Von Jürgen Schneider
Am U-Bahnhof Josefstädter Straße, Wien (Foto: JS)
Am Montag, 23. September, wurde bekannt, dass die Bauunternehmerin Emma Sch. aus Edlitz in Niederösterreich, die von einem Banker ermordet wurde, nicht an den Verletzungen durch einen Schlag mit einem prall mit Münzen gefüllten Sparstrumpf starb, wie es in den ›Wiener Notizen #1‹ hieß. Die Obduktion ergab, dass der Vermögensberater die alte Dame in ihrem Haus wohl erst niedergeschlagen und ihr dann mehrere Lagen transparente Plastikfolie um den Kopf gewickelt hat. Die Frau erstickte qualvoll. Das Kapital, so überlieferte es uns Karl Marx mit einem Zitat aus dem Quarterly Reviewer, stampft für 100 Prozent alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß, 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert. Marx postulierte, dass die Menschen im Kapitalismus unter Masken auftreten, die »nur die Personifikation der ökonomischen Verhältnisse sind« – Charaktermasken. Laut Adorno decke sich die »ökonomische Charaktermaske« mit dem Bewusstsein der Person »bis aufs kleinste Fältchen«.
Mit der komfortablen Westbahn ging es am 24. September von Wien nach Linz zur Lesung in der Galerie Maerz, wo ich neben den großartigen Kolleginnen Katarina Holländer, Natalie Deewan und Edith Payer sowie dem Organisator dieses literarischen Programms, Florian Neuner, meinen aus RMX1 und Anilingasse2 zusammengeschnittenen Text vorstellen durfte. Florian Neuner, der aus seinem bei der Berliner Distillery Press erschienenen Büchlein Ramsch las, das einem die Lektüre vieler Romane und das Anschauen von noch mehr Filmen erspart, hatte mich mit den folgenden Zeilen angekündigt: »›Aus den Scherben Neues zu bauen‹ war schon die Strategie von Kurt Schwitters. Die Literatur kann mit Mitteln der Montage das leisten, was früher Romane vermocht haben. Um die Gegenwart in Worte zu fassen, muss sie es direkt mit der Sprache der hegemonialen Werke aufnehmen. Anilingasse bedient sich der Cut-up-Technik und entstellt so die Mediendiskurse zur Kenntlichkeit, deren Ziel es ist, ihre Leser im Unklaren über die politischen Verhältnisse zu lassen. Dieses bereits im ›Roman‹ RMX erprobte Verfahren wird in dem ›Wien-Diarium‹ – mit Blick auch auf österreichische Medienwelten – weitergeführt.«3
Nach der Lesung kritisierte der Autor, Kurator und Herausgeber Christian Steinbacher Florian Neuner. Die von ihm propagierte Montage-Literatur führe zu nichts, wichtig sei hingegen die Phantasie. Auf meinen Hinweis, dass wir es heute global häufig mit faschistischen Phantasien zu tun haben, ging Herr Steinbacher nicht ein, meinte aber, eine Zusammenarbeit deutscher Sozialdemokraten mit der AfD sei in Ordnung, wenn sie »sachorientiert« bleibe. Die Kooperation mit den völkisch-rassistischen Kameraden von der AfD hatte die SPD von Sassnitz mit diesem Argument gerechtfertigt.4 Als diese Aussage aus Steinbacher brockte, hatten ihm Alkoholteufel längst ein Liedchen gesungen. Wenn ihm kein solches Liedchen gesungen wird, leuchtet ihm vielleicht ein, dass durch die Montage disparater Materialien das Heterogene, Brüchige zum ästhetischen Parameter und die Literatur in Frage gestellt wird, »deren Kontrollfunktion darauf beruht, den Leser/Hörer auf eine starres vorherbestimmtes System von Verstehen & Handeln zu fixieren, das seine Narkotisierung & Manipulation ermöglicht.«5 Frank-Wolf Matthies hatte 1983 in seinem in der taz erschienenen weisen Manifest konstatiert: »Es geht tatsächlich darum, das Vorhandene anders-neu zu variieren, statt einfältig nach dem ›Nichts‹ zu suchen, um dann dort, in der Hoffnung auf das ›Schöpfungserlebnis‹, herum tappen zu können. (…) Jedes Komma, jede Silbe … ist Zitat. Jeder Dialog wurde bereits von Lebenden gesprochen … gedacht. Die angeblichen Erfindungen von James Joyce – was sind sie anderes, als genial veränderte … Zitate, der Beweis eines großartigen Gedächtnisses.«6 Und in Die Gesellschaft des Spektakels, dem 1967 erschienenen situationistischen Hauptwerk aus der Feder von Guy Debord, heißt es: »Die Entwendung ist die flüssige Sprache der Anti-Ideologie.«
Wer bei Montage-Texten von Plagiaten redet, wie es Literaturkritiker gerne tun, sollte die Aussage von Emmanuelle Anizon zur Kenntnis nehmen: »Der Journalismus ist zu einer einzigen riesigen Plagiatsmaschine geworden. Das Fernsehen kopiert die Printmedien, die wiederum vom Internet abschreiben und umgekehrt, ohne dass auch nur irgendjemand wüsste, wer die eigentliche Quelle ist.«7
Linke Wienzeile, Wien: Flaschenwerbung (Foto: JS)
Die neuesten Auswürfe der Plagiatsmaschine studierte ich am Wiener Yppenplatz im Club International, eine der an einer Seite des Platzes aufgereihten gastronomischen Einrichtungen, die nur durch Werbeschilder von Kawasaki und Honda getrennt sind. Mitten im österreichischen Wahlkampf wurde der Vorwurf laut, Ex-FPÖ-Chef Strache, der sich einst mit Slogans wie »Fairness – der rot-schwarze Speck muss weg« oder »Unser Geld für unsere Leute« plakatieren ließ, habe ein Spesenkonto für private Zwecke missbraucht und gar ein feines Zwirnsakko auf Parteikosten bestellt. Die Staatsanwaltschaft prüfe, ob Straches Spesenabrechnungen und Zahlungen mit einer »goldenen Partei-Kreditkarte« den Tatbestand der Untreue erfüllen. Dabei geht es unter anderem um Kleidung für Straches Ehefrau Philippa8 und die Miete für eine 3.500 Euro teure Wohnung. Von den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung, so hieß es in der Tageszeitung Die Presse, halten ganz offensichtlich weder die ÖVP (übelste Tricksereien bei den Wahlkampfkosten) noch die FPÖ (situationselastischstes Spesenhandling) was. Mit den Spesenabrechnungen des Ehepaars Strache ist seit Montag, 23.09., auch sein langjähriger Bodyguard, Sicherheitsmann und Fahrer Oliver R., in den Fokus der Justiz gerückt: Nach einer Hausdurchsuchung und Festnahme wurde R. Mittwochmittag wieder auf freien Fuß gesetzt, er soll vor den ermittelnden Behörden ausgepackt haben. R. war bis zu seiner Festnahme Torposten bei der Eingangskontrolle am Hauptquartier der Wiener Polizei. Während ein Wiener FPÖ-Mann mit dem Kompetenz verheißenden Namen Nepp die Spesenzahlungen an Strache bestätigte, mutmaßte FPÖ-Chef Norbert Hofer: »Hinter den Vorwürfen gegen Strache steckt dasselbe kriminelle Netzwerk, das auch das Ibiza-Video produzieren hat lassen«. Das Gratisblatt Österreich 24 behauptete, die FPÖ habe Hofer aus Sicherheitsgründen einen Gartenzaun bezahlt. Das muss wohl sein, wenn einer nicht mehr alle Latten am Zaun hat.
Offen ist, ob Sicherheitsmann R. jahrelang nur kompromittierendes Material über seinen Chef Strache gesammelt oder womöglich selbst recht großzügig abgerechnet hat. Schon seit dem Publikwerden der Causa Ibiza, so Der Standard, wurde der Mann mit Anwalt M., einem der mutmaßlichen Hintermänner des Strache-Videos, in Verbindung gebracht. R. selbst erklärte dazu via Profil, es habe sich um einen beruflichen Kontakt gehandelt. Laut einem Standard-Informanten soll Anwalt M. schon 2015 Material von Straches Leibwächter Vertretern von ÖVP, SPÖ und Neos gegen Geld angeboten haben – die Gespräche hätten sich um »das Spesen-Thema« gedreht.
Laut Kronenzeitung verfüge Oliver R. offenbar über Fotos von Rechnungsbelegen und Screenshots verschiedener vertraulicher Strache-SMS. Einige verräterische Bilder, so das Blatt weiter, sollen auch eine offene Sporttasche voller Geld in einem Autokofferraum zeigen. Derartige Zuwendungen von ukrainischen oder russischen Geschäftsleuten sollen öfter geflossen sein. Der Standard berichtet hingegen von einer »Bosnien-Connection der Ibiza-Hintermänner«. Demnach habe R. 2013 die Firma RSM Aviation Trading gegründet, deren Adresse mit der einer nur wenige Meter von der Republik Srpska entfernten Tankstelle identisch sei. R. sei über diese Firma mit anderen Akteuren der Causa Ibiza verbandelt, die gerne als »a b’soffene G’schicht« abgetan wird. »Österreich ist verstaatlichte Unschuld voll charmanter Niedertracht«, hatte der Vöcklabrucker Schriftsteller Franzobel nach »einem der grausigsten Politskandale der Zweiten Republik« (Augustin) in einem Falter-Interview gesagt und Sebastian Kurz inhaltslose Machtversessenheit sowie eine Ähnlichkeit seiner Kamarilla mit Jörg Haiders Buberl-Partie bescheinigt. Im Falter riet Chefredakteur Klenk der ÖVP, sie möge sich einmal fragen, »wie sehr die extremen Ideen der Identitären die Fremdenpolitik von Sebastian Kurz beeinflusst haben«. Kurz, so hieß es in einer Standard-Beilage unter der Überschrift ›Schön geföhnt‹, er habe die Haare schön und lasse sich das makellose Big Hair was kosten. Als einen »Schausteller«, der sein gegroomtes Gesicht so andächtig vor sich her trage, dass nur ja nichts von dem ungeheuren Behagen an sich selbst sichtbar wird, das in dem Mann drinsteckt, beschreibt Kurz der Klenk-Kollege Thurnher. »Seine frühere Rede vom ›neuen Stil‹ war nur ein Schmäh und würde heute mit Gelächter quittiert. Das Fehlen jeglichen Stils ist gerade wegen der betonten Äußerlichkeiten so augenfällig. Man vergleiche die gegroomte Haarpracht etwa mit jener Boris Johnsons. Johnson besitzt mit all seiner englischen Oberklassen-Arroganz Selbstbewusstsein genug, auf Grooming zu verzichten. Im Gegenteil, sein Selbstbewusstsein ist so überentwickelt, dass er aus seiner Zauseligkeit ein Stilmerkmal macht. Seine Arroganz und sein hervorgekehrter klassischer Bildungsdünkel sind unerträglich, und er lügt, wenn er den Mund aufmacht, versichern seine Kritiker. Dennoch steht er für etwas: für die Arroganz der britischen Oberklasse.«
Unter der Überschrift ›Das Herz schlägt rechts‹ konstatiert der Falter, das Ergebnis der Wahl stehe schon fest, bevor die erste Hochrechnung komme: Links der Mitte wird es keine Mehrheit geben. Die Gründe, warum Österreich beinahe immer rechts lande, so heißt es in dem Text, finden sich in der Geschichte des Landes, im Bürgerkrieg von 1934. »Sie finden sich in der Lücke, die ein ermordetes und vertriebenes liberales, meist jüdisches Bürgertum hinterlassen hat. Sie finden sich im Einfluss der katholischen Kirche, der das Habsburgerreich überdauert hat. Die Stärke der einen lässt sich aber auch mit der Schwäche der Gegenspieler erklären. In diesem Fall mit der eklatanten Schwäche der Sozialdemokratie.« Die SPÖ bekomme keine kohärente Gegenerzählung zur Politik von ÖVP und FPÖ hin. Sie habe nach dem Rücktritt von Kreisky im Jahre 1983 nie wieder an dessen Erfolge anknüpfen können. Vielmehr habe die Partei versucht, sich neu zu erfinden und durch den Gleichschritt mit Tony Blair und Gerhard Schröder ihr Profil endgültig verwässert.
Von einem französischen Journalisten gefragt, was die Regierung Kurz II von der Regierung Kurz I unterscheiden werde, antwortete Kurz, »der Selfie-König aus Wien-Meidling« (Die Presse), er werde seinen Weg weitergehen, versprach Steuerentlastungen sowie ein Festhalten an seiner reaktionär-restriktiven Migrationspolitik. Bei einem der vielen TV-Wahlkampfduelle bekundete er, in Koalitionsfragen offen nach allen Seiten zu sein.
Die Wiener Wählerinnen und Wähler können nach der Abgabe ihrer Stimme zur Wiener Wiesn am Prater aufbrechen und dort etwa auf Gäste aus der Schweiz treffen, athletische Mitglieder einer Polizeisondereinheit. Die finden die Wiener Wiesn besser als das Münchner Oktoberfest, weil es auf Ersterer »keine Italiener und keine Chinesen« gebe. Die im Wiener Straßenbild nun häufig zu sehenden Trachtenpoldis und -sissis werden’s der Wiesn danken.
Waves Vienna rief, ein dreitägiges Popmusikfestival. Nach den ersten vier, fünf Hörerlebnissen sagte ich mir: »Ich breche die Scheiße hier jetzt ab.« Im Linzer Ars Electronica Zentrum hatte ich die hervorragende Präsentation zur Entwicklung elektronischer Musik bis hin zu von Robotern gespielten Instrumenten gesehen und gehört. Dort geht es um Zukunft, bei Waves Vienna wurde Altbekanntes aufgewärmt, wurden Retrogarde und Nostalgie zelebriert für den Musikmarkt. Das erste Liedchen, das ich hörte, trug den Titel ›Make money, it only makes you stronger‹.
In dem Werk Meine Übertreibungskunst des österreichischen Schriftstellers, Grantlers und Weltbeschimpfers Thomas Bernhard heißt es: »Die heutigen Menschen leiden, weil sie sonst nichts mehr haben, an einem krankhaften Musikkonsumatismus (…) Diesen Musikkonsumatismus wird die Industrie, die die heutigen Menschen lenkt, so weit treiben, bis sie alle Menschen zugrunde gerichtet hat; man redet heute so viel von Müll und der Chemie, die alles zugrunde richteten, aber die Musik richtet noch mehr zugrunde als der Müll und die Chemie …«
1) Jürgen Schneider, RMX. Roman. Karin Kramer Verlag, 2011.
2) ders., Anilingasse – Ein Wien-Diarium. Edition Baes, 2018.
3) Die Sammlung – Das Album. Begleitheft zur Ausstellung in der Künstlervereinigung MAERZ. Galerie Maerz, 2019.
4) SPD auf Rügen arbeitet mit AfD zusammen, in: Tagesspiegel, 19. September 2019.
5) Carl Weissner, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Cut up. Der sezierte Bildschirm der Worte. Melzer Verlag, 1969.
6) Frank-Wolf Matthies, 5. Manifest der Lust am Text, in: taz, 22. November 1983.
7) Telerama, 23. September 2011
8) Das ehemalige Model Philippa Strache, 32 Jahre jung, seit sieben Monaten FPÖ-Mitglied, wird nach den österreichischen Nationalratswahlen am 29. September 2019 die wohl telegenste neue Abgeordnete der rechten FPÖ im österreichischen Parlament sein. »Die überzeugte Vegetarierin schuf für sich die Rolle der blauen Tierschutzbeauftragten. Herzige Tierbilder, Fotos von Kuscheltieren und Babyfüßchen des gemeinsamen Sohnes prägen dann auch ihren sehr professionell aufgezogenen Instagram-Account. Dass Philippa Strache in der FPÖ gerne mehr zu sagen hätte, war schon vor Ibiza ein offenes Geheimnis. Heinz-Christian Strache holte sie 2015 als Social-Media–Beauftragte zu sich [bei einem Monatssalär von 10.000 Euro, wie es aus FPÖ-Kreisen hieß]. Damit war sie bei allen Medien- und Strategieterminen legitimerweise an seiner Seite, was seine Berater mitunter stöhnen ließ. ›Am Ende hat immer sie das letzte Wort‹, erzählt einer.« (Falter 39/19)
Wiener Notizen #1
Wiener Notizen #2
Wiener Notizen #3
Wiener Notizen #4
Wiener Notizen #5
Wiener Notizen #6
Wiener Notizen #7
Wiener Notizen #8