Kommentar von Jenz Steiner
Berlins erstes Privatradio war linksalternativ. Radio 100 wird zum 30. Geburtstag auf ganz verschiedene Arten gedacht. Artikel, Sendungen, Veranstaltungsreihen, eine Website und sogar eine temporäre Wiederauferstehung des Senders am 4. März auf der Berliner Frequenz 88vier spiegeln ein Hörfunkprogramm, das in den späten Achtzigern und in der Wendezeit die bunten Seiten der geteilten Stadt verkörpert hat. Nicht nur politisch Aktive, freie Kunstschaffende, Lesben und Schwule aus Westberlin kamen hier zu Wort, auch die DDR-Opposition hatte mit dem Sendefenster für „Radio Glasnost“ hier eine Stimme. Das alles ist Rundfunkgeschichte.
Alternative zu öffentlich-rechtlichen, staatlichen und privaten Sendern
Es ist lobenswert und wichtig, dass diese nicht einfach ruhen gelassen, sondern nun aktiv aufgearbeitet wird. Doch was ist das Vermächtnis dieses kurzlebigen Senders Radio 100, der vom 1. März 1987 bis 28. Februar 1991 den Berliner Äther bereicherte? War Radio 100 eine Art taz im Radio? In meinen Augen nicht. Radio 100 kam freier daher, ungezwungener, weniger gebunden an journalistische Maßstäbe, unkonventionell und experimentell. Definitiv war Radio 100 als erstes Berliner Privatradio ein Gegenentwurf zu allen Formen des damaligen Hörfunks in Berlin, zu den trockenen öffentlich-rechtlichen und zu den gerade aufkommenden rechtskonservativen privaten Programmen am Ku’damm und den Programmen des Rundfunks der DDR aus der Nalepastraße.
Einige Stimmen, die den Sender maßgeblich geprägt hatten, hört man teilweise heute noch in öffentlich-rechtlichen Programmen. Ein Fortleben des Geistes von Radio 100 sehe ich darin aber nicht. Die Stimmen sind dieselben, die Rollen, die sie erfüllen sind andere. Professionalität ist gefragt. Ecken und Kanten, mehr oder weniger wilde Experimente auch, solange sie sich vermarkten lassen.
Errungenschaft und Verlust linker Strukturen der Stadt
Radio 100 war eine große Errungenschaft linker Medienaktivisten und nach seiner Abschaltung ein noch größerer Verlust für die Berliner Medienlandschaft. Seither setzen sich ein paar Dutzend Menschen in der Stadt für ein Freies Radio für Berlin und Brandenburg ein und beißen permanent auf Granit. Man kennt sich. Die Szene ist übersichtlich. Die baulichen Lücken Berlins sind inzwischen wieder geschlossen. Die Lücke, die Radio 100 hinterließ, konnten andere Sender und Formate nicht füllen. Nicht der ehemalige staatliche DDR-Jugendsender DT64, dessen Rolle in der Wendezeit auch nur dem Geist dieser Zeit geschuldet war. Nicht der streng hierarchisch gegliederte Offene Kanal Berlin mit seinen einstündigen Sendefenstern für jedermann, der Presse- und Meinungsfreiheit und Zugang zu Medien für alle Bürgerinnen und Bürger vorgaukeln sollte. Nicht Piratensender wie Radio P, die von Dachböden sendeten, meist ungehört blieben und im Nirvana verschwanden.
Radio über Antenne bleibt wichtig
Radio spielt noch immer eine wichtige Rolle in Berlin und Brandenburg, weniger als Livestream im Netz, fast so stark wie damals terrestrisch, also über Antenne überall empfangbar. Für die meisten Hörerinnen und Hörer bleibt es ein Service- und Begleitmedium mit vertrauter Musik, guter Laune, Wetter, Nachrichten und Verkehrsfunk. Formatiertes Radio ist nach wie vor ein attraktiver Werbemarkt. 24 Hörfunkprogramme werden derzeitig in Berlin und Brandenburg produziert und über Antenne ausgestrahlt. 15 davon sind privat betriebene Sender, der Rest sind öffentlich-rechtliche Programme. Nicht zu vergessen: das nicht werberelevante Sender-Konglomerat, das Stiefkind, das sich seit Pfingsten 2010 unter dem Label „Kreatives Radio für Berlin“ auf der Projektfrequenz 88vier der Medienanstalt Berlin-Brandenburg tummelt.
Basisdemokratie statt Ausbildungsfunk
Die dort sendenden Radioinitiativen stehen nicht zwingend in der Tradition von Radio 100, bilden aber ebenso einen sonst unsichtbaren Teil alternativer und progressiver Berliner Politik, Kunst und Kultur ab. Es ist gut, dass es diese Frequenz gibt, doch bleibt sie in meinen Augen ein Krückstock, für das, was der Berliner Medienlandschaft immer noch fehlt: mindestens ein richtiges Freies Radio im Vollprogramm mit freiem Zugang, basisdemokratischen Strukturen, Kunst- und Redefreiheit und einer Reichweite, die wirklich dazu taugt, Debatten anzustoßen, Themen auf die öffentliche Agenda zu setzen und Bürgerinnen und Bürger und marginalisierte Gruppen aktiv an politischen Prozessen zu beteiligen.
Internet reicht nicht
Klar, das Internet eröffnet doch heute genau diese Räume. Sollen sie doch da ihr freies Radio machen. Es gibt doch Mixcloud, Soundcloud und ähnliche Streaming-Dienste, auf denen man eigene Sendungen und Podcasts hochladen und einem breiten Publikum präsentieren kann. Bei einigen Formaten funktioniert das sogar richtig gut. Stimmt. Das ist wirklich eine beachtliche technische Errungenschaft der letzten Jahre. Dennoch verschwinden diese Masse der Angebote genauso in der Bedeutungslosigkeit.
Hier geht es um Bürgerrechte, um Partizipation, um die Hörbarkeit einer bunten Stadt und des Landes, das sie umgibt. Hier geht es jedoch nicht um Ausbildungsradios oder Medienkompetenzzentren, um Karrieresprungbretter für junge Journalistinnen und Journalisten. Das Reduzieren auf diese Funktion diskreditierte damals schon Radio 100 und heute auch Freie Radio-Initiativen und emanzipatorische Medienprojekte.
Niemand will den Schwarzen Peter
Die Probleme, vor denen Freie Radioinitiativen in Berlin und Brandenburg heute stehen, sind politischer, finanzieller und organisatorischer Natur. Medienpolitikerinnen und Politikern in Berlin und Brandenburg ist das Thema „Freie Radios“ entweder komplett fremd unverständlich und unwichtig oder ein Dorn im Auge. Berliner und Brandenburger Entscheider schieben sich seit 2005 gegenseitig den Schwarzen Peter“ zu, wenn es um Verantwortlichkeiten geht. Kaum an Relevanz gewinnt es im Wahlkampf der Parteien, die sich selbst eher links positionieren.
Wie könnte so eine Übernahme von Verantwortung auf beiden Seiten aussehen? Medien sind in der Bundesrepublik Ländersache. Also müssten hier Berlin und Brandenburg gemeinsame Wege beschreiten. Dazu braucht es einen Medienstaatsvertrag. Dieser regelt dann die Förderung nichtkommerzieller Lokalradios, wie Freie Radios hierzulande offiziell bezeichnet werden.
Doch für einen Vertrag muss man alle Vertragspartner an einen Tisch bekommen. Die Brandenburger Fraktionen von SPD, LINKE und Grünen haben zwar 2016 eine sogenannte Beschlussempfehlung zum nichtkommerziellen Rundfunk vorgestellt, doch seither herrscht wieder Ruhe. Die Wogen sind von ihrer Seite vorerst geglättet.
Staatsvertrag und 80.000 Euro im Jahr
Etwa 80.000 Euro pro Jahr würde ein nichtkommerzielles Lokalradio nach den Vorbildern von Radio Corax und Radio Dreyeckland kosten. Doch eine dauerhafte institutionelle Förderung ist nicht absehbar.
Natürlich sendet das Programm des Piradio-Verbunds auf der Frequenz 88vier vorerst weiter. Zu diesem Verbund zählen seit Oktober 2016 nicht nur Piradio, das aus der Lottumstraße in Berlin Prenzlauer Berg sendet, sondern auch Frrapo aus Potsdam, Radio Słubfurt aus Frankfurt an der Oder und Słubice, Radio Corax aus Halle, die Refugee-Initiative We are born free, Studio Ansage und Coloboradio aus Berlin Friedrichshain und Kreuzberg. Doch handelt es sich bei der Frequenz 88vier lediglich um einen Probebetrieb auf Zeit. Das Kunst- und Kulturradio reboot.fm, BLN.fm und radiomobil.info senden derzeitig ebenfalls im Schaltprogramm auf der 88vier, gehören aber nicht zum Piradio-Verbund. Sie entsprechen nicht den Richtlinien des Bundesverbandes Freier Radios. Das Thema ist komplex und auf den ersten Blick schwer zu durchschauen.
Prioritäten haben sich verschoben
Die organisatorischen Schwierigkeiten ähneln denen aller Initiativen, die auf ehrenamtlichem Engagement basieren. Ohne Geld als Gegenleistung ist kaum jemand dauerhaft bereit, Studiodienste zu schieben, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben oder die Senderäume zu putzen oder Websites zu pflegen. Da spiegelt sich der Geist der heutigen Zeit. Radio 100 entstand auf einer Insel, in der man mit wenigen Mitteln viel auf die Beine stellen konnte, ohne großen sozialen, finanziellen oder behördlichen Druck im Nacken. Radio 100 war neu, war hörbar und erreichte die Menschen, an die es sich richtete. Das Rudern im Meer der Möglichkeiten ist schwerer geworden. Die individuellen Prioritäten haben sich verschoben. Die Insel ist versunken. Das Bedürfnis einer Minderheit, einen Radiosender zu hören, dessen Teil sie sind, der ihr Leben und ihre Ästhetik spiegelt, ist geblieben.
Am 3. und 4. März kehrt Radio 100 für zwei Tage zurück. Im Berliner Columbia Theater am Columbiadamm 9-11 gibt es ein gläsernes Studio, eine Ausstellung, eine Party und Podiumsdiskussionen zum 30. Geburtstag des ersten alternativen Privatsenders Berlins. Auf der Frequenz 88vier MHZ kann man in Berlin am 4. März für einen Tag wieder Radio 100 hören.
Foto: www.thomas-raese.de mit freundlicher Genehmigung von Michael Neuner, radio100.de