Kultur

Wir wollen alles. Immer noch.

Schöne Geschichten

Von Wolfgang Müller (Zürich)

„…im Ernst ich weiss natürlich ganz genau / das Publikum der Kultur ist gewitzt / oberschlau und weiss was sache ist / ihm kann keiner was vormachen…“

Im industrialisierten Norden von Italien, bei Fiat, Pirelli und den anderen grossen Fabriken gab es in den 70ern noch ein „klassisches“ Proletariat. Die grosse Mehrheit der Arbeiter war in der Kommunistischen Partei organisiert. Diese repräsentierte eine Arbeiterschaft, die immer und unter allen Umständen „für Arbeit“ war, denn sie sahen die grösste Katastrophe darin, wenn ein Arbeiter seine Arbeit verlor. Aus diesem Grund waren sie der Automatisierung und Technisierung absolut feindlich gesonnen. Das ging fast bis zur Maschinenstürmerei.

Die Söhne und Töchter dieser Arbeiter sahen das ganz anders. Für sie war die Arbeit in den Fabriken nur einfach stupide Maloche, das „Leben“ spielte sich in der (viel zu knappen) Freizeit ab. Sie begrüssten die Automatisierung denn sie sahen darin die Chance, dass die Maschinen die notwendige Arbeit erledigten und dadurch den Menschen mehr Zeit blieb für die „wichtigen Fragen“ der Gesellschaft.
Anders als ihre Väter waren sie gegen die Arbeit.
Diese Einstellung strahlte auch nach Frankreich und nach Deutschland aus.
Ein junger Autor, Nanni Balestrini, setzte sich hin und schrieb den Roman dazu: Wir wollen alles.
Es ist die Geschichte eines süditalienischen Bauernjungen, der, seiner Ansicht nach, gezwungen wurde, nach Norditalien zu emigrieren. Er sagt „das Geld ist in den Süden gekommen. Früher hat man eine Orange gepflückt und gegessen. Heute musst du sie kaufen. Wenn du sie pflückst, wirst du wegen Diebstahls verhaftet. Du brauchst Geld. Du hast keine Möglichkeit, welches zu beschaffen.“
Die Industrialisierung Süditaliens bleibt aus. Im Norden gibt es die Fabriken und die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Die Süditaliener wandern in Strömen nach Norden. Deshalb behauptet der junge Süditaliener „Süditalien ist überall, auch im Norden“.

Die Arbeitsbedingungen an den Fliessbändern sind unsäglich, das Tempo wird ständig erhöht. Es wird in Schichten gearbeitet. Die Löhne sind viel höher als im Süden. Aber auch die Wohnungen und die Lebensmittel und das Kino und die Konzerte sind viel teurer. Trotz Emigration und harter Arbeit sind die Süditaliener dem besseren Leben keinen Schritt näher gekommen. Die Kommunisten waren erfreut über die Industrialisierung und die vielen Arbeitsplätze. Die Gewerkschaften handelten Löhne aus, die von der Teuerung bereits gefressen waren. Es war eine explosive Situation und sie explodierte. Die Arbeiter organisierten sich selber und veranstalteten mit Unterstützung der Studenten Flugblattaktionen, Demonstrationen auf dem Fabrikgelände und selbst ausgerufene Streiks. Erst streikten sie stundenweise, dann ganze Schichten und mehrere Bänder.

Die Produktion wurde sabotiert, die Streiks wurden strategisch platziert: die ganze Produktion lief, aber die Fahrzeuge wurden nicht ausgeliefert. Streik der Lastwagenfahrer. Die KPI und die Gewerkschaften versuchten die Arbeiter vergeblich „zur Vernunft“ zu bringen. Die Revolte wurde eine Bewegung von mehreren zehntausend Menschen. Autonom und selbstbestimmt. Sie gipfelte in einem gewaltigen Aufstand, der von der Polizei nur mit Mühe und brutalster Repression niedergeschlagen werden konnte.
In der Geschichte ist ständig spürbar, dass wir als Individuen nur diese eine Chance auf ein gutes Leben haben. In unserer Lebensspanne. WIR WOLLEN ALLES.

Selten sind die Geschichten, die genau zur richtigen Zeit auf eine passende gesellschaftliche Situation treffen und so Tendenzen verstärken helfen, die im Entstehen begriffen sind. Wir wollen alles war so ein Buch! Peter O. Chotjewitz hat den Roman übersetzt. Ich kenne nicht die Auflagenzahlen aber ich bin sicher, das Buch hat x-fach mehr Leser gehabt als verkaufte Exemplare. Im ganzen deutschsprachigen Raum, in Deutschland, Österreich und der Schweiz, war es in praktisch jeder Wohngemeinschaft vorhanden und hatte unglaublich viele Leser.

Heute ist das Buch als Einzelband annähernd vergriffen, als Teil der Romantrilogie „Die große Revolte“ ist der Text jedoch weiter verfügbar. Außerdem kann man es natürlich antiquarisch finden. Da gibt es diesen Roman zuhauf. Ein bisschen Wehmut muss hier erlaubt sein. Eine Quelle der Rebellion wurde, nach der Auflösung der WG und der Rückkehr zur „Vernunft“ ins Antiquariat gegeben. Wenigstens nicht fortgeschmissen!

Form und Inhalt pflegen eine alte Hassliebe! Sie können nicht ohne einander und oft können sie auch nicht miteinander. Immer besteht die Gefahr, dass Ideologien sich in die Belange der Kunst einmischen. Aber die Kunst kann sich auch nicht raushalten. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Kultur und gleichzeitig ist jeder Akteur auch ein politischer Mensch. Auch apolitische Künstler!
Nanni Balestrini war sich dessen vollkommen bewusst. Er engagierte sich entschieden für die „Autonomia“. Dafür wurde er von den „Erhaltern der Arbeitsplätze“ gehasst und von Justiz und Polizei in die Emigration nach Frankreich getrieben als der Staat Rache übte.
Wir wollen alles wurde von vielen jungen Menschen gelesen. Alle Bildungsstufen. Man kann das Buch wie einen Abenteuerroman lesen. Das geht! Wer aufmerksam auf die formale Konzeption achtet merkt, dass der Text plötzlich collagiert ist, man weiss nicht, ist es ein Flugblatt, was man gerade liest, oder die Meinung des Protagonisten? Aber es spielt keine Rolle, man kriegt die Stimmung mit. Das ist das Wesentliche! Das sanfte Stolpern, das die Form hervorruft, fordert den Leser heraus, sich mit dem Inhalt zu beschäftigen und verwehrt (grinsend) den Weg des Konsumierens.

Nanni Balestrini ist ein Jongleur der Wörter. Er wirft sie in die Luft und einige fügen sich zusammen. Das Ergebnis ist immer erstaunlich! Er hat auch Bilder produziert. Meist waren es Kombinationen aus Collagen und Malerei. Oft werden Schlagzeilen aus Tageszeitungen verwendet, die in ungewöhnlichen Kombinationen ganz neue Interpretationen zulassen. Manche Texte sind konsequent klein geschrieben und verschmähen jegliche Satzzeichen. Manchmal sind Sätze nicht beendet. Es ist dem Leser überlassen, sie zu beenden.

Man muss sich konzentrieren. Aber man versteht sie. Nicht zuletzt wegen dieser Form. Denn diese Form zwingt zum Denken!
Der Band „Landschaften des Wortes“ zeigt uns die Brüche und Kontinuitäten, die im Schaffen eines engagierten Geistes auftreten. Manche nennen es Entwicklung. Aber oft ist es auch eine veränderte Gesellschaft, die neue Methoden der Darstellung erfordert. Nanni Balestrini ist sicher ein Mann, der viel dazu beigetragen hat, dass dies im Bewusstsein vieler verankert wurde: Unsere Kultur, die machen wir selber! Und sie ist nur lebendig, wenn sie ihre radikale Forderung aufrecht erhält: WIR WOLLEN ALLES. Immer noch!

BalestriniLandschaften_Cover

Nanni Balestrini – Landschaften des Wortes.
Herausgegeben von: Thomas Atzert, Andreas Löhrer, Reinhard Sauer und Jürgen Schneider
Berlin/Hamburg: Assoziation A.
Erschienen anlässlich des 80. Geburtstages von Nanni Balestrini am 02. Juli 2015