Kultur, Medien, Osten

Kristallisierte Momente

– In neuen Fotobüchern geblättert
von Jürgen Schneider

Den Fotografen Stefan Moses (geb. 1928) interessieren seit 60 Jahren Sequenzen von je drei Fotos als Triptychon. Drei Momentaufnahmen derselben Szene als Überraschung. Er sieht in einem Triptychon keinen Spiegel, sondern einen Raum. »Und wenn es um ein Arbeitermonument geht, das vor seinem Abriß verhüllt wird, wobei einer der Arbeitskämpfer wie das eigensinnige Kind in Grimms Märchen die Hand aus der Verhüllung streckt, dann ist das, wenn wir es jetzt nachträglich betrachten und mit einer Geschichte begleiten, keine Momentaufnahme am Ort, sondern ein Zeitbild. (…) Stefan Moses nennt das einen ›moment fugitif‹.« Diese Zeilen von Alexander Kluge finden sich in dem Buch »Le Moment fugitif«, das Fotografien von Stefan Moses sowie Geschichten von Alexander Kluge enthält, die sich nicht dem entscheidenden Augenblick (le moment décisif) verdanken, sondern eben einem Zufall, einer Verlegenheit, einem Dämon namens Kairos, einem plötzlichen Irrläufer, der den kristallisierten Moment auslöst. Einen Moment, wie jenen, den Kluge in ›Nachts blinken die Telefone im Amtsraum der Macht‹ schildert. In einer der Nächte vor Heiligabend 1989 sitzt Gregor Gysi, der neu gewählte Parteivorsitzende der Nachfolgepartei der SED im Amtszimmer, das einem solchen Vorsitzenden zustand, vor einer Anzahl von Telefonen. Die Zentrale, die Gysi hätte verbinden können, ist nicht mehr besetzt, und auch die Genossen, die ihm die Unterschiede der Apparate hätten erklären können, sind nicht mehr da. »Eigentlich habe er sich nach Freunden gesehnt. Eine Reise nach New York hätte ihm gefallen. Ein Anruf bei dem persönlichen Referenten des Oberbefehlshabers der Westgruppe der Roten Armee? Zur Kontaktaufnahme? Das wäre zweischneidig gewesen, antwortete Gysi. Oder ein Plausch mit dem chinesischen Botschafter? Vorher vielleicht mit dem US-Geschäftsträger? Alles Abgründe und mögliche Fallen.«
Bei dem bereits genannten verhüllten Arbeitermonument, vorgesehen für die Versenkung in einer Braunkohlengrube, handelt es sich um das einstige Kampfgruppen-Denkmal im Volkspark Prenzlauer Berg, Berlin. Ein weiteres Denkmal-Triptychon in schwarz-weiß von Stefan Moses zeigt Marx und Engels mit Tüchern verhüllt neben dem Palast der Republik, der längst einem stolz der Vergangenheit zugewandten Bau weichen musste. Der Band enthält auch die Fotoserie, die 1963 im Dienstzimmer von Theodor W. Adorno im Frankfurter Institut für Sozialforschung entstand, als Moses den Philosophen mit einem Selbstauslöser vor einen C&A-Spiegel setzte. In der zu diesen Fotos gestellten Kluge-Geschichte betritt der bereits seiner Sprache verlustig gegangene Adorno den Parnaß (›Der Kandidat. In der Ferne sieht man fliehende Götter‹).
2008 offenbarte der Briefwechsel zwischen Adorno (1903-1969) und Siegfried Kracauer (1889-1966) »eine veritable Liebesgeschichte« zwischen den beiden, die im April 1923 begann, er dokumentierte »ohne Wenn und Aber eine homoerotische Liebesleidenschaft« (Ludger Lütkehaus). Der ausgebildete Architekt Kracauer arbeitete als Feuilletonredakteur der renommierten liberalen »Frankfurter Zeitung«, profilierte sich als Analytiker des Detektivromans, als Soziologe mit seiner Studie über die Angestellten (die ihm von Seiten Walter Benjamins die Beinamen »Wunderkind und enfant terrible« einbrachte) sowie als Filmtheoretiker und Historiker, dazu als Essayist und Romanautor (»Ginster«).
In seinem letzten Werk, »Geschichte – Vor den letzten Dingen«, hatte Kracauer formuliert, ein Fotograf komme nicht zu sich selbst, wenn er nicht versuche, das zu tun, was seine Kamera ihm besser als jedermann zu tun erlaube; er müsse beim Erfassen und Durchdringen äußerer Wirklichkeit zum Äußersten gehen.
Bei diaphanes ist nun der von Maria Zinfert herausgegebene großformatige Band »Kracauer. Fotoarchiv« erschienen, der Porträts, Gruppenbilder, Stilleben, Straßenszenen und Landschaftsaufnahmen aus dem Nachlass von Kracauer und seiner Frau und Mitarbeiterin Elisabeth, genannt Lili, enthält. Die meisten S/W-Aufnahmen stammen allerdings von Lili. Bei den Kracauer-Fotos trifft sich der Blick des Film- und Fototheoretikers mit dem der Kunsthistorikerin und wach agierenden fotografischen Autodidaktin. Lili hatte 1934 in Paris mit der Kleinbildkamera Leica III zu fotografieren begonnen. Beim Festhalten der alltäglichen Momente des Großstadtlebens, das Siegfried Kracauer schon in den Zwanziger Jahren schreibend erfasst hatte, orientierte sie sich u. a. am Werk des ungarischen Fotografen André Kertész, hielt aber, wie die Herausgeberin unterstreicht, im Vergleich zu diesem »insgesamt mehr Distanz zu den Dingen und Menschen«. Ein zweiter Einfluss ist der eines Eugéne Atget, an dessen Fotografien Walter Benjamin einst die Leere der Straßen und Caféhausterrassen als wesentlich hervorgehoben hatte. Spätere Fotos entstanden nicht mehr am Wohnort des Ehepaares Kracauer, sondern nur noch auf Reisen, etwa nach Athen, Rom oder in die Schweizer Berge. Als Lili Kracauer nach dem Tod ihres Mannes die fotografischen Materialien ordnete, so Maria Zinfert, »bewahrte sie diese so sorgfältig auf, dass ihre mit Siegfried Kracauer geteilte fotografische Praxis sowie das daraus hervorgegangene Bild des Autors Kracauer als ein Mosaik aus vielen unterschiedlichen Elementen erscheint.« Mosaik ist ein zentraler Begriff Siegfried Kracauers. In »Die Angestellten« hatte er geschrieben, die Wirklichkeit stecke »einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.«
In Kyoto, bis 1868 Sitz des japanischen Kaiserhofes, stehen mehr als 1.600 buddhistische Tempel der verschiedenen Schulrichtungen. Die niederländische Fotografin Jacqueline Hassink hat bei mehreren Besuchen einige dieser Tempel sowie die sie umgebenden Gärten in allen Jahreszeiten und bei jedem Wetter fotografiert. Dabei interessierte sie sich besonders für den nicht definierten Übergang des nicht-öffentlichen Raumes (Tempel/menschlicher Bereich) in den öffentlichen Raum (Garten/ Buddha-Bereich). Die beste Voraussetzung sich diesem Vorhaben zu widmen, sei es, dabei allein zu sein, die Stille auf sich wirken zu lassen. Der Fotografin, geschult an der Art und Weise, wie die holländischen Maler Rembrandt und Vermeer mit Licht umzugehen wussten, sind hervorragende Aufnahmen gelungen, die nun in dem Buch View, Kyoto zu bestaunen sind. An ihnen lässt sich zudem der philosophisch-ästhetische Schlüsselbegriff ›kire‹ studieren, der als das Geheimnis der japanischen Kunst gilt. ›Kire‹ bezeichnet einen technisch-künstlerischen Eingriff in die Natur eines Gegenstandes, durch den dessen Natürlichkeit scheinbar ›abgeschnitten‹ wird. Der ›Schnitt‹ bringt jedoch die innere Natürlichkeit zum Vorschein. Durch ›kire‹ vereinigen sich das Kunstschöne und das Naturschöne im und als Kunstwerk (s. Ryosuke Ohashi, Kire. Das Schöne in Japan. (München: Wilhelm Fink, 2. Aufl. 2014).
Enzyklopädisch angelegt, sorgfältig ediert und hervorragend produziert ist das von Manfred Heiting und Roland Jaeger erstellte zweibändige Mammutwerk »Autopsie – Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945«. Drei wesentliche Anliegen treiben die Herausgeber um: Die produktive Verknüpfung einer fotohistorischen und buchkundlichen Perspektive auf Grundlage einer möglichst objektnahen Beschäftigung; die Betrachtung und Bewertung der Fotobücher nicht als kanonisierte Ikonen, sondern in Zusammenhängen typologischer, historischer, verlagsgeschichtlicher, werkbiografischer, thematischer oder medialer Art; die Veranschaulichung der textlichen Information und Deutung durch Abbildungen. An diesen wurde nicht im geringsten gespart, au contraire. Diese »Autopsie« ist ein absolutes Muss für die Fans von Fotobüchern.

Alexander Kluge, Stefan Moses: Le Moment fugitif. – Wädenswil am Zürichsee: Nimbus, 2014, geb., 128 S., 85 Abb., € 39,00. Maria Zinfert (Hrsg.), Kracauer. Fotoarchiv. – Zürich/Berlin: diaphanes, 2014, geb., 256 S., zahlr. Abb., € 49,95. Jacqueline Hassink: View, Kyoto. On Japanese Gardens and Temples. Texte von Jacqueline Hassink, Interview von Gert van Tonder. Englisch. – Ostfildern: Hatje Cantz, 2014, geb. 204 Seiten, 311 Abb., € 68,00. Manfred Heiting / Roland Jaeger (Hrsg.): Autopsie – Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945. Bd. 1 + 2 im Schuber. – Göttingen: Steidl Verlag, 1076 S. zahlr. Abb., € 138,00.