Kultur

Wahlverwandschaft

„Tori und Lokita“, Belgien 2022, Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne

Von Angelika Nguyen

© kinofreund eG 2023

Lokita hat einen Traum: sie möchte Papiere für den legalen Aufenthalt in Belgien haben, als Haushaltshilfe arbeiten, mit Tori eine kleine Wohnung anmieten und Geld nach Hause schicken. Vielleicht ist Lokita aus Nigeria oder Togo oder wie Tori aus Benin, für die Geschichte ist das nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass sie in der Ausländerbehörde in Brüssel glauben, sie sei die leibliche Schwester von Tori.
Deshalb sitzt Lokita zu Beginn des Films frontal zur Kamera und muss Fragen beantworten. Als sie sich in Widersprüche verstrickt, muss sie eine Tablette gegen die Panik nehmen. Im Bus wirkt sie niedergeschlagen, müde. Die nächste Szene ist ganz anders, gelöst, fröhlich – sie ist mit Tori zusammen in ihrem gemeinsamen Zimmer im Heim für Geflüchtete, sie üben halb im Spaß Antworten für die Behörde, sie sind einander vertraut. Tori ist ein zehnjähriger Junge aus Benin und hat im Gegensatz zu Lokita die wundersamen Papiere bekommen. So jung Tori noch ist, flüchtete er aus Lebensgefahr, denn es gibt Kinder in bestimmten Regionen Afrikas, die wegen eines Aberglaubens verfolgt werden. Sie werden „Hexenkinder“ genannt, da man ihnen böse Kräfte andichtet. Weil Toris Mutter starb, als er sehr klein war, schrieb man ihm die Schuld zu, wollte ihn töten. Er flüchtete erst zu einer „Maman Monique“, dann in einem Boot über das Meer. Dort lernte er Lokita kennen, die ihm wie eine große Schwester wurde, sein einziges Zuhause in dem fremden neuen Land. Jetzt darf er hier zu Schule gehen, was die einzige Normalität im Leben der beiden ist.
Der Film erzählt ihren Alltag: abends, wenn es dunkel ist, gehen sie los zu illegalen Jobs. Die bringen das Geld, das Lokita braucht – für den Schlepper aus Benin, dem sie, auch für Tori, noch über 600 Euro für die Passage schuldet und für die Mutter daheim, die die Familie durchbringen muss. Besonders die Verpflichtung der Mutter gegenüber lastet auf Lokita wie ein Alp. Da geht es um Loyalität, tiefe Gefühle, familiäre Verantwortung. So macht Lokita alles, was Geld bringt, und Tori hilft mit. Karaoke singen für die Gäste in dem billigen italienischen Restaurant und kleine Drogengeschäfte an Haustüren abwickeln. Lokita ist als junges Mädchen zudem häufig sexueller Nötigung ausgesetzt, die sie in ihrer finanziellen Zwangslage als unfreiwilliges „Geschäft“ akzeptiert.
Toris gesicherter Aufenthaltsstatus könnte Lokita, wäre sie tatsächlich mit ihm verwandt, vor Ausweisung und all diesen schlechten Jobs bewahren. Doch das ist sie nun mal nicht. Als ihr gefälschte Papiere zum Kauf angeboten werden, verdingt sich Lokita als Betreuerin einer streng isolierten, getarnten Hanfplantage, was eine dreimonatige Trennung von Tori bedeutet.
Sehr dicht erzählt der Film die beklemmende Atmosphäre dieser Plantage am Rande der Stadt, wohin kein Tageslicht, keine frische Luft, kaum ein Mensch gelangt. Kleine Holzverschläge beherbergen die Unterkünfte der Arbeitenden, die riesigen Rohre zur Entlüftung, die elektrische Anlage. Jedoch der Job stört Lokita nicht, es ist die Sehnsucht nach Tori, die ihr zu schaffen macht. Tori geht es ebenso. Keinen Tag waren sie seit der Flucht getrennt. So entsteht eine rasante Dynamik der Handlung, die sie beide mehr in Gefahr bringt als alles zuvor….

Wie überstehen Menschen die lange Flucht von Afrika nach Europa, wie überleben sie im Ankunftsland? Wie geht es ihnen, was treibt sie an, welche Sorgen haben sie? Was sind die Quellen ihres Widerstands, ihrer Kraft? Davon erzählt der Film und vermeidet dabei cineastische Ausschmückungen, bleibt nüchtern. Es ist wie es ist. Nicht mal das übliche Kunstlicht setzt der Film ein: in der Nacht oder in abgeschotteten Räumen ist es eben dunkel, und wir können manchmal nur mittels Geräusche die Ereignisse erfassen. Doch ist gerade dieser knappe Stil Auslöser intensiver Gefühle beim Zuschauen.

Aus kleinen Bemerkungen in den Dialogen erfahren wir ein wenig von der Vergangenheit des Geschwisterpaares, das seine „Verwandtschaft“ selbst gewählt hat. Ganz erfahren wir sie nicht. Die Filmemacher erzählen vom Hier und Jetzt, von der Überwachheit der Hauptfiguren, von der besonderen Energie ihrer Körperlichkeit. Vor allem Tori bewegt sich drahtig und rasch. Die beiden jungen Laiendarsteller fanden die Regisseure in Belgien. Die 18jährige Joely Mbundu als Lokita und der 12jährige Pablo Schils als Tori spielen äußerst sparsam, genau und mit großer, emotionaler Kraft. Sie zeigen den enormen Freiheitswillen ihrer Figuren.

Die Dardenne-Brüder sind schon seit Jahrzehnten Ausnahmeregisseure. Ihre Geschichten – meistens vom Rand der Gesellschaft her erzählt – sind spannend und schaffen es, ausgegrenzte Figuren so klar zu zeichnen, dass man sie auch von der Mitte aus versteht. Ähnlich wie der britische Sozialdramatiker Ken Loach inszenieren die beiden scheinbar ohne künstlerischen Ehrgeiz mit eher dokumentarischen Mitteln – lange Einstellungen, dynamische Kamera, die oft den Figuren durch die Räume folgt, Originalgeräusche – und sind doch kunstbewusst.
„Tori und Lokita“ ist der erste Film der Dardennes, der konsequent aus der Perspektive zweier Geflüchteter erzählt. Hier rauschen zur Abwechslung mal die weißen Gesichter an der Geschichte vorbei, sind Nebensache, verwechselbare Kulisse der beiden Schwarzen Hauptfiguren.
Diese Perspektive zu erleben, aus einer Welt des ständigen Gehetztseins und der Konzentration aufs Überleben, die sich dicht neben unserer Komfortzone befindet – diese gute Chance bietet der mehrfach ausgezeichnete Film in ausgewählten Programmkinos.