Von Jürgen Schneider
Der Free-Jazz-Saxofonist Peter Brötzmann muss nicht groß vorgestellt werden. Der Mann aus Wuppertal gilt als derjenige, der am radikalsten mit allen Traditionen gebrochen hat – nicht nur des Jazz, sondern des Musizierens überhaupt. Im März wurde er 80 Jahre alt. Bei der gerade zu Ende gegangenen Ruhrtriennale spielte er in der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord mit dem Schlagzeuger und Komponisten Michael Wertmüller und dem Bassisten Marino Pliakas auf – das Trio wurde unter dem Namen Full Blast bekannt. Brötzmann »brötzte« in gewohnt dynamischer Weise los und entlockte seinem Saxofon wilde Tonfolgen. Seine Mitspieler kamen kaum mit, Wertmüller verdrosch sein Schlagzeug, während Pliakas sich auf Bassläufe kaprizierte, die an die Bass- und Gitarrenläufe der japanischen Frauenband Nisennenmondai erinnerten.
Bählamms Fest ist ein Musiktheater in dreizehn Bildern. Die vielgestaltige Komposition stammt von der österreichischen Komponistin Olga Neuwirth, das Libretto verfasste Elfriede Jelinek nach dem surreal ausufernden und auf Erfahrungen während des Faschismus zurückgehenden Text The Baa-Lamb’s Holiday von Leonora Carrington. In der Bochumer Jahrhunderthalle dirigierte Sylvain Cambreling das Ensemble Modern, die Regie hatten Ben Kidd und Bush Moukarzel aus Dublin, die unter dem Namen Dead Centre agieren und den »Fiebertraum in Schüben« (WAZ) großartig in Szene zu setzen wussten. Neuwirths Musik, so sagen die Iren zu Recht, trage eine inhärente Fluidität in Carringtons surrealen Stoff und übersteige das, was in Worten fassbar sei. Das Szenario: Ein kleines Landhaus in einer Heidelandschaft. Der Mann ein Säufer, die Schwiegermutter eine lüsterne Tyrannin, der Schwager ein Wolfsmensch. Draußen weiden Schafe, und Theodora, die junge Ehefrau hockt im Kinderzimmer und hofft auf Schnee. Gefangen im repressiven Milieu der Familie und einem männlichen Terror ausgesetzt, träumt sie vom Ausbruch. Tag für Tag bringt der Schäfer einen neuen Lammkadaver ins Haus. Tiere, Figuren, Objekte und Landschaft lösen sich auf, verändern sich, morphen sich in Wesen derselben oder anderer Art. »Darin«, so die Regisseure, »steckt eine Kritik an der Unterdrückung freier Identitätsentfaltung und ein Appell, Vielfalt und Mehrdeutigkeit zu akzeptieren und zu respektieren.«
Ebenfalls in der Jahrhunderthalle wurde ein Stück nach der Geschichte ›Die Toten‹ aus Dubliner von James Joyce unter der Regie von Barbara Frey gegeben. Der Inhalt: An einem Festessen der Schwestern Morkan mit Tanz und Gesang nimmt auch der Schriftsteller Gabriel Conroy mit seiner Frau Gretta teil. Er fühlt sich in seiner Identität angegriffen und empfindet angesichts der Liebe seiner Frau zu ihrem verstorbenen Jugendfreund Michael Furey – Joyces literarischer Verarbeitung der Enthüllung, dass seine Lebensgefährtin Nora Barnacle in Galway einen jungen Mann namens Michael Bodkin geliebt hatte – absurde Eifersucht auf die Vergangenheit. Gegen Ende des Abends tastet er sich zu einem undeutlich erahnten Verständnis von Freiheit, Leidenschaft und »aufrührerischer« Vitalität vor, die er sich von der wilden Landschaft jenseits des majestätischen Flusses Shannon erhofft, der Irland geographisch-historisch teilt. Barbara Frey reicherte den ›Toten‹-Text mit Passagen aus Joyces Finnegans Wake an und ließ die Schauspielerinnen und Schauspieler den Text pointiert sprechen, also das tun, worauf es im Theater recht eigentlich ankommt. Ihre Inszenierung hob sich damit angenehm ab von der zeitgenössischen Praxis deutscher Theater, bei der sich gesellschaftskritisch wähnende Regisseure mit Schauspielergeschrei und allerlei Gehampel, mit Trash und verwackelten Handkameraaufnahmen aufwarten.
Vor einigen Jahren veröffentlichten der Schriftsteller Rainald Goetz und der Maler Albert Oehlen das Künstlerbuch D•I•E . Es enthält 14 Texte von Goetz mit Wortfolgen à la »bürste / zeitung / lorbeer / schinken«, und 13 Kohlezeichnungen von Oehlen. Michael Wertmüller hat den Goetz-Oehlen-Dialog aufgegriffen und zu einer Oper erweitert. Diese wurde in der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord unter der Regie von Anika Rutkofsky und der musikalischen Leitung von Titus Engel aufgeführt. Engel hatte ein Streichquartett, eine Jazz-Combo, eine Garage-Punk-Band, eine Rapperin und drei Opernsängerinnen zu koordinieren. Das Publikum saß auf Drehstühlen in der Raummitte, um sich dem jeweiligen Handlungsort zuwenden zu können. Der Pop-Philosoph Diedrich Diedrichsen verstieg sich in seinem im Programmheft der Ruhrtriennale abgedruckten Text zu der Aussage, die Überbietung durch Erhöhung der zur Bestimmung freigegebenen Parameter der Arbeit führe gerade aus der Linearität, der sie vorderhand zu gehorchen scheint, hinaus. Und Johanna Danhauser versprach im Programmfolder zur Aufführung, im Verlauf des Abends werde die Kraftzentrale zum utopischen Nachtclub, wo der Abfuck schillere; die projizierten Zeichnungen von Oehlen würden die Gäste in einen Rausch versetzen und die Sinne in Besitz nehmen. Diedrichsen und Danhauser schreiben offenbar über ein anderes als das von mir erlebte Werk. Eine Linearität wird nicht unterbrochen, nur weil die musikalische Darbietung an verschiedenen Punkten eines Raumes stattfindet. Ein Rausch stellte sich bei D•I•E ebenfalls nicht ein. Au contraire. Die Projektion der Oehlen-Zeichnungen langweilte schon nach fünf Minuten, und die Musik bediente vorrangig alte Hörgewohnheiten. Lediglich die Garage-Punk-Band ließ es erfrischend krachen, so dass sich die Hoffnung einstellte, die Garagenpunks möchten nicht in dieses Aufführungskorsett eingebunden sein und subito wieder ihre Instrumente malträtieren. Dann hätten sich die letzten Zeilen von Goetz goutieren lassen: »wünschen sie / sonst noch was? // einen espresso bitte / bitte danke gern.«
Grosse Stimmung I-X heißt die Komposition von Edu Haubensack, die in den Jahren 1989 bis 2006 entstand. Der komplette Zyklus kam im Salzlager des Zollvereins Essen zur Aufführung. Bravourös an den zehn unterschiedlich gestimmten Klavieren: Simone Keller, Tomas Bächli und Stefan Wirth. Haubensack hat die Möglichkeiten der Skordatur (scordatura: italienisch für Verstimmung) seit 1989 intensiv erforscht. Er hebt mit seinen »Stimmungen« die Starrheit der 88 unveränderlich angeordneten Tasten auf, aus dem wohltemperierten wird das neugestimmte bzw. wohlverstimmte Klavier. Es entstehen Assoziationen zur elektronischen Musik. Der Klavierzyklus ist auch dann ein eindringliches Hörerlebnis, wenn die Zuhörerinnen und Zuhörer (wie der Autor dieser Zeilen) mit den musiktheoretischen Grundlagen nicht vertraut sind, auf denen Haubensacks Komposition basiert.