Editorial
(Aus telegraph #141/142 2022/2023. telegraph bestellen?)
Wie einer, der ihn schon im Schlafe ritt
Weiß ich den Weg vom Schicksal auserkürt
Den schmalen Weg, der in den Abgrund führt:
Ich finde ihn im Schlafe. Kommt ihr mit?
(Bertolt Brecht: Kriegsfibel, 1955.)
„Der Krieg beginnt nicht mit dem ersten Schuß“ – diese Erkenntnis ist nicht neu, aber vielleicht muß sie individuell immer wieder neu erlangt werden, weil die Vorbereitung eines Krieges durch die Machteliten und ihre Medien immer wieder neu verschleiert und verleugnet werden. Konrad Wolf (1925 – 1982), Filmemacher (u. a.: Sterne, Der geteilte Himmel, Die Ermittlung, Ich war Neunzehn, Solo Sunny), hielt im August 1981 einen Vortrag in der Akademie der Künste, in dem er schilderte, wie er zu dieser Erkenntnis gelangte. In Vorbereitung eines mehrteiligen Dokumentarfilmes über die ersten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts studierte er und seine Kollegen umfangreiches Deutsche-Wochenschau-Material. Für ihn entstand aus diesem Material „zwangsläufig die eindeutige Feststellung: Der Krieg hat 1935 begonnen. … Alle entscheidenden Gesetze, die notwendig waren, um den Krieg sozusagen legal zu machen, unter Einspannung des ganzen Volkes, der Staatsmaschinerie, der Industrie, wurden in diesem Jahr geschaffen: die Gründung der Wehrmacht, das Flottenabkommen mit England, … der Erlaß des Luftschutzgesetzes, das Gesetz über die Umstellung der Industrie auf Kriegsproduktion, die Nürnberger Gesetze und so weiter und so fort. Das alles geschah nicht verborgen, das geschah in aller Öffentlichkeit. Die Wochenschauen weisen es aus. … Die Weichen für die Kriege werden vor dem ersten Schuß gestellt. … Als ich jeden Tag diese Wochenschauen sah und besonders, je näher ich an die Kriegszeit kam oder an die aus dem Krieg unmittelbar, muß ich sagen, diese Wochenschauen sind mit so einem professionellen Perfektionismus gemacht, perfekt in der technischen Vollendung, von der Kamera, in der Montage, in dem Einsatz der Sprache, der Musik; sie haben eine starke Suggestivwirkung auf breite Massen. Und da ich das jetzt tagtäglich sehe, habe ich mir die Frage gestellt: Wenn du in Deutschland gelebt hättest, wie wäre es dir ergangen, hättest du dich dieser Wirkung entziehen können? Ich muß ehrlich gestehen, ich glaube, zumindest nicht ganz. Wenn das über Jahre geschieht, … auf die Massen so zu wirken, dann beginne ich allmählich zu verstehen, was eigentlich hier vorgegangen ist, daß man sich dem nur noch schwer entgegenstellen konnte. Das ist die … sehr aktuelle Problematik auch heute, im Zeitalter der Massenmedien, des Fernsehens, wo ja diese … klägliche Wochenschau von damals, einmal in der Woche, im Grunde genommen eine Winzigkeit ist, lächerlich im Vergleich zu dem, was heute tagtäglich über den Bildschirm auf die Menschen geht. Die Manipulationsfähigkeit und -möglichkeit tausendfach gesteigert, erfordert, … daß von klein auf in den Menschen heute die Fähigkeit gefördert, in diesem Fall würde ich sogar sagen, eingepaukt wird, sich gegen Manipulation zur Wehr zu setzen durch Wissen, Wissen und nochmals Wissen …“
Anfang Januar 2023 tauchte im Morgenmagazin des staatlichen Radiosenders Deutschlandfunk kurz die Meldung auf, daß die Zahl der Kriegsdienstverweigerer in Deutschland von 2021 zu 2022 von 201 auf 951 gestiegen sei (wir konnten nachlesen: darunter bei „Reservisten“ von 10 auf 190, bei „Ungedienten“ von 23 auf 484). Sicher, in Deutschland gibt es z. Zt. keine Wehrpflicht und die Zahlen liegen nur im dreistelligen Bereich, dennoch ist die Tendenz ein Hinweis auf steigendes Bewußtsein gegenüber der Kriegspolitik zahlreicher Politiker und Politikerinnen fast aller Parteien. Die Zahlen sind sicher noch enorm steigerungsfähig. Wir erinnern uns an den Refrain eines Songs der Kölner Rockband um Wolf Maahn von Anfang der 1980er Jahre – die Zeit des NATO-Doppelbeschlusses brachte selbst Mittelklasse in verschiedenste Aktivitäten der Friedensbewegung: „Wir sind Deserteure – kein Land auf das ich schwöre!“ Im Zusammenhang mit der Desertion als antimilitaristischer Aktion erinnern wir uns auch an Ronald (Ronni) Fritzsch, der vor kurzer Zeit, am 10. November 2022, gestorben ist, wie er zusammen mit Ralf (Bär) Reinders (beide ehemalige Mitglieder der Bewegung 2. Juni), nach über 13 Jahren Knast, 1991 auf einer Veranstaltung in der Umweltbibliothek Berlin in der Schliemannstraße vom Unterstützungsnetzwerk für desertierte US-Soldaten berichtete. US-Soldaten, die es ablehnten für die US-Regierung und die Interessen der Öl-Konzerne in den Krieg zu ziehen, und evtl. zu sterben (Zweiter Golfkrieg, 1990/1991). In diesem Krieg konnten nicht nur die neuesten Waffensysteme in ihrer Effizienz des Zerstörens und Tötens erprobt werden, auch der Medienkrieg wurde auf eine qualitativ neue Stufe gehoben. Nur ausgewählte Journalisten, sogenannte „Embedded Journalists“, durften von vor Ort berichten, so hatte man die Bilder und Nachrichtensendungen unter Kontrolle und konnte die Propaganda für den Krieg ungestörter gestalten (neu war das Ausmaß des Einbezugs von PR-Firmen und die Liveberichterstattung durch den US-Nachrichtensender CNN). Deutschland war damals noch zurückhaltend in seiner militärischen Außenpolitik – eine Rücksichtnahme auf die international immer noch verbreitete Sorge, wohin sich Deutschland nach der „Deutschen Einheit“ entwickeln würde – Deutschland beteiligte sich nur mit einigen Hundert Soldaten an Absicherungsaufgaben, die deutsche Bevölkerung übernahm aber mit ihrer gewählten Regierung fast 17 Milliarden DM etwa ein Sechstel bis ein Fünftel der gesamten Kriegskosten. Schon den Ersten Golfkrieg (Irak/Iran, 1980 – 1988) hatten Waffenlieferungen aus aller Welt möglich gemacht und über acht Jahre am Laufen gehalten. Die Wirtschaft der „Geberländer“ (USA und Sowjetunion belieferten übrigens beide Seiten, Deutschland den Irak) verdiente sehr gut, konnte ihre Militärtechnik „ausprobieren“, bis zu einer Million Menschen, Iraker und Iraner, verloren dafür ihr Leben. Die Grenzen der beiden Länder blieben am Ende des Krieges unverändert. Eine zerstörte Infrastruktur mit einem wirtschaftlichen Schaden von insgesamt 1.100 Milliarden US-Dollar auf beiden Seiten war das Ergebnis.
Woher wissen wir, was wir wissen? Die Herrschenden versuchen stets die Verfügbarkeit des Wissens gegenüber den Beherrschten zu kontrollieren und einzuschränken. Das ist eine Erkenntnis, die nicht nur aus der Literatur stammt, sondern die Ansammlung der Erfahrungen von Jahrzehnten in der Rezeption und Analyse der uns präsentierten und umgebenden Medienwelt (Zeitungen, Radio, TV, Internet).
Eckart Spoo (1936 – 2016) war mit seinem Redaktionsbüro (Zeitschrift Ossietzky) über viele Jahre unser Nachbar hier im Hause. Anfang der 70er Jahre wurde er seiner kritischen Reportagen wegen vom Herausgeber der Frankfurter Rundschau gefeuert und gewann anschließend seinen Gerichtsprozeß. In vielen medienkritischen Büchern ist er mit Beiträgen vertreten. Im Buch Anspruch auf Wahrheit, welches sich mit der Frage beschäftigt, wie wir durch Presse, Funk und Fernsehen informiert werden, schrieb er 1981, das Ende des Krieges der USA gegen Vietnam lag sechs Jahre zurück: „Die anderen sind immer die Schuldigen. Weil das von vornherein feststeht, braucht sich eine konformistische Presse gar nicht erst mit ihnen befassen. Im Vietnamkrieg bezeichnete man die andere Seite mit einem amerikanischen Schimpfwort als ‚Vietcong‘, man verbreitete die Greuelmärchen der amerikanischen Nachrichtenagenturen AP und UPI – das mußte genügen. Ein Jahr nach Kriegsende, nachdem sich die Vietnamesen von ihren amerikanischen Befreiern befreit hatten, wurden in einer außergewöhnlich selbstkritischen Fernsehsendung die Kriegsberichterstatter von ‚Tagesschau‘ und ‚heute‘ befragt, warum sie in ihren Berichten immer nur die amerikanische Seite hätten zu Wort kommen lassen und nie die andere Seite. Sie taten ganz erstaunt und stammelten dumme Ausreden. Haben die bundesdeutschen Massenmedien, haben die in den Medien Tätigen, haben wir Journalisten inzwischen aus alledem gelernt? Haben wir uns jetzt endlich angewöhnt, die simple Regel zu beachten, die uns gebietet, bei der Berichterstattung über Konflikte stets beide Seiten zu hören?“ Spoo wußte natürlich, daß es so weiterging und benennt einige Beispiele. „Wie aber kommt in den Redaktionen der gewöhnlichen bundesdeutschen Zeitungen … die tagtägliche Wahrheitsverfälschung zustande?“ fragte Spoo 1981 und gibt auch einige Erklärungsversuche.
Inzwischen sind über 40 Jahre vergangen, die Methoden haben an Vielfalt gewonnen, sie haben sich verfeinert und sind subtiler geworden. Wer hat vor 40 Jahren von Framing, von Agenda-Setting, von Narrativen und Labeling, von Primacy-Effect und Nudging gesprochen? In den vergangenen Jahren finden sich immer wieder Informationen in den deutschen „öffentlich-rechtlich“, also staatlichen Medien, über Propaganda, über den Zusammenhang von Sprache und Politik, die Veränderung von Denken und Sprechen in Kriegszeiten. Kommunikations- und Sprachwissenschaftlerinnen werden interviewt und die interessierten Journalistinnen bemühen sich, die Anwendung von Propaganda-Methoden in anderen Ländern mit Hilfe der Wissenschaft aufzuklären (z. Zt. vor allem die russische Kriegspropaganda und Desinformation). Sie kommen gar nicht auf die Idee, nach dem Einsatz derselben Methoden in der eigenen Arbeit, der Arbeit ihrer Redaktionen, bei der politischen Beeinflussung und Manipulation im eigenen Land zu fragen – eine unbewußte Selbstzensur bzw. ein bewußtes Verschweigen. Leider finden sich in einer Reihe von Beiträgen und Stellungnahmen linker Gruppierungen und Einzelpersonen, die ab Februar 2022, nach dem Überfall Rußlands auf die Ukraine, zahlreich erschienen sind, auch diese Vereinfachungen, Verdrehungen, Personalisierung und Dämonisierung usw. usf. Häufig bleibt die historische Analyse der Vorgeschichte des Krieges rudimentär, bzw. werden Einflußfaktoren bagatellisiert, verleugnet oder ganz weggelassen. Als Gegner erscheinen weniger NATO, Rußlands Führung oder die der Ukraine, sondern eher eine andere linke Gruppe mit ihren Ansichten, die denunziert und diffamiert werden. Das Internet bietet dafür eine großartige Gelegenheit. Daß es einen Diskurs geben muß, ist selbstverständlich, Beschimpfung und Abwertung laden dazu nicht ein, sondern sollen ihn verhindern.
Im Mai 2009 traf Sabine Adler vom Deutschlandfunk in Moskau Michail Gorbatschow zum Gespräch. Es beginnt so:
Sabine Adler: Michail Sergejewitsch, in Deutschland werden Sie bis heute sehr geschätzt, im Unterschied zu Russland. Ihre Verdienste für die Wiedervereinigung sind unvergessen, die Deutschen sind Ihnen bis heute dankbar dafür. Würden Sie sagen, dass sich Deutschland umgekehrt dafür ebenfalls erkenntlich gezeigt hat?
Michail Gorbatschow: Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Europa beginnt, Russland zu verstehen. Das verhindern übrigens Sie und Ihre Kollegen. Die deutsche Presse ist die bösartigste überhaupt.
Im Januar 2017 wundert sich die Redaktion des Deutschlandfunks (DLF) über das auffällig häufige Aufrufen des Interviews knapp acht Jahre später und bemüht sich unter dem Titel „Plötzliche Neubelebung“ um den „Versuch einer Erklärung“. Der DLF erklärt, worum es in dem Gespräch geht, wie die Nutzer auf das acht Jahre alte Gespräch kommen, wer das Gespräch weiterverbreitet hat. Der DLF schrieb: „Selbstkritisch betrachtet, lässt sich rückblickend über unsere onlineredaktionelle Auswahl der nunmehr acht Jahre alten Schlagzeile diskutieren. Im Interview waren sicher auch andere Aspekte wichtig – dazu unten mehr.“ Das war schon alles Selbstkritische, die Auswahl der Schlagzeile, sonst können sie mit sich zufrieden sein. Unter dem Punkt „Die unbeachteten Aspekte des Interviews“ erwähnt der DLF die zahlreichen Inhalte des Interviews, auf die in den Kommentaren, die sich unter den jeweiligen Posts befinden, nicht eingegangen wird. Der DLF schreibt: „Am Ende bleibt: Wir haben vor acht Jahren ein starkes Zitat aus dem Interview gewählt, das in der heutigen Diskussion ganz offensichtlich einen Nerv getroffen hat.“ Der DLF beklagt, worauf in den Kommentaren nicht eingegangen wird. Weder Frau Adler im Jahr 2009 geht auf Gorbatschows Vorwurf der Bösartigkeit der deutschen Medien ein, noch die DLF-Kommentatoren im Jahre 2017, acht Jahre später – genug Zeit war ja zum Drüber-Nachdenken.
Zurück ins Kriegsgebiet. Bemerkenswert ist, daß ein vorgebliches Ziel der russischen Führung – die Entnazifizierung der Ukraine – zumindest in den deutschen Medien erfolgreich war. Während die deutschen Medien in den Vorjahren immer mal wieder, eher von ihren Zuschauerinnen oder Leserinnen getrieben, über Nationalisten und Faschisten, ihre Parteien und Organisationen, Nazi- und SS-Symbolik in den zunächst Freiwilligen- dann in die Ukrainische Armee bzw. die Nationalgarde integrierten Bataillonen berichteten, gibt es jetzt nur noch Kämpfer für „die westlichen Werte von Freiheit und Demokratie“. Wie wenig Freiheit und Demokratie in der Ukraine vor dem Krieg war, können wir immer noch im Internet nachlesen, da die analytischen Texte der Süddeutschen Zeitung, FAZ etc., also den bürgerlichen „Qualitätsmedien“, denen ja nicht Fake-News und Desinformation unterstellt werden, noch zugänglich sind. Während sie im Jahr 2021 noch einen korrupten Selenskyj beschrieben, von dem die Hälfte der Ukrainerinnen nur zwei Jahre nach seiner Wahl, sich seinen Rücktritt wünschten und nur noch 20 Prozent ihn wiederwählen würden, weil er die Macht der Oligarchen nicht antastete, sondern Aktivität nur vortäuschte (der Schauspieler), wollen genau dieselben deutschen Medien ein Jahr später nichts mehr von ihren damaligen Einschätzungen wissen. Nicht nur das, sie berichten jeden Tag aufs Neue von seiner nächtlichen Ansprache und basteln an seiner und anderen Heldengeschichten.
In der FAZ konnten wir kurz vor Jahresende von der Forderung nach einem Umbau zur Wehrwirtschaft lesen. Ist „Wehrwirtschaft“ ein Synonym für „Kriegswirtschaft“? Bei Wikipedia gibt es den Begriff „Wehrwirtschaft“ noch nicht und wir werden automatisch zur „Kriegswirtschaft“ umgeleitet. Zeitgleich wurde ein sogenannter „Militärexperte“ einige Tage durch die Medien gereicht, wie das so üblich ist. Er prognostizierte: „Falls Ukraine den Krieg verliert: Militärexperte warnt vor russischem Einmarsch in Deutschland.“ Jetzt bekommen wir richtig Angst und fragen uns, ist es mit der Umstellung auf Kriegswirtschaft nicht schon zu spät? Und in Deutschland braucht doch alles so ewig lange. Wenn also Rußland in Deutschland einmarschiert, sollten wir dann in die Bundeswehr eintreten, um gemeinsam mit deutschen Soldaten, Militaristen und Neonazis für Deutschlands „eigene Unabhängigkeit“ zu kämpfen, „sowie für demokratische und soziale Rechte“? Der Militärexperte wird überall zitiert: „Das Problem ist, wir haben es in Europa weitestgehend mit Hosenscheißern in politischen Führungsriegen zu tun, die sich aufgrund der nuklearen Disparität nicht trauen, über die geringste Hürde alleine zu springen. Da muss der Amerikaner hergehen und sie an die Hand nehmen und eskortieren, so wie das bei kleinen Kindern der Fall ist.“ Zum Glück ist dieser „Militärexperte“ kein Mann der politischen Führungs- und Entscheidungsriege. Besser den Mut zur Feigheit, als alle ein Schatten im Sand.
Eure Redaktion telegraph
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