Kultur, Medien, Osten

Nur ein winziger Moment

Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“ als oberflächliches TV-Spektakel

Von Angelika Nguyen

Das TV-Drama beginnt so, wie man es aus Berichten von KZ-Überlebenden kennt: mit Schreien, Befehlen, SS-Uniformen in gleißendem Scheinwerferlicht, Hundegebell. KZ Buchenwald 1943. Die eine Gruppe Menschen in Uniform, die andere in zerschlissenem Zivil.
Mittendrin die künftige Hauptfigur Pippig, frisch angekommen im Lager, im Licht der Scheinwerfer, flüsternd mit seinem Vater. Dann die erste Irritation: eine Erinnerung Pippigs in strahlendem fröhlichen Ausflugslook, Beginn der wehmütig-liebevoll sein wollenden Rückblende um Pippigs schwangere Frau, die den ganzen Film durchzieht. Es folgen Szenen des Ankunftsprocedere im Lager. Komparsen mit ausgezehrten Körpern werden immer wieder vor der Kamera arrangiert und dirigiert, SS-Männer stoßen mit Gewehrkolben Häftlinge nieder, Schläge, Tritte, Schreie, Massen.
Zeitsprung: KZ Buchenwald 1945, kurz vor Kriegsende. Pippig ist jetzt ein „alter Hase“, dirigiert jetzt seinerseits die Neuankömmlinge in Dusche, Kleiderausgabe und Quarantäne. Dann entdeckt er das kleine Kind in einem Koffer. Da erst beginnt der eigentliche Plot um das Verstecken und die Rettung eines dreijährigen Jungen durch Häftlinge inmitten der KZ-Hölle Buchenwald.
1958 schrieb Bruno Apitz diese Geschichte als Roman auf, der in 30 Sprachen weltberühmt und 1963 von DEFA-Regisseur Frank Beyer mit hervorragenden Schauspielern und sparsam am Plot entlang verfilmt wurde.
Aber dicht am Plot zu bleiben ist die Sache und das Anliegen dieser Neuverfilmung nicht. Vielmehr lag den neuen Machern daran, „endlich den authentischen Überlebenskampf der Häftlinge“ zu zeigen. Weder Mühen noch Kosten wurden gescheut. „Acht Baracken gebaut, zum Teil von innen benutzbar. Mit der kompletten Infrastruktur: Fenster, Türen, Kamine, Blitzableiter, Ventilationssysteme, die auf dem Dach sind“, berichtet stolz ein Szenenbildner. Im DEFA-Film dagegen lag es gar nicht in der Absicht der Erzählung, eine derartige Ausstattung zu erzeugen. Vielmehr ging es um einen bestimmten, strengen und klaren Erzählstil und die zentrale Gestaltung von Charakteren in einem Drama. Die Häftlinge des Apitz -Romans sind Menschen ohne Vergangenheit, in der Pragmatik des Überlebens im Lager und der Pragmatik des Plots war für lange Erinnerungs-Flashbacks kein Platz.
Gerade die Figurenauslegung – und deren z.T. gravierenden Veränderungen fallen in der Neuverfilmung auf. Zugleich erinnert man sich gern an die grandiose und zum größten Teil spannendere und bewegende Darstellung im DEFA-Film.
Pippig ist die gravierendste Neuerfindung des TV-Films. Aus dem älteren, kampferprobten Proleten in der eindrücklichen Darstellung von Fred Delmare wird ein junger Spund in Gestalt von Florian Stetter, mit Traumerinnerungsfrau im Hinterkopf, ratlos vor sich hin agierend bis an den Rand der Lächerlichkeit im Finale. Höfel verliert in der larmoyanten Darstellung von Peter Schneider deutlich an Profil und entbehrt die natürliche Autorität von Armin Mueller-Stahl; die vielleicht schlechteste, indifferenteste Vorstellung des neuen Films liefert Sylvester Groth als Lagerältester Krämer ab, dessen einstige Darstellung durch Erwin Geschonneck allerdings auch schwer zu toppen ist. Thorsten Merten hingegen gibt hier seinem Bochow genau jene gewisse Dringlichkeit und pragmatische Härte, die die Figur braucht, und Torsten Ranft ist als Mandrill so zum Fürchten, wie es sich gehört und einprägsamer als in der DEFA-Variante. Bei den SS-Figuren ist vom gefährlich-funkelnden Kluttig des Herbert Köfer in der Neuversion (Robert Gallinowski) nicht viel übrig, und Reineboth – mit Erik S. Klein einst schlau-praktisch-intrigant- in der Darstellung von Sabin Tambrea nur noch die Karikatur des glatten SS-Typen mit Gerte und Handschuhen.
Diese Mängel müssen nicht an den Schauspielern liegen. Eine talentfreie Regie (Philipp Kadelbach) reicht aus. Die Szene, in der Reineboth plötzlich als Häftling vor einem amerikanischen Jeep im Thüringischen Wald auftaucht, lässt ahnen, dass Sabin Tambrea auch spielen kann. Zugleich ist gerade sie ein Beispiel dafür, dass sich der Film wenig um Suspense – erzählerische Spannung mit dem Wissen der Zuschauer – schert. Was wäre das für eine schöne Sache gewesen, hätten wir eben Zeugen dieser beispielhaften Verwandlung des eleganten Reineboth in einen schlotternden, geschorenen Häftling sein können, gab es doch genügend Flüchtige dieser Art. Das Publikumsbedürfnis nach sinnlicher Nachvollziehbarkeit von Vorgängen, nach erzählerischen Details bleibt in diesem TV-Stück leider unerfüllt.
Wie eine trotzige Gegenvariante zur DEFA-Version wirkt indessen das völlige Fehlen des bewaffneten Widerstands der Häftlinge, die statt dessen nach Abzug der SS mit Händen in den Hosentaschen auf dem KZ-Gelände herum stehen wie auf dem Schulhof.
Aber eigentlicher Hauptdarsteller der Degeto- Neuverfilmung ist ja sowieso die opulente, „erschreckend realistische“ (so die MDR-Werbung) Ausstattung – und ganzer Stolz der Produzenten.
Seltsamerweise verfehlt aber gerade jene Perfektion in Kulisse, Maske, Requisite, Kostüm eine tiefere emotionale Wirkung. All die korrekt nachgebauten Baracken, die ausgesuchten dürren Komparsen, die vielen Prügeleien und Kopfschüsse auf den Lagerstraßen, die mit brauner Soße angefüllten Latrinen, das viele Kunstblut, die nach historischen Fotos korrekt gestapelten Insassen in den Holzbetten und das albern zugeklebte Auge des gefolterten Höfel betonen gerade die Künstlichkeit, alles wirkt theatralisch, unecht.
Die begleitenden Dokumentaraufnahmen der heranrückenden US-Armee helfen da auch nicht mehr. Das ist Geschichtsunterricht ohne Empathie, eine Abstraktheit der Verhältnisse, Figuren ohne Tiefe.

Wichtiger Punkt in der Bewerbung der „Neuverfilmung“ war die fundamentale Kritik an Roman und DEFA-Film und das Eigenlob, jetzt endlich die Wahrheit über die Geschehnisse im KZ Buchenwald „nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen“ zu offenbaren. Der Roman sei inzwischen von der historischen Forschung, zum Beispiel über die Rolle der Kapos, überholt worden, heißt es auf der MDR-Website. „Den Überlebenskampf der Häftlinge in Buchenwald authentisch“ darzustellen, halten sich die neuen Filmemacher zugute. So behauptet Filmautor Stefan Kolditz, Bruno Apitz erzählte das Lager nur aus Perspektive einer Handvoll kommunistischer Funktionäre. Tatsächlich jedoch finden sich im Roman und im Beyer-Film durchaus die „einfachen Häftlinge der Effektenkammer“, die laut Überlieferung maßgeblich an der Rettung des Kindes beteiligt waren. Pippig, der sich für das Kind totschlagen ließ, war einer von ihnen, und Kropinski, der trotz Folterung im Bunker nichts verrät. Keiner von ihnen gehörte zum kommunistischen Widerstand. Beide tauchen in der Neuverfilmung wieder auf. Aber nicht nur sie, sondern fast alle Figuren des Romans. So benutzen die Neuverfilmer den Roman zwar kräftig, ohne jedoch dessen große Erzählkraft und die Wucht der Emotionen, die er beim Publikum hervorrief, zu würdigen. Darin liegt die eigentliche Dreistigkeit von Autor Kolditz, Regisseur Kadelbach und Produzent Nico Hofmann.
Am peinlichsten ist der Schluss: Pippig schreit nachts in die Scheinwerfer der Wachtürme hinein, Florian Stetters Stimme überschlägt sich, Pippig will die Mörder vom Kind ablenken, liegt am morgen immer noch sterbend auf dem KZ-Gelände, Kinderhand in seiner Hand, viel zu lang und sentimental gedehnte Filmzeit, Stetter fängt an zu schielen, spielt und spielt, aber nichts geht einem da nahe, ratlos und starr steht das Kind.

Ein Geheimnis der TV-Filmemacher bleibt, warum sie, wenn sie den Roman von Bruno Apitz so blöde und beschränkt finden, nicht überhaupt einfach auf die authentische Geschichte der Rettung des dreijährigen Stefan Jerzy Zweig (und die tatsächliche Beteiligung von Zweigs eigenem Vater) zurück gegriffen, sondern statt dessen die Konstellation des Romans benutzt und dessen Figurenensemble ausgeplündert haben.
Vielfach variiert taucht interessanterweise in der Neuverfilmung das Vater-Sohn-Motiv auf. Dies liefert denn auch den einzigen winzigen bewegenden Moment des Films: im Block 61, der Seuchenbaracke, nimmt ein Häftling den kleinen jüdischen Jungen in seine Obhut und segnet ihn – auf Hebräisch.
Doch dieser Moment geht im allgemeinen Lärm des Films unter. Wie auch das Prinzip Hoffnung – das immer in der Rettung eines Kindes liegt.

Foto: Youtube-Trailer