Von Andrej Hermlin
Was für ein schöner Sonntag sage ich mir, eben bin ich wach geworden, draußen steht der Baum vor dem Haus, ich kenne all seine Äste, die seltsamen Windungen seiner Zweige, aus denen ich mir in meiner Phantasie Gebilde baue, ein Flugzeug, ein Automobil, eine Berglandschaft.
Der Himmel ist hellblau, meine Lieblingsfarbe bis heute, ich muss 8 oder 9 sein, ich rieche den Sommer. Das Fenster meines Kinderzimmers ist offen, die Gardine bewegt sich leicht im Wind.
Doch über das Vogelgezwitscher und das Zirpen der Insekten legt sich plötzlich ein anderer Klang. Er ist drohend, unerbittlich. Auf der anderen Seite der Straße muss ein anderes Fenster geöffnet worden sein. Von dort her weht der Klang zu mir herüber. Es ist ein Marschlied, eine Stimme singt, nein, nicht eine Stimme, es sind viele Stimmen, sie werden lauter, ich verstehe die Melodie, aber nicht die Worte, obwohl sie deutsch sind, ein hartes Deutsch, ein sehr lautes Deutsch.
Mein Vater tritt ins Zimmer, er blickt über die Straße. In seinen Augen sehe ich Zorn, rasch schließt er mein Fenster, das Marschlied wird leiser, unsere Blicke treffen sich für einen Moment, mein Vater schweigt. Dann ringt sich doch ein Wort aus seiner Kehle, nur eins: „Wehrmacht“.
Mein Vater war wenige Wochen nach Kriegsende in sein Heimatland zurückgekehrt, jenes Land, das ihn und seinesgleichen zu beseitigen versucht hatte. Manchmal sprach er von einem unsichtbaren Graben, der ihn von den anderen trennen würde. Sein Blick ging dabei ins Nirgendwo, ich wusste, er war noch im Zimmer, aber für mich unerreichbar weit weg, und es war Zeit, zu schweigen.
Mit meiner Mutter sprach ich, als ich zu sprechen begonnen hatte, nur russisch. Kein einziges deutsches Wort. Ich wuchs auf mit russischen Märchen und Gedichten, und russischen Liedern, die meine Mutter mit viel Liebe und wenig Talent für mich sang.
In unser Haus in Niederschönhausen drang wenig von draußen herein. Nur manchmal, wenn ein Fenster offen stand im Sommer, oder wenn die Nachbarskinder über die Straße riefen: „Du Russenschwein!“.
Damals, als eine feindliche, fremde Melodie über die Straße kam und meinen Sommermorgen störte, war ich gerade auf eine neue Schule gewechselt. Sie trug den Namen des ersten Präsidenten einer Republik, die es heute nicht mehr gibt. Eines Tages beschloss die Elternversammlung, unsere Klasse auf eine Exkursion nach Oranienburg zu schicken. Ziel des Ausflugs sollte das Konzentrationslager Sachsenhausen sein. Der Vater einer Mitschülerin, übrigens in Staatsdiensten, meinte, da passe es gut, dass ganz in der Nähe des Konzentrationslagers ein größerer Fußballplatz sei. Nach dem Besuch des Lagers könnten die Kinder dort Fußball spielen. Meine Mutter war daraufhin aufgestanden und hatte erklärt, sie würde es ihrem Sohn untersagen, an diesem Ausflug teilzunehmen. Sein Großvater sei Insasse dieses Konzentrationslagers gewesen.
Ihr Protest traf auf völliges Unverständnis der übrigen Anwesenden.
Jahre später flog ich nach einem Besuch bei meinen Großeltern in Moskau mit einem Flugzeug der Aeroflot zurück nach Berlin. Schon vor dem Abflug waren mir die übrigen Passagiere in besonderer Weise aufgefallen. Es handelte sich um Musiker des Zentralen Orchesters der Nationalen Volksarmee. Auf dem Flughafen Scheremetjewo hatten sie in ihren deutschen Uniformen die dortigen Angestellten mit Rufen wie „Dawaj, Dawaj!“ und „Zack, Zack!“ herumzukommandieren versucht. Dabei lachten sie laut, und ihr Lachen kam aus ihren verzerrten Mündern wie das Marschlied aus dem geöffneten Fenster unserer Nachbarn.
Etwa zur selben Zeit sprach Bundespräsident Weizsäcker vom 8. Mai als Tag der Befreiung.
Nein, die Deutschen sind nicht befreit worden. Wer das glaubt oder behauptet, belügt sich selbst. Befreit wurden nur die wenigen jüdischen Überlebenden in den Lagern, befreit wurden Kommunisten und Sozialdemokraten in den Zuchthäusern, Roma und Sinti, sowjetische und andere Kriegsgefangene. Die Deutschen aber mussten erobert werden. Das und manches andere haben sie den Eroberern nie verziehen.
Man kann die Zukunft nicht gewinnen, wenn man sie auf einer Selbsttäuschung errichtet. „Ihr habt ein großes, schönes Haus gebaut“, sagte kürzlich meine aus Kenia stammende Frau, „Aber Ihr habt das Fundament vergessen!“
Ihre flüchtig hingeworfene Bemerkung erschien mir wie eine Schrift, ein zwingendes Gleichnis, auf das ich lange gewartet hatte.
Unser Haus würde – das wusste ich jetzt – einen Sturm nicht überstehen.
Wir aber leben in stürmischer Zeit.
Andrej Hermlin (* 21. September 1965 in Berlin) ist ein Pianist und Bandleader.