Kultur, Osten

Der eigenen Spur folgend

Zu dem Gedichtband „Abblende“, 2022, von Michael Mäde-Murray

Etwas treibt ihn an. Dies ist nun der vierte Gedichtband, den Michael Mäde, seit seiner Heirat Michael Mäde-Murray, innerhalb von zwei Jahren vorlegt.
Ein schmaler Band, mit 38 Texten. Mäde-Murray ist sparsamer geworden mit Worten, auch mit Adjektiven, die Schauplätze sind dramatisch, die Landschaften surreal, zuweilen magisch. Der Sprachduktus entschlossen und mancher Text so klar, dass es schmerzt.
„Der Tisch muss sich leeren“ heißt es im letzten Text des Bandes. Das ist seine neue Grundhaltung. Tabula rasa.
Das fängt mit dem knappen Buchtitel an, einem Begriff aus der Filmwelt: Abblende. Sie bezeichnet den Übergang vom Licht ins Dunkel, oft das Ende einer Geschichte, in jedem Fall eine Zäsur. Eine filmische Abblende ist ein Prozess, sie passiert allmählich, anders als der abrupte Cut. Die Symbolik erschließt sich – die Krankheit des Dichters geht ins fünfte Jahr. Das innere Drama, das damit einhergeht, lichtet Mäde-Murray in diesen Texten ab.

Film findet sich nicht nur im Titel, vielmehr bildet er ein eigenes durchgehendes Motiv. Da heißt ein Gedicht filmtechnisch Letzte Klappe, und filmreif sind auch so manche Szenen, die der Dichter in seiner besonderen Lage hervorbringt: „Schneestill atmet die Stadt/Im gelben Licht der Laternen/geht er, der eigenen Spur/folgend bis ans Ende/Er ist wohlgemut/dass der Wagen wartet.“ („Letzte Übung“).
Natürlich sind auch Engel wieder da, die unbedingt und schon lange in Mäde-Murrays dichterische Welt gehören. Diesmal findet ein regelrechtes Engel-Meeting statt, die seinen begegnen denen von Ingeborg Bachmann, Heiner Müller, Rainer Maria Rilke. Neu fand er sie bei den Skulpturen Alexander Polzins, von denen manche abgebildet sind, und widmet seinen Anlehnungen an sie drei ganze Kapitel.
Des Dichters persönlicher Schutzengel hat inzwischen gelitten, wie auch nicht. Er vermutet ihn nunmehr unter den „Versehrten“. Leere Strände im Morgengrauen, wo Engel „verdorrte Flügel“ hinterlassen haben und „Schakale…vergebens nach Labendem suchen.“ Es friert und dämmert beim Lesen und schauert und schmerzt zugleich.
Auch ist ein geheimnisvoller Wagen unterwegs in den Texten, ein Derwisch tobt sich aus, und „Lämmerunwesen“ erscheinen am Morgen. Mäde-Murray, der gelernte Filmdramaturg, schreibt zunehmend visuell, bricht Grenzen auf zwischen Realität und Traum, Krankenstand und Phantasie, Leben und Tod.

Das zweite Motiv des Bandes ist Krieg.
Immer schon beschäftigte Krieg den Schreibenden intensiv und war ihm der klarste, deutlichste Ausdruck von Machtverhältnissen in der ganzen Welt. Dem Thema widmet er sogar eigens Bände, einen noch nach „Abblende“ („Die Nacht hat keinen Ausgang mehr – Texte gegen den Krieg 1999 – 2022“). Es verwundert also nicht, dass der Ukraine-Krieg hier mit dabei ist. „Nun brennt Europa wieder/wie im Frühling 1999/als die lupenreinen Demokraten/Serbien über 70 Tage in Schutt und Asche legten“ erinnert sich der Dichter in „Der Morgen ist kein Alptraum“. Zentral ist für Mäde-Murray dabei stets der deutsche Umgang damit: Demagogie von Politik und der „Journaille“, wie er sie nennt, im eigenen Land und die hyperaktive Beteiligung draußen mit Armeeeinsätzen und Panzerlieferungen. „Der deutsche Kanzler/ findet über Nacht 100 Milliarden/ für den kommenden großen Krieg.“ und: „Das Kriegsbein schwingt gen Osten“, heißt es im Gedicht „Zapfenstreich“ und weist im Untertext auf die historische Wiederholung. Mäde-Murray beklagt auch die „Feigheit der Genossen“ („Nach der blauen Stunde“) und die öffentliche Performance eines ganz bestimmten: „Gruslig: ein Gysi als Makler in/eigener Sache mit zitterndem Timbre/seine Irrtümer beklagend“.
Zwar ist Mäde-Murray in heller Empörung über jeglichen Krieg gewesen, aber auch da ist noch Platz für beißende Ironie – „Zu laut und dumpf der deutsche Aufrüstungschor/…die Krankheit muss ich preisen: Ich höre nunmehr schwer.“ („Der Stand der Dinge“)

Das dritte Motiv ist – immer wieder und unvergessen – die verlorene Heimat DDR.
Er musste sich nicht bewegen“: „Aus dem Leben gebracht/verließ die Heimat ihn/schon vor dreißig Jahren“ so beschreibt er seine unfreiwillige Migration aus dem Sozialismus in den Kapitalismus, in die Herrschaft vom „Terror der Ökonomie“. Die gescheiterte Revolution in der DDR wird in dem Gedicht zum „Bauschadensbericht“: „Die Fehlersuche in der Statik/zeigt ernste Mängel.“
Eine besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang das Gedicht „Resignation“. „Das Beil von Wandsbek/wartet wieder in den Asservaten/Das Missverständnis ruht/und hat die Zeit der Welt/Der Flügelschlag des Neuen/dauert keine Woche/die Kronenwächter schlafen eine weitere Epoche.“
Die erste Zeile lässt schon aufhorchen: sie meint einen Film (apropos Film!), der zu den besten DDR-Produktionen gehörte (nach einem Exilroman von Arnold Zweig) und seinerzeit 1951 Aufführverbot bekam. Ein Metzger wird aus Geldnot zum Henker von vier verurteilten Kommunisten und bringt damit Unglück über seine Frau und sich selbst. Als falsches „Mitleid“ mit einem Täter verkannt, offenbare es das DDR-Defizit der Aufarbeitung „der Rolle des ‚kleinen Mannes‘ während der Herrschaft des deutschen Faschismus“, schreibt Mäde-Murray am Ende des Buches in den Hinweisen. Dieses „Missverständnis“ gehört zu den größten in der Geschichtsschreibung der DDR und war möglicherweise einer der Schlüssel zu ihrem Scheitern. Eine Zeit zu verstehen aus ihren Quellen heraus – dazu gehört für Mäde-Murray auch der frühe historische Roman „Die Kronenwächter“. Nun schlafen diese „Beweisstücke“ erst mal wieder und ist auch diese Chance verpasst. Die Wucht dieses Gedichts entfaltet sich erst so richtig, wenn man die Hintergründe kennt und lädt auf jeden Fall dazu ein, sich mit dem Thema weiter zu beschäftigen.

Das vierte und stärkste Motiv ist der Dichter selbst.
Wie es ihm körperlich und psychisch geht, die Attacken der Krankheit, die Kämpfe dagegen, die kurzen Pausen in einem veränderten Alltag, das rückt naturgemäß in die scharfe Aufmerksamkeit des Schreibenden. Dafür findet er sehr verschiedene Sprachbilder, entsprechend auch der Gemütslage, entsprechend auch dem aktuellen Befund. Es gibt, gut eingefangen, Stimmungsschwankungen. Mal ist die „Zeit die harte Währung aller Todgeweihten“ und frohlockt er über jeden neuen Tag und löst „das nächste Kalenderblatt wie eine Bahnsteigkarte“. An anderer Stelle schlägt es ins Gegenteil um und wird der neue Tag zum „Erzfeind“. Und Zorn kommt auf: „Man hat mich abgekippt am Ende. In schwarzem Schlamm, wühle ich, auf halbem Weg zu Dantes Hölle.“

Dann wieder wird es ihm „leichter nun mit Blick auf endliche Weiten“. Und in dem Text „Annäherung“, einem der bewegendsten des Bandes, wird der Tod für „uns Lebende“ auch zum Ausweg, „als Hoffnung/ als Ahnung wenigstens/wenn es ausgeschritten ist.“

Mit dabei noch ein „Rest Humor“, auch wenn immer öfter ein „Quäntchen, ein Millimeter“ davon fehlt, wie es in „Fehl Tage“ heißt.

Und, obwohl seine eigene Verfassung der wichtigste Gegenstand dieses Bandes ist, sagt der Autor selten „Ich“. Von 38 Texten hat er nur eine Handvoll in der ersten Person Singular verfasst, in den meisten agiert ein „Er“. Ein Mittel der Selbstdistanz und auch, um es mit der Formel des französischen Dichters Arthur Rimbaud von 1871 zu sagen („Je est un autre“  = „Ich ist ein Anderer“) der Selbst-Entgrenzung, der Möglichkeit einer neuen Perspektive auf sich selbst. Oder vielleicht einfach, um es besser aushalten zu können.

Michael Mäde-Murray unternimmt in „Abblende“ eine Reise durch Krankheit, Konflikte, Kriegsnachrichten und eine radikal veränderte Wahrnehmung von Zeit. Er beschreibt das Grenzland, in dem er sich befindet und macht das scheinbar nur für sich. („Ein vollkommener Stillstand/der nur mich betrifft.“). Aber er macht es auch für uns.

Und schenkt uns gegen Ende des Bandes noch diese Filmszene.

Er wird sich aufmachen müssen,
an einem trüben Abend, sorgfältig rasiert und gekleidet.
Er wird sich beobachtet fühlen und warten.
Dann wird er den Stock heben.
Eine letzte herrische Bewegung.
Bis der Wagen endlich hält.

Angelika Nguyen

„Abblende“, 2022
Books on Demand (Verlag)
Norderstedt