sich die Familie Joyce Die Meistersinger angeschaut. Danach hätten er und seine Gattin mit James Joyce und dessen Lebensgefährtin Nora im Hotel diniert. Joyce habe bis 23 Uhr einen Rheinwein nach dem anderen geordert, sich vom Ende der Weinliste nach oben gearbeitet. (Der Brief von Curtius befindet sich unter den an der Universität von Tulsa (Oklahoma) aufbewahrten Ellmann-Papieren.)

Offenbar hatte Curtius der Ulysses-Verlegerin Slyvia Beach von dem Wiesbadener Treffen berichtet. In einem in den Archiven der Cornell University verwahrten Brief vom 6. Mai 1930 dankt Sylvia Beach Curtius dafür, dass er es einrichten konnte, die Joyces in Wiesbaden zu treffen.

Am 15. Mai 1930 wurde Joyce in Zürich von Professor Alfred Vogt am linken Auge operiert: ein Star im dritten Stadium. Es war Joyces neunte Augenoperation. Sein letztes Werk, Finnegans Wake, erschienen 1939, vollendete er in einem Zustand des Halbdunkels. In dieser »Tobecontinued’s tale« (FW 626.18) spielt Joyce auf die Vereinnahmung Richard Wagners durch die Nationalsozialisten an (FW 500.24): »Fort! Fort! Bayroyt! March!«