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Die „Bezpieka“ stirbt nie


Foto: Wikipedia, CC BY-SA 2.0, M. Oliva Soto, Narodowy Instytut Audiowizualny

Aus Anlaß des Todes von Zygmunt Bauman veröffentlichen wir an dieser Stelle ein Interview mit ihm aus dem telegraph 120/121 (2010)

Ein Gespräch mit dem polnischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman

Roman Kubicki: Ständig blenden wir uns mit der Vision der einen wahren Vergangenheit, in der es Lebensbereiche gibt, die immer schon weiß sind und solche, für welche die Farbe schwarz reserviert ist. Ein chinesisches Sprichwort besagt: „Wer zu lange mit dem Drachen kämpft, beginnt ihm zu ähneln.“ Das Sprichwort sagt nichts über die Kämpfer, die, bevor sie mit dem Drachen zu kämpfen begannen, einst schon diese waren, jedenfalls in ihrer Welt das Ferment einer großen Hoffnung für die Welt erkannten. Obwohl Du – benutzt man die Terminologie der IV. Polnischen Republik1 – in Deinem Leben ein Kommunist gewesen bist, wurdest Du nie zu einem Antikommunisten. Willst Du oder kannst Du etwa all diese Versprechen und Illusionen nicht verwerfen, die wir im linken Denken finden? Polen, hineingeworfen durch den Westen in die schon immer gierige Umarmung Russlands? Oder irrte gar keiner umher: weder Du, noch die Welt? Denn was ist schon das Herumirren heute? Uns erscheint, dass es jene sind, die irren, welche heute die Sprache und die Werte der IV. Polnischen Republik unterstützen. Wir sind überzeugt, dass sie sich alle, wenn nicht in zwei oder zehn, dann doch mit Sicherheit in zwanzig Jahren, für alles entschuldigen werden. Worin unterscheiden sich die Hoffnungen, wenn sie sich unterscheiden, der Kommunisten von den Träumereien der Antikommunisten? Die Kommunisten träumten vor dem Hintergrund des kapitalistischen Elends und der postfeudalen Erinnerungen; polnische Antikommunisten finden sich wieder in dem Schatten, der durch städtische Supermärkte geworfen wird, oder in seinem spürbaren Mangel in den dörflichen Peripherien. Die Kommunisten besaßen eine Theorie der Welt und des Lebens, die als marxistische Philosophie bekannt wurde – und sowjetische Panzer. Als einziger wahlstrategischer Verbündeter der polnischen Antikommunisten erscheint der gesunde Menschenverstand, der mit dem Bewusstsein des verlorenen Lebens und der politischen Freundschaft der USA ringt, deren einziger, andererseits begründeter, Ausdruck bislang die fehlende Zustimmung der Amerikaner zur Abschaffung des Visa-Verkehrs für Polen ist.

Zygmunt Bauman: Am Tag der Kapitulation des Dritten Reiches fehlten mir, einem Leutnant der Polnischen Streitkräfte, zur Erlangung der Volljährigkeit, die ich, wie in der Vorkriegszeit gelehrt wurde, erst mit dem 21. Geburtstag erreichen werden sollte, genau anderthalb Jahre. Ich erinnere mich nicht daran, dass mir der Gedanke darüber schlaflose Nächte bereitet hätte. Im Gegenteil: meine Jugend und Unreife schien mit dem Zustand des Landes und der Welt übereinzustimmen – wie breit oder eng auch immer meine Vorstellung davon damals war. In mir und um mich herum begann erst alles: es startete von Neuem. Hier und dort zählte nur die Zukunft. Der Krieg und die Besatzung mit ihrer täglichen Portion der Erniedrigungen, des Hungers und der Angst, der unablässigen Nachbarschaft des Todes, der unteilbaren Herrschaft des blinden Schicksals waren ein entsetzlicher Traum, der hier eben, in diesem Augenblick sein Ende fand und dessen düsteren Dunst man schnellstens abschütteln sollte. Alles steht wieder in der Macht des Menschen, und für ein Untätigbleiben gibt es keine Rechtfertigung. Nach Jahren nüchterner Schwärmereien, ertragreich an Phantasie, doch karg mit Hoffnung ausgestattet, kam die Zeit der Pläne, die Zeit der mächtigen Worte, Worte, die wie nie zuvor nun endlich „Fleisch“ werden sollten …

Roman Kubicki: Getragen von einem schier grenzenlosen Glauben an das Leben. Anna Zeidler-Janiszewska: An ein besseres Leben.

Zygmunt Bauman: Eben ein Glaube, aber vielleicht erscheint es mir nur so… Ich erinnere mich nicht, dass ich im Mai 1945 vom Spencerschen Zusammenstoß der Interessen des „Individuums“ und der „Gesellschaft“ frappiert gewesen bin. Auf Herbert Spencer traf ich erst viel später, während der Studien über den britischen Sozialismus, und es geschah damals nicht ohne einen Schock und nicht ohne ein echtes archimedisches Heureka-Erlebnis… Der mehrjährige Militärdienst begünstigte es nicht gerade, dass das Individuum aus der dichten Marschkolonne heraustreten konnte, und meine russischen „Berater“, Plechanow, mit seiner Verachtung für Individuen, oder Majakowski, mit seinem „der Einzelne ist nichts, der Einzelne ist Null, allein hebt er nicht einen fünf Zoll dicken Klotz“, harmonisierten unvergleichbar besser mit dem Alltag des Kasernenlebens. Wenn ich überhaupt das Individuum klar von der menschlichen Allgemeinheit getrennt hätte (und ich glaube nicht, dass ich damals dazu in der Lage war), wäre ich vermutlich zu dem Schluss gekommen, dass deren Schicksale nicht voneinander zu trennen sind. Und hätte ich damals bereits die Prüfung in Logik bei Prof. Kotarbiński hinter mir gehabt, hätte ich diese Grübeleien wohl als müßiges Erörtern einer Tautologie im Keim erstickt: Es kann doch einem Menschen nur in einem guten Land gut gehen und ein gutes Land ist wiederum nur ein solches, in welchem es den Leuten gut geht.

Roman Kubicki: Und wie war das mit Deinem Land? Anna Zeidler-Janiszewska: Poznań, woher wir alle drei kommen, stellte vermutlich ein gutes Beobachtungsfeld für einen Jungen, wie Du einer vor dem Krieg warst, dar?

Zygmunt Bauman: In meiner Erinnerung ließ mein Land vor dem Krieg sehr viel zu wünschen übrig, und mein Leben darin war ein ebenso weit vom Ideal entferntes. Ich kann die Wörter wiederholen, die durch Czesław Miłosz am Ende des vorigen Jahrhunderts niedergeschrieben wurden: „Das damalige Polen hat überhaupt nicht dem Idealbild entsprochen, das sich eine neue Generation schaffen kann. Die Bekanntschaft mit dem damaligen Polen wird für viele Leser ein schwieriges Erlebnis, vielleicht eine Erschütterung, und sie werden fragen, wie war das möglich? Aber es war möglich …“ Ich fragte nicht, ich erinnerte mich, dass es möglich war. Einige Jahre früher als Miłosz, jedoch im damaligen Polen, in welchem auch er, wie ich, geboren und groß wurde. Und das damalige Polen war ein Land der unvorstellbaren Armut, welche sich in meiner Heimatstadt Poznań schon wenige Schritte von meinem Haus einnistete, direkt auf der anderen Seite der Dbrowski Straße. Von Zeit zu Zeit wuchsen ihre Triebe auch entlang der geschniegelten und scheinbar mit sich und ihrem Schicksal zufriedenen Straßen Prusa und Słowackiego, sie erreichten auch für mehrere Jahre das Innere unserer Wohnung und in jedem Dorf, welches ich als Kind besuchte, wucherte es schon gänzlich ungeniert mit Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, offen spottend über jegliche Verstellung, Maskierung und die Wahrung des Scheins. Dieses Polen, es war gastfreundlich für Vermögende und gnadenlos, jeglichen Mitleids entledigt, gegenüber jenen, die von deren Wohlwollen abhängig waren, die sie zwangen, ähnlich wie meinen Vater, die menschliche Würde gegen Brot für die Familie zum Tausch anzubieten. An all das habe ich mich erinnert, genauso wie an die Rippenstöße, an die Tritte, und an die Schubsereien der Schulkameraden (nach dem Beispiel ihrer älteren Brüder oder Cousins an der Universität und am Gymnasium, trieben sie auch mich in das SchulbankGhetto2). Die Erinnerung daran tat noch lange nachdem die blauen Flecken verwunden waren und der Schmerz nachgelassen hatte weh, die Beleidigungen und Erniedrigungen waren darauf angelegt, ewig zu wirken. Ein Polen unter deutscher Besatzung lernte ich nicht kennen, ich kehrte in das Polen zurück, welches ich am 2. September 1939, als ich in den Zug stieg, verlassen hatte. Es war gerade dabei, sich in ein besseres Polen zu „verkleiden“. Daran wollte ich mich beteiligen. Wir werden miteinander reden, werden einer den anderen verstehen und überzeugen, wir werden uns einigen, gemeinsam werden wir die Ärmel hochkrempeln und die nicht verheilten Verletzungen heilen und den Kreis der Demütigungen und Erniedrigungen durchbrechen. Der heutige Leser wird vermutlich verächtlich das Gesicht verziehen: was für ein Naivling. Eine solche Reaktion erwartete Tadeusz Konwicki, als er im Gespräch mit Stanisław Beres3 an seine Stimmung direkt nach dem Krieg erinnerte: „Ich gehörte nicht zu der Generation von Businessmännern, die ihre Deals machen, sondern zu einer Generation, die müde von einem schrecklichen Krieg ist … Ich lebte in einer moralischen Ökosphäre, in der Atmosphäre von Spannungen. Deshalb war es für mich einfach, dieses Angebot der Einrichtung einer besseren Welt anzunehmen. Ich hatte die Überzeugung, dass diese dumme Welt zu dieser Hekatombe geführt hat. Wenn ich heute einem Businessman sagen würde, dass man die Welt verbessern muss, würde er mich auslachen, aber damals war das nicht komisch.“ Die Idee, dass man die Welt besser machen kann, kommt in den Kopf eines Neunzehnjährigen einer jeden Generation – vermutlich ist das in der gegenwärtigen Generation auch nicht anders, trotz gigantischer Fortschritte in der Individualisierung. Auf verschiedene Art und Weise malen sie sich diese bessere Welt in ihrer Vorstellung aus, jede Generation mit anderen Farben. Ohne das Malen geht es nicht. Darum kümmert sich schon die einem jedem Neunzehnjährigen eigentümliche Hochmütigkeit, die geringe Lebenserfahrung, die Ansicht, dass alles, was wichtig ist, noch vor einem läge, und das, was sich um einen herum befindet, nur temporär und vergänglich sei. Es bietet sich für Neunzehnjährige förmlich an, über eine bessere Welt nachzudenken, auch dann, wenn diese felsenharte Welt in die sie hineingehen, sich jeglichen Wunderlichkeiten widersetzt. Wie in dieser, so in jeder anderen Welt auch, wird ihnen zunächst das „Bergsteigen“ zuteil. Beim Klettern verändert sich nach jedem Schritt der Ausblick. Dabei passiert es äußerst leicht, dass jenes, was man sieht, während der Veränderung, mit dem, wie es betrachtet wird, verwechselt wird. Leszek Kołakowski erinnerte in einem Fernsehgespräch daran, dass ihn in dieser Zeit ähnliche Sehnsüchte leiteten. Und während er damals sich im Umlauf befindende Ideen für ein besseres Polen verglich, gelangte er zu dem Schluss, dass die Kommunisten das vergleichsweise beste Programm besaßen. Mit dieser Sichtweise stand er nicht allein da. Menschen, die nachdachten und intensiv in damaligen Zeiten empfunden haben, glaubten – und zwar nicht ohne Grund –, dass die Wurzeln des polnischen Elends sehr tief reichten; und ein radikales Elend, wie sie richtigerweise einschätzten, einer radikalen Medizin bedurfte. Sie erschraken bei dem Gedanken, dass Polen zum Zustand vor dem Krieg zurückkehren könne – zu einer um Vergeltung im Himmel schreienden Kluft zwischen den Klassen, zur Massenarbeitslosigkeit und zur ebenso massenhaften Armut. Viele Jahre später, nicht lange vor seinem Tod, vertraute sich mir Stanisław Ossowski4 an und erzählte, dass, als er im August 1939 in der Festung Modlin, wohin er im Rahmen der Mobilisierung einberufen wurde, das umhergehende Gerücht hörte, wonach Beck5 zu einer Einigung mit Ribbentrop gekommen sei und der Krieg nicht stattfinden würde, entsetzt war und sich in Verzweiflung stürzte: „Also wird doch alles so bleiben, wie es ist?“ Die Kommunisten versprachen dagegen weit eifriger als alle anderen, dieser alten Welt ein Ende zu bereiten. Sie behaupteten, dass nur sie, mit ihrem Programm der radikalen Abschaffung der Klassenunterdrückung, des Bauernelends und der Erniedrigung der Arbeiter, die Bedingungen für jene Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schaffen könnten, für welche sich die hellsten Köpfe seit der Aufklärung und nachfolgende Generationen von Reformatoren und Revolutionären, bislang ohne Erfolg, eingesetzt hatten. Und unter dem Einfluss von bitteren aber nüchternen Erfahrungen der Niederlage und der Besatzung schwollen die Scharen von Polen, welche die Befürchtungen von Ossowski teilten, unaufhaltsam an. Im März 1944 informierte Jan Rzepecki, der Leiter des Büros für Information und Propaganda der Heimatarmee (Armia Krajowa / AK), zugleich ein emsiger Beobachter des Pulsschlages der unter der Besatzung lebenden Nation, den General Bór-Komorowski und über seine Vermittlung die Exil-Regierung: „unzweifelhaft fand eine weitgehende Radikalisierung der bislang benachteiligten Schichten statt. Die Forderung nach der Abschaffung großer Ansammlungen von Gütern in der Hand des privaten Menschen oder Menschengruppen und jeglicher materieller, kultureller und politischer Privilegierung ist nahezu allgemeingültig geworden. Alle Versuche, diesen Prozess zurückzudrehen oder wenigstens zu bremsen, sind hoffnungslos und damit schädlich. Das ist ein leidenschaftliches Streben der Massen, welches durch nichts erstickt werden kann.“

Anna Zeidler-Janiszewska: Haben diese paar Jahre in der Sowjetunion Dir erlaubt, die dunklen Seiten des Kommunismus kennenzulernen?

Zygmunt Bauman: Ich habe in der SU mehrere Jahre verbracht. Damals hatten die Kommunisten bereits zwanzig Jahre Zeit, ihre Behauptungen in der Praxis zu beweisen. Ich hätte es also besser wissen müssen. Aber ich wusste es nicht besser, oder wollte es lieber nicht wissen. Oder ich unterdrückte die Zweifel und schob das, was mich abstieß und erschreckte, auf die Auswüchse der Fehler, die man vermeiden konnte und die wir in Polen, klüger um den Schaden, vermeiden werden. Mein englischer Freund Ralph Miliband versuchte mich mehr als zwanzig Jahre später in durchaus vergleichbarer Weise davon zu überzeugen, dass die Engländer in der Verwirklichung des klugen und ursprünglich edlen Programms der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, die Fehler der Russen vermeiden werden und auch solche, die von den Polen verübt worden sind. Er betrachtete mich als einen Renegaten, als ich ihm vergeblich zu erklären versuchte, dass sich solche Hoffnungen, wenn man sie auf eine praktische Probe stellt, als nutzlos erweisen, so wie sie sich auch uns als derartig erwiesen haben. Ich könnte nicht schwören, dass ich weiß, mit welchen Gedanken oder inwiefern gedankenlos ich in das Jahrhundert eingetreten bin, welches Celina Budzyńska6 rückblickend als „Jahre der Hoffnung und Niederlage“ bezeichnete. Budzyńska konnte noch mehr als ich wissen; und in der Tat wusste sie es, aus ihrer Autopsie, und nicht nur von Gerüchten und geheimen Offenbarungen. Sie verlor ihre Nächsten in stalinistischen Säuberungen und irrte in sowjetischen Lagern als „Ehefrau eines Volksfeindes“ umher. Aber auch sie bekennt: „Ich werde von Enkeln und jungen Freunden gefragt, wie konntest Du nach alldem, was Du erlebt hast und was du wusstest, erneut den Sozialismus aufbauen, und das im eigenen Land. Es fällt schwer, nicht nur anderen darauf zu antworten, sondern vor allem – sich selbst. Ich kann mich nicht herausreden, wie Konwicki in Wschody i zachody ksiezyca, dass das nicht ich gewesen bin, dass das jemand völlig anderer war. Nein, genau das war ich, mit allen Erfahrungen und Überlegungen, die irgendwie zusammenlebten mit dem tiefen Glauben an den Sozialismus, an die Gerechtigkeitsidee usw. Es ist komisch, aber vielleicht nicht ganz. Und es geht hier nicht darum, sich an die Brust zu schlagen, sondern zu erklären, wie das geschehen konnte.“ Zu meiner Enttäuschung und sicherlich auch anderer, mir ähnelnder Leser, ist der Rest der Erinnerungen von Budzyńska, nach dem Versuch einer Antwort auf die Frage Wie das geschehen konnte? nur noch die Auflistung von Ereignissen, wie Treffen mit alten und neuen Freunden, ausgebrannte Häuser, Ruinen, holprige Strassen, Brandreste, die sich als Aleje Jerozolimskie7 entpuppen, ein zufällig getroffener Freund, der einen nach Łódz fährt, und dort gerade in jenem Moment die Zentrale Parteischule der PPR8 usw. Die Ereignisse traten sich auf die Fersen und reihten sich aneinander, als ob das eine aus dem anderen kommt, in einem schwindelerregendem Tempo, keinen Augenblick zum Luftholen und eine Reflexion ermöglichend, und erschienen eines nach dem anderen in einer Art, die eine klare Unterscheidung zwischen dem, das sich mir ereignet hat, und dem, was man selbst gemacht hat, nicht erlaubte. Man möchte sagen – sie waren eine Kette von Zufällen, solcher wie in Kieslowskis gleichnamigen Film, obwohl jeder Zufall, wieder wie in dem Film, seine folgenschweren Konsequenzen besitzt, die man weder geplant noch vorhergesehen hat, die man nicht bewusst herbeigewünscht hat, die man auch nicht von oben mit dem Auge erfassen konnte. Und der Zufall wiederum bedeutet soviel, dass wenn nicht geschehen wäre, was passiert ist, die Reihenfolge der Begebenheiten eine völlig andere hätte sein und das Leben sich völlig anders hätte entwickeln können.

Ein solch folgenschwerer Zufall war in meinem Leben die Nachricht – die mich wenige Tage nach der Kapitulation Deutschlands im Regiment erreichte, in Tagen, in denen ich von den Träumen zum gedanklichen Vorhaben überging, sogleich nach der Rückkehr, nach der bald erwarteten Demobilisierung, zum unterbrochenen Physik-Studium zurückzukehren –, dass diese 4. Jan-Kiliński-Division (in deren Reihen ich von Ołka in Wolynien, über den Pommernwall, Kolberg und das Frontlazarett nach Berlin gekommen bin), mit einigen anderen Militäreinheiten reorganisiert wurde und in den neu geschaffenen Korpusu Bezpieczeństwa Wewnetrznego (Korps der Inneren Sicherheit) eingegliedert wurde. Von einem Tag auf den anderen wurden wir alle, vom Oberst bis zum Gefreiten, Soldaten des KBW. Und da eine Artillerie beim KBW nicht vorgesehen war, wurden die Offiziere der politisch-erzieherischen Abteilung des 6. Leichten Artillerie Regiments (in welchem ich seit der Beendigung meines Offizierskurses im ukrainischen Suma als stellvertretender Befehlshaber der 5. Batterie diente) und die nominellen Artilleristen, die jedoch nicht von Berufswegen und schon gar nicht aufgrund ihrer Leistungen Artilleristen waren, zu den Bataillonen bzw. Regimenten zugewiesen, die sich in den Wojewodschaftsstädten formiert hatten. Wie man uns erklärte, war die Aufgabe des KBW der Schutz von Objekten und im Falle des Erscheinens von „Banden“, deren Entwaffnung. Nach einer kurzen Übergangszeit in Łódz wurde ich nach Bydgoszcz versetzt. Dass gerade die 4. Division dazu auserkoren wurde, das Gerüst des sich aufbauenden KBW zu bilden, war aus der Sicht meines Schicksals ein Zufall. Aber es war kein Zufall, dass ich diesen Zufall ohne Murren angenommen habe. Ich hatte zwar nicht die Absicht beim Militär zu bleiben, wünschte ich doch schnellstens zum Studium zurückzukehren, aber dieser oder jener Beitrag zum Aufbau des Sozialismus rangierte oben auf der Liste meiner Vorhaben; die Zuteilung, die mir bestimmt wurde, nahm ich als Verlängerung des Militärdienstes entgegen und als ein Signal, dass unser Zivilleben und die Verwirklichung privater Präferenzen noch etwas auf sich warten lassen. In dem gleichen Geist betrachtete ich das Angebot der Zusammenarbeit mit dem militärischen Nachrichtenwesen; wie es für einen Grünschnabel angemessen war, kannte ich diese Angelegenheiten nur aus Erzählungen und ich dachte, dass die Hilfe für den militärischen Abschirmdienst für einen Offizier eine selbstverständliche patriotische Pflicht sei, gegenüber den Streitkräften und dem Staat, in dessen Reihen er diesen verteidigt. Eigentlich habe ich erst aus den Erzählungen von Herrn Macierewicz9 erfahren, dass es Leute geben soll, die anderer Ansicht sind. Alles was passiert ist, habe ich nahezu en gros behandelt, als eine Art Berufung zum Einsatz beim Aufbau des Sozialismus, den ich herbeisehnte – wenn auch auf einem Abschnitt, den ich nicht erwartet hatte. Es stellte sich im Übrigen ziemlich schnell heraus, dass ich ihn mir auch nicht so vorgestellt hatte. Was ich machte, hatte mit dem Aufbau des Sozialismus in der Gestalt, wie ich mir das vorstellte, wenig gemein. Banden gab es in Pommern (versetzt wurde ich nach Bydgoszcz) keine, als Offizier unterlag ich nicht dem Wachdienst, also verging mir die Zeit beim Palaver mit Soldaten, der Aufsicht über die Soldatenküche und dem Schutz vor ihrer Ausraubung, der Organisation offizieller Einweihungszeremonien der Bataillonsfahne, und … mit der fachmännischen und ergebenen Unterstützung von Leutnant Bojczuk, dem Vorkriegstrainer der Resovia10, der durch einen glücklichen Zufall unserem Bataillon als Kassenwart zugeteilt wurde, die Bildung einer Fußballmannschaft, welche ich bei den Wojewodschafts-Austragungen unter dem Namen WKS Burza angemeldet hatte – und die schnell, bevor sie (zu meinem Entsetzen) in den Sportklub Gwardia, einem gerade aufgebauten landesweiten Klub des Innenministeriums eingegliedert wurde, den Aufstieg in die Pommersche A-Klasse errang. Diese letzte Beschäftigung verschlang, soweit ich mich erinnern kann, den meisten Teil meiner Energie und Gedanken. Die Erbeutung von Fußballtrikots und Hosen sowie der Schuhe mit den vorschriftsmäßigen Noppen war 1946 keine leichte Aufgabe. Als das Bataillon zu einer Regimentsgröße ausgebaut wurde, wurde ich Instrukteur in der politisch-erzieherischen Abteilung des Regiments, womit ich auf diese Weise ein wenig arbeitsaufwendiges Amt übernommen habe, dessen Haupttugend darin bestand, dass ich reichlich Zeit zur Inspektion des Fußballtrainings hatte. Und als in Szczytno die Unteroffiziersschule des KBW eingerichtet wurde, wurde ich dorthin auf einen ähnlichen Instrukteursposten versetzt – nur, dass ich neben der Abhaltung von Besprechungen die Herausgabe (auf einem Vervielfältigungsapparat) eines wöchentlichen Bulletins für die Kursteilnehmer erfand. Nach dem fatalen Epilog in Bydgoszcz habe ich mich an der Organisation eines Fußballvereins nicht mehr versucht; vor allem gab es, da alle drei Monate die frisch gebackenen Unteroffiziere von Szczytno in ihre Einheiten fortreisten und neue Kursteilnehmer – frisch einberufen – für den nächsten Kurs ankamen, keine Bedingungen für ein Zusammenraufen und Trainieren einer ordentlichen Mannschaft (insbesondere fehlte in Szczytno der unbezahlbare Bojczuk). Ende 1947 wurde ich nach Warschau in die Propaganda-Abteilung des Politischen Vorstands des KBW einbestellt, und dies geschah auf Initiative seines Leiters Oberst Zdzisław Bibrowski – wie er mir später verraten hatte, unter dem Eindruck der monatlichen Berichte aus der politisch-erzieherischen Arbeit, die von mir in einem Stil angefertigt wurden, der sich absolut zur Anfertigung von Berichten nicht eignete, aber eventuell irgendwelche Fähigkeiten oder Untugenden signalisierte, die sich als nützlich erweisen konnten beim Verschriftlichen von Plaudereien. Jetzt war ich schon gänzlich ein Bürolist. Den Tag verbrachte ich am Schreibtisch und jeder Tag zog sich, zu meinem Kummer, träge lang hin, obwohl ich mich anstrengte wie ich nur konnte, aber in der Regel lediglich mit geringem Erfolg, um ihm Lebenskraft einzuflößen und mit einer sinnvollen und wenn möglich nicht langweiligen Beschäftigung zu füllen. Die einzige Abwechslung der Büroroutine waren die weitaus mehr exzitierenden Abfertigungen der politisch-erzieherischen Instrukteure aus den Wojewodschaftseinheiten. Im Politischen Vorstand des KBW herrschte eine stickige, erdrückende Atmosphäre, wie das auch hinter Wänden ohne Fenster und selten geöffneten Türen sein muss. Einem Besucher vom Mars würde es schwer fallen den Sinn dieser Existenz zu ergründen, sie würde als eine Gemeinschaft erscheinen, für welche die eigene Existenz, oder vielmehr das Selbst-Zerfleischen, das einzige Ziel, Bestimmung und Aufgabe ist. In der zweiten Hälfte des Jahres 1948, initiiert durch die Verdammung Titos, begann eine intensive Stalinisierung des sozialistischen Lagers. Sie wurde von einer im Grunde permanenten großen Säuberung begleitet, die Partei, in den durch die Partei beherrschten Institutionen, wie jener Vorstand, verdächtige Elemente eliminieren sollte, die ihren Beitritt zur PPR und später PZPR durch unzeitige aber naive Hoffnungen, wie sich jetzt herausstellen sollte, jedenfalls nicht solche „wie sie sein sollten“ bekundet hatten; Elemente also, auf deren Gehorsam in der kommenden Periode der „Verschärfung der Klassengegensätze“ und der Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ die Partei nicht bauen konnte. Und ich war unter nahezu jedem Umstand ein „natürlicher Verdächtiger“. Als Sohn eines ehemaligen Krämers (zwar einem, der nichts zu tun hatte und bankrott war) und mit ehemaligen Fabrik- und Sägewerksbesitzern verwandt war, also irgendwo verirrt war in dem trüben Raum zwischen Kleinbürgertum und Bourgeoise, und persönlich ein zwar halbgebildeter, aber eifrig dazulernender Student war – demnach ein Anwärter der „Lügen-Elite“; der wykształciuchy11 wie in der IV. Republik (trotz ähnlicher Intentionen und Folgen benutzte man damals andere Namen der Schande in den Zirkeln, in denen, nicht das Abitur, sondern der ehrliche Wille einen Offizier machte, und die den wykształciuchy eigentümliche Idee der Vereinzelung und ihr Individualismus der Urteilskraft waren unvereinbar mit der Idee des Gehorsams gegenüber den allerletzten Weisungen des Kollektivs). Nehmen wir doch zur Kenntnis, dass in damaligen Zeiten die Inhaber von Diplomen nicht wie in der Gegenwart hinter jedem Stein am Wegesrand zur Welt kamen, sondern an scheinbar unerreichbaren Felsen, demnach umso sichtbarer waren und sich auf der Zielscheibe befanden. Zur gleichen Zeit war ich also aus verschiedenen Gründen offensichtliches Freiwild für die Fährtensucher und der mit der Regelmäßigkeit eines Rituals wiederholten Parteiversammlungen gefolgt von Parteiversammlungen, Treibjagden und Jagden. Dass ich es innerhalb dieser paar Jahre geschafft habe, den Jägern zu entkommen und immer zahlreicheren Wilderern, die zu den Würden von Jägern aspirierten, verdanke ich sicherlich Oberst Bibrowski, ebenso wie ich ein Fremdkörper in dem genannten Zirkel; er war eine aufgeklärte Person, ein Mensch mit herausragender Intelligenz, einem imponierenden Ausmaß an Bildung und Wissen, einer seltenen Lebensklugheit, dem Skeptizismus und der Reflexivität nahezu eines Seneca und einer Ethik, die wohl am engsten mit der Lehre von Mark Aurel verwandt gewesen ist. Zdzisław Bibrowski war ein seltenes Phänomen – ein Überbleibsel aus der Generation der kommunistischen Schwärmer-Intelligenz, die schnell ausgebröckelt ist (oder vielmehr ausgebröckelt wurde), die aus den Parteireihen und aus der Öffentlichkeit verschwanden. Aus irgendeinem Grund hat sich dieser Bibrowski meine Person auserwählt und machte, was er konnte, um mich zu schützen. Dieser nächste Zufall bewirkte, dass man mich nicht fertig machte und gleich am Anfang der Treibjagd auf die Untreuen abgeschossen hat. Ich kam unverzüglich nach dem Abgang von Bibrowski aus der Leitung des Vorstands an die Reihe zum Abschuss (zwanzig Jahre später wurde Bibrowski Initiator, Organisator, Antriebskraft und Seele der Akademiker-Sektion der Solidarność). Als unmittelbarer Vorwand, um mich aus dem KBW zu entfernen, diente eine Ärzteaffäre12 und mein für Vorgesetzte offensichtlicher Zionismus – die Führer der Volksrepublik glaubten an die zwischen den Generationen vererbbare Sünde – wie der Vater, so der Sohn, und mein Vater hatte tatsächlich die allerdings völlig legale Angewohnheit, die Botschaft Israels in Warschau zu besuchen, womit er und durch seine Vermittlung ich weitaus besser als alle in Moskau verhafteten Ärzte die Verwendung des Begriffes Zionist als Kryptonym für Jude rechtfertigten. Aber ich wurde ja seit Jahren als Fremdkörper betrachtet und fühlte, dass ich rausfliege.

Roman Kubicki: Wie Du weißt, erleben wir in den letzten Monaten auch in der IV. Republik eine Ärzteaffäre. Woran erinnerst Du Dich noch aus Deiner Zeit aus dem KBW?

Zygmunt Bauman: Ins Feld – in die dörfliche Gegend um Białystok – wurde ich nur einmal geschickt, soweit ich mich erinnere im Winter 1945/1946. Bewaffnete Einheiten, die verstreut in der Białostoczczyzna-Region waren – die manchmal ihren Ursprung in den Untergrundorganisationen hatten, aber in der Mehrzahl einfache Verbrechergangs darstellten, die übrig gebliebene Hinterlassenschaft der Besatzungsdemoralisierung – überfielen Milizposten, hielten Züge an, zogen Passagiere heraus und nötigten sie zu Lösegeldzahlungen und exekutierten diese oft an Ort und Stelle. Es wird heute oft vergessen, dass von beiden Seiten geschossen wurde. Es herrschte doch etwas in der Art eines Mini-Bürgerkrieges. Ich weiß es nicht, keiner hat das ordentlich nachgerechnet, wie viele Polen von welchen Kugeln niedergestreckt wurden, auf welcher Seite es mehr Opfer gab, und auf welcher mehr Mörder. Und es ist leicht, heute den gesamten Untergrund unter die ehrenwerte Bezeichnung Nach-Heimatarmee unterzuschieben. Es gab doch in den Vierziger Jahren in Polen eine Fülle einfachsten Banditentums, die Hinterlassenschaft der moralischen Zerstörung der Gesellschaft und der nicht ganz zerschlagenen Organisationen, teilweise des Untergrunds, mit völlig faschistischen Intentionen und Praktiken.

Roman Kubicki: Aber das waren doch Antikommunisten!

Anna Zeidler-Janiszewska: Von Natur aus gut und „genetisch patriotisch“ selbstverständlich. Heute werden ihnen Denkmäler13 gesetzt.

Zygmunt Bauman: Allein die Tatsache, dass jemand Antikommunist ist, veredelt ihn nicht und garantiert auch keine Tugendwerte. Hitler war auch Antikommunist. Ich hoffe, wir kommen zu dieser Einsicht nicht erst, nachdem der Schaden durch Vergessen eingetreten ist.

Roman Kubicki: Was kannst Du noch über diese Expedition sagen?

Zygmunt Bauman: Das Ziel dieser E xpedition war die Verhaftung von Angreifern: Die Soldaten wurden zu diesem Zweck mit Adresslisten ausgestattet, unter welchen die Täter der Überfälle angeblich wohnten. Die Handhabe der Soldaten konnte sich mitnichten, weder an der Radikalität der eingesetzten Mittel, noch der Resultate ihrer Anwendung, mit den Sanacja14-Expeditionen zur Pazifisierung15 in Wolhynien, Podolien oder Pokutien messen. Befehligt wurden wir durch einen aus Russland geschickten „Spezialisten zur Aufspürung von Terroristen“, aber seine Expertise erwies sich als wenig hilfreich in der polnischen Realität. Unter den Hausadressen der Rebellen, die auf Grundlage lokaler Denunziationen aufgeschrieben wurden, konnte keiner, oder so gut wie keiner, der Verdächtigen, soweit ich das weiß, gefunden werden. Entweder befanden sie sich niemals dort oder sie hatten mehr als genug Zeit, um sich in den Wäldern zu verstecken. Ich habe keine Ahnung, was der Experte in seinen Berichten von der Expedition vermerkt hat. Es blieb auch wenig von dieser Expedition in meiner Erinnerung übrig, außer der Erinnerung an einen unbarmherzigen Frost und das große Erlebnis der Premiere von „Verbotene Lieder“16 in einem Kino in Białystok. Ein weiteres Mal wurde ich nicht mehr ins Feld geschickt. Meine Funktion beim Experten war nebenbei bemerkt eine Replik dessen, was ich zusammen mit anderen politisch-erzieherischen Offi zieren der 4. Division leistete: ein Gegengift für den offen ausländischen Charakter der „Linien“Offiziere (unsere Offiziere wurden ja in Katyń ermordet, und nahezu alle, die das Massaker überlebten, verließen Russland zusammen mit der Armee von General Anders17). Kurz danach endete der Bedarf für diese Funktion im KBW, da nahezu alle Experten zurück nach Russland geschickt wurden und diese mit polnischen Kadern ersetzt wurden. Man vergisst heute, dass das KBW die erste nahezu vollständig „de-russifizierte“ Militärformation in Polen gewesen ist. Der Korps hob sich in dieser Hinsicht scharf von dem Rest der polnischen Streitkräfte ab, insbesondere in dem Augenblick, als die Oberste Führung über das Militär, das dem Verteidigungsministerium unterstellt gewesen ist, Konstanty Rokossowski18 übernommen hatte. Während des „Polnischen Oktobers“19 konnten deshalb die Inneren Militäreinheiten unter der gemeinsamen Befehlsgewalt von Wacław Komar und Juliusz Hübner mit der Verteidigung von Warschau beauftragt werden, und wurden auch tatsächlich damit beauftragt, als Abwehr einer eventuellen sowjetischen Aggression. Diese Militäreinheiten waren die einzige bewaffnete Formation, deren Loyalität sich die polnischen Machthaber in einer Auseinandersetzung mit Russland sicher sein konnten. Zwei weitere „Zufälle“ ereigneten sich in meinem Leben, als ich gemeinsam mit meinen Eltern, die glücklicherweise ein Jahr zuvor aus der Sowjetunion repatriiert wurden, endlich Ende 1947 in Warschau ansässig wurde. Der erste Zufall: Als ich loslief, um an der Warschauer Universität mit einem Index (Studienbuch), der die zwei ersten Prüfungen des Physik-Studiums an der Universität in Gorki bestätigte, und den ich sorgfältig trotz der Front, der Wunden und des Krankenhauses aufbewahrte, wurde mir dort offenbart, dass die Warschauer Universität die sowjetischen Studienleistungen nicht anerkennt, aber dass ich einen Antrag auf Studienaufnahme zum Semesteranfang – des kommenden Jahres stellen kann. Dieser Zufall war sozusagen ein glücklicher. In den Jahren in Bydgoszcz und Szczytno träumte ich weiterhin über eine Rückkehr zu den Physik-Studien, aber immer stärker zog es mich zu den Wissenschaften, die bei der „Ausbesserung der Gesellschaft“ und der Verbesserung des Schicksals der Menschen nützlicher wären. Ich schwankte, konnte keine Entscheidung treffen; die Ablehnung der Fakultät für Physik der Warschauer Universität hat mein Dilemma gelöst! Da noch die Aufnahme für die Akademie der Politischen Wissenschaften (APW) stattfand, meldete ich mich, wurde angenommen, und seitdem verging nahezu jeder Abend über die nächsten drei Jahre mit Vorlesungen und Übungen in der Reja oder Rejtana Straße, und ein Großteil der Bürotage und häuslichen Nächte verbrachte ich mit Lesen. Damals machte ich zum ersten Mal richtig Bekanntschaft mit Philosophie, Soziologie, Gesellschaftsgeschichte. Diese Orte verzauberten mich, ich verliebte mich in sie vom ersten Augenblick an. Und es war kein Zufall mehr, sondern Entschluss, dass ich dieser ersten Liebe bis zum Schluss die Treue gehalten habe. Und ich sollte mich nicht mehr von ihr trennen.

Roman Kubicki: Und der zweite Zufall?

Zygmunt Bauman: Der zweite Zufall: An der APW traf ich Janina. Aber es war schon kein Zufall, dass ich mich in sie seit dem ersten Augenblick verliebte. Und umso mehr war es kein Zufall, dass ich mich die nächsten sechzig Jahre lang von ihr nicht entliebte. Noch ein Zufall bewirkte, dass ich in dem Moment meiner Ausweisung schon ein zweijähriges Magister-Studium an der Philosophischen Fakultät der Warschauer Universität hinter mir hatte. Aber es war kein Zufall mehr, sondern Folge einer Entscheidung, dass ich aus Jux zum Dekanat ging und einen Antrag auf Aufnahme als Assistent am Lehrstuhl für Philosophie stellte – wie sich herausstellte, war das nicht nur der erste, aber auch der letzte Antrag für eine Stelle, die ich in meinem akademischen Leben stellen sollte. Zu meiner Verwunderung, ein hartes Sediment meines mehrjährigen „Lebens in der Säuberung“ war die ebenso harte Überzeugung, dass, gemäß einer modernisierten Version des archimedischen Prinzips, ein einmal rausgeworfener Körper, immer und überall herausgestoßen wird. Ich greife jetzt vor, um die Geschichte meiner Anti-Romanze mit der „Bezpieka“ (Staatssicherheit) zu beenden – hier musste ich mir auf die Zunge beißen … Zu beenden? Vergesst alle nie, ihr die ihr beginnt, ohne das Bewusstsein des in der Flasche versteckten Dschinni: Eine einmal ins Leben berufene Bezpieka – welche Farbe sie auch besitzt – ist von Natur aus unsterblich. Mit Sicherheit wird sie euch überleben. Wenn ihr ihre eigenen Kräfte nicht ausreichen, werden die Begründer der nächsten Bezpieka sich darum kümmern. Ich verließ das KBW mit einem riesigen Haken in der „Ubecka“- (von Urzad Bezpieczenstwa /UB – Amt für Sicherheit) Version meines Lebenslaufs. Meine Einreihung durch „die da oben“ in die Kategorie „usual suspects“, einfacher ausgedrückt, ich war nun Freiwild, wurde zu einer unumkehrbaren und unwiderruflichen Tatsache. Vor schwerwiegenderen Konsequenzen als den Verlust der Arbeit bewahrte mich womöglich (so wie die Moskauer Ärzte) ein weiterer Zufall: der Tod Stalins. Aber das Urteil wurde in den Archiven der Stasi vermerkt – und wie sich später herausstellen sollte, verzögerte sich lediglich, nicht etwa aufgrund des Femegerichts, seine Vollstreckung. In Wahrheit habe ich erst zweieinhalb Jahre später, durch mein Verhalten, diese „Verdächtigungen auf Kredit“ der Bezpieka zu begründen begonnen. Endlich gab es etwas zum Nachspüren, etwas worüber man über mich berichten konnte, womit man meine Akte füllen konnte. Dass man darauf so lange warten musste, ist noch ein weiterer Beweis für die sträfliche Langsamkeit meiner Reifung.

Anna Zeidler-Janiszewska: Was hat diese letztendlich beschleunigt?

Zygmunt Bauman: Es bedurfte Chrustschows Referat und der klaren Benennung der stalinistischen Verbrechen, damit mir eine weitere Hülle von den Augen fiel und dass ich aufhörte mich darüber zu täuschen, dass der Kommunismus eine der Abwandlungen (eine verdrehte zwar und voller Irrtümer, aber immerhin) des „Weges zum Sozialismus“ sei. Ich sage eine weitere und nicht letzte Hülle, weil ich damals annahm, dass der polnische Weg, um den der Kampf gerade beginnen sollte, nicht die Richtung des sowjetischen Abwegs nehmen wird. Von einer solchen Täuschung kann man sich nur schwer befreien, was die bereits genannte Überzeugung meines Freundes Ralph belegt, eines klugen und außergewöhnlich rechtschaffenen Menschen (der nebenbei bemerkt, Warschau während des polnischen Oktobers besuchte, dort alles in sich hinein saugte, atemlos und neidvolll, die Aktivitäten des „Bündnisses der Intelligenz und der Arbeiter“, welche damals zur Verbesserung der (Volks)Republik unternommen wurden, verfolgte). Er und seine Weggefährten glaubten ebenfalls, dass sie es nicht zulassen würden, dass der englische Weg zum Sozialismus, beim Nachahmen des polnischen Beispiels, in die Irre führen werde. Der Ertrag der Überlegungen, welche durch das, soziologisch durchaus analphabetische, Referat von Chruschtschow20 befruchtet wurden, waren meine eher ähnlich unbedarften „revisionistischen“ Manifeste über die Notwendigkeit der Soziologie der Partei, das in den Studia Filozoficzne abgedruckt wurde, sowie das Traktat über die Bürokratie und Unzeitgemäße Gedanken in der Twórczość, eine Broschüre Über die innerparteiliche Demokratie, Veröffentlichungenn im Po Prostu. All das erschien im Übrigen, im Druck, in einer mehr oder weniger, durch die Zensur gekürzten Form, und schon wenige Monate später wurde dies bereits als gänzlich unanständig betrachtet. Im Übrigen war die Philosophische Fakultät der Warschauer Universität ein einziges Nest des Revisionismus und des unangepassten Denkens. Schon die Beschäftigung mit Soziologie als einer unabhängigen Quelle des Wissens über den Zustand der Gesellschaft (also des Bestandes, auf den die Machthaber das Monopol beanspruchten) war schon an sich eine potentiell staatsfeindliche Handlung und die Schuldigen waren von Natur aus für ihr Treiben verdächtig. Wir waren alle Objekte der unaufhörlichen, offiziellen und mit Sicherheit auch „inoffiziellen“, Aufmerksamkeit der Machthaber und ihrer Organe. Die Archive der UB, die heute umbenannt sind in die „Schatzkammer der Nationalen Erinnerung“21 , hatten Gründe anzuschwellen. Vor dem Hintergrund der enormen Autorität von Leszek Kołakowski oder der unverwüstlichen Energie von Krzysztof Pomian war mein persönlicher Beitrag zur Anheizung des rebellischen Geistes an der Fakultät, vorsichtig ausgedrückt, zweitrangig: Begrenzte er sich doch auf die Verkündung häretischer Ansichten in Vorlesungen und Übungen, auf die Nichtteilnahme an Delegationen zu internationalen Treffen, bei denen dem einen oder anderen Kollegen der Pass verweigert wurde, oder auf das Fürsprechen für einen Studenten, der vor dem Rektoratsgericht für „staatsfeindliche Umtriebe“ zur Verantwortung gezogen wurde. Aber (beschwören kann ich es nicht, Einsicht in meine Akten wurde mir weder damals noch heute gewährt) die Ausmaße meiner Akten waren in den Archiven auch so durchaus anerkennenswürdig, und was wichtiger ist, sie wuchsen schnell an.

Roman Kubicki: Warst Du Opfer irgendwelcher Provokationen?

Zygmunt Bauman: Die Denunziationen waren die tägliche Nahrung der Archive, aber wohl doch unzureichend, weil man im Laufe der Zeit auf Provokationen zurückzugreifen begann. Eines Tages erschien an meinem Lehrstuhl Benek Tejkowski22 der seit dem polnischen Oktober den Nimbus einer „roten Tomate“ besaß. Einst war er ein geistiger Anführer der rebellierenden Krakauer Studenten und ein Häftling der UB. Es hätte unsere Aufmerksamkeit erwecken müssen, dass einem von den Organen geplagten provinziellen Rebell plötzlich eine Wohnung im Zentrum Warschaus zugeteilt wurde, an der Hoža Straße23, in welcher dieser sofort einen Salon aufmachen konnte, der die Crème de la Crème der unabhängig denkenden Studenten und heranwachsenden Adepten der Warschauer Humanistik hineinsaugen konnte. Ich besorgte ihm eine Assistenzstelle, verabredete ein Thema seiner Magisterarbeit über die Theorie und Praxis der Bürokratie. Tejkowski entpuppte sich, was soll ich hier viel erzählen, als höllisch (ich benutze diesen Begriff mit Absicht!) intelligenter und vorbildlich arbeitender Mensch, die Dissertation entstand in einem unüblich schnellen Tempo und war in jedem Sinne herausragend. Nur, dass bevor ich ein Exemplar zur Ansicht bekommen hatte, das Original durch einen glücklichen24 (oder gar nicht so glücklichen) Zufall bei der Kontrollkommission der Partei landete, was eine Serie von Strafverhandlungen unter der Leitung von Frau Gomułka25 nach sich zog und mit einer Rüge samt Verwarnung endete. Und wiederum im November 1967 versammelte sich eine Gruppe von Freunden unserer Tochter Ania bei uns, um ihren 18. Geburtstag zu feiern. Beim Verlassen der Wohnung wurden alle Gäste verhaftet und bei dieser Gelegenheit von den Treppen geschubst und brutal zusammengeschlagen, dann im Mostowski Palais26 zum Verhör über Nacht einbehalten. Die Festnahmen befehligte Major Nowak, ein Nachbar aus unserem Haus, der ein Stockwerk unter uns wohnte.

Anna Zeidler-Janiszewska: Der März begann also eigentlich viel früher?

Zygmunt Bauman: Auf ganzer Länge ihrer Klingen, wurden die Messer aus der Scheide, tags nach der Studentenversammlung auf dem Hof der Universität am 8. März 1968, gezogen (bis heute glaube ich, obwohl ich das nicht beweisen kann, dass deren Einberufung, oder zumindest die maßgebliche Beteiligung an ihrer Einberufung, eine Serie gut durchdachter Provokationen der SB gewesen ist). Die Fernsehbildschirme und Titelseiten der Zeitungen wimmelten von Anschuldigungen, adressiert an die Universitätslehrer, die moralische Verwüstung unter einer naiven und leichtgläubigen Jugend säten. Schwärme heranwachsender Adepten der journalistischen Kunst und Anwärter einer März-Dozentur (wer wird sich heute noch ihrer Namen erinnern oder nur ihre Scharen zählen können?) versuchten ihrer bislang unerträglich schleppend verlaufenden Karriere die Sporen zu geben, indem man wetteiferte, in der Lösung von Rätseln vom Typ „Was hat der Katholik Kisielewski27 mit dem Zionisten Bauman gemeinsam?“ Manchmal stimmte selbst ein ehrenwerter Professor in diesem Chor mit ein, z. B. indem er in der Trybuna Ludu, die es nicht gewohnt war akademische Arbeiten zu rezensieren, eine vernichtende Kritik von Baumans Schaffen, unter dem Titel „Ein beängstigendes Phänomen“, veröffentlichte. Das Wohnungstelefon wurde schon seit längerer Zeit abgehört, es tönte mit anonymen Drohungen vom Typ „Gleich kommen wir, du Judensau und machen dich fertig“ und im Hausfahrstuhl erschien die Aufschrift „Bauman ist ein Feind“. Und da der Katholik Kisielewski empfindlich durch „unbekannte“ Täter auf der Straße zusammengeschlagen wurde, wichen junge Kollegen von der Fakultät, trotz Protesten, nicht einen Schritt von der Seite des „Zionisten Bauman“, wenn er zur Fakultät ging oder von ihr nach Hause zurückkehrte. Keinen Schritt weit wichen auch die Ubeki (Staatsicherheitsspitzel) – zu Fuß oder im Auto, wo auch immer ich hinging und was auch immer ich zu erledigen hatte. Da sie dadurch vermutlich nicht erwartet haben, auf zusätzliche Information über meine staatsfeindlichen Aktivitäten zu stoßen, ging es ihnen vermutlich um Einschüchterung, um Nötigung, darum, dass ich durch mein Verschwinden mit anderen „Zionisten“ „nach Siam“ den „Forderungen der Arbeiter“ (die im Fernsehen gezeigten Transparente) nachkommen würde oder ganz offen um Belästigung. Eine solche Belästigung oder eine reine Bosheit war es dann, als bei der Ausreise aus Polen die Zollbeamten, Jasias und mein gesamtes handschriftliche Material beschlagnahmten. Als ich nach Jahren wegen der Herausgabe der konfiszierten Materialien an das Zollamt herantrat, antwortete man mir, dass die einbehaltenen Dokumente an die Akademie der Wissenschaften übergeben worden wären. Auf meine erneute Interpellation antwortete der Vorsitzende der Wissenschaftsakademie, dass er nie meine Handschriften erhalten habe. Ich habe eine Kopie beider Antworten an den Leiter des Staatsrates geschickt, mit der Bitte um Entscheidung des Streits zwischen zwei ehrenwerten Staatsinstitutionen. Auf diesen Brief habe ich nie eine Antwort von Prof. Jabłoński erhalten. Irgendjemand, der kürzlich in den Archiven des IPN stöberte, fand meine Akte mit den beschlagnahmten Handschriften und schrieb sich deren Nummer auf. Im Unterschied zum Haupt der ‘Volks’-Republik, antwortete der IPN auf meine Bitte, die von der UB ererbten Handschriften herauszugeben (u. a. wie ich vermuten kann, durch eine offizielle Denunziation von Herrn Gontarczyk28), jedoch hat er ähnlich wie in der vergangenen Epoche diese Handschriften nicht zurückgegeben. Wie sagt man doch, die „Bezpieka“ stirbt nie. Sie wirkt auch aus dem Grab heraus nicht weniger einschneidend als zu Lebzeiten.

Anna Zeidler-Janiszewska: Später, als ihr dann in Leeds angekommen seid, erschienen die Praktiken dieser Art nur wie ein fürchterlicher Traum.

Zygmunt Bauman: Wir wohnen in Leeds seit fast vierzig Jahren in einer ruhigen Ecke. Die einzigen zwei Einbrüche, die sich in dieser Zeit in dieser Gegend ereigneten, betrafen unser Haus. Beim ersten Mal hat der „Dieb“ aus dem Schlafzimmer die Handtasche von Jasia mitgenommen, die er anschließend samt Inhalt mit Ausnahme eines Kalenders, in dem Jasia die Telefonnummern unserer Freunde notierte, weggeworfen hatte. Wie wir nach Jahren aus einer Sendung der BBC erfahren haben, stand der Diebstahl des Kalenders in Zusammenhang mit der Agententätigkeit (eines zum Promotionsstudium in einem benachbarten Departement der Soziologie an der Universität Leeds eingeschriebenen) Doktoranden für die ostdeutsche Stasi, mit dem Auftrag, über meine in England geführte verschwörerische Tätigkeit gegen den Sozialismus zu berichten. Beim zweiten Mal war die Angelegenheit ernster: Nach irgendeiner Rückkehr von Auslandsvorträgen fanden wir die Innereien unseres Hauses vollständig aufgeschlitzt und auf den Kopf gestellt, obwohl nichts fehlte. Diesmal lag die Ursache für den Einbruch, wie ich vermute, in der Aufmerksamkeit anderer „Spezialdienste“, die meinem Enkel galt (es ist an der Zeit, sich wieder auf die Zunge zu beißen: Worin, um Gottes willen, besteht deren „Andersartigkeit“?). Michał Sfard, ein junger aber bereits bekannter Jurist, ist ein Dorn im Auge des israelischen Establishments. Er reicht beim Obersten Gericht Anträge zugunsten von enteigneten Palästinensern ein und bringt regelmäßig Fälle „an die Öffentlichkeit“, über die das Establishment lieber schweigen möchte. Der „Einbruch“ fand kurz nach seinem Besuch bei uns statt; Schin Bet (Israelischer Inlandsgeheimdienst) dachte wohl, dass Michał bei uns irgendwelche Materialien zur Aufbewahrung dagelassen habe, die er bei der Vorbereitung für kommende Gerichtsverfahren gesammelt hat.

Anna Zeidler-Janiszewska: Oft fragen wir uns, wie sich unser Schicksal gestaltet hätte, wenn nicht bestimmte Umstände, oder wenn wir in der Vergangenheit klüger oder weitsichtiger gewesen wären. Hast Du solche Gedanken, dass Du etwas hättest anders machen können?

Zygmunt Bauman: In Parteizirkeln, insbesondere in der Gruppe der beständig und unbarmherzig anwachsenden Heerscharen „ehemaliger Parteiangehöriger“, kursierte zu Zeiten der Volksrepublik die Frage, worin sich ein Kommunist von einem Apfel unterscheidet? Die Antwort: Der Apfel fällt, wenn er reif wird, der Kommunist dagegen reift, wenn er fällt. Ich machte mir öfters Gedanken, ob nicht etwa auch meine Lebenszwischenfälle der Gesetzmäßigkeit dieser kurz und treffend, in einer als Witz verkleideten Aussage unterliegen. Es quälte und plagte mich die Befürchtung und bis jetzt, am Lebensabend, konnte ich mich nicht restlos davon befreien. Wie wäre mein Leben verlaufen, wie würde sich die Reifung meines Bewusstseins entwickeln, wenn ich nicht „gefallen“ wäre – um genauer zu sein, wenn ich nicht „gefallen worden wäre“? Obwohl mich ein solches Was-wäre-wenn-Denken an die Kostenkalkulation zur Haltung von Pferden erinnert, falls das trojanische Pferd Fohlen hätte. Ich tröste mich damit, dass die nächsten fünfzehn Jahre meines Lebens doch nicht ganz in diese Regel passen wollen. Erstens sollten einige Jahre bis zum ersten „Hinunterfallen“ vergehen, bevor der Prozess der Reifung bei mir so richtig begann. Und andererseits war das nächste „Hinunterfallen“, das fünfzehn Jahre später stattfand, diesmal unter aktiver Beteiligung meiner Alma Mater, schon zweifelsohne eine Folge und nicht eine Ursache des Reifens. Im Jahre 1953 war ich immer noch ein überzeugter Kommunist. Was auch immer mich anwiderte und abgestoßen hat in der Praxis der „die Macht Haltenden“, schob ich auf die Schuld dessen, was zwei Jahre später Chruschtschow als „Fehler und Verwerfungen“ taufen sollte. Es wuchs die Zahl des von mir bemerkten menschlichen Leides, der ungerechten Urteile und schändlichen Taten, aber sie fügten sich mir nicht zu einem Ganzen zusammen. Ich dachte nicht, dass sie beabsichtigt waren oder für die in Polen eingeführte Staatsordnung typisch wären. Und schon gar nicht kam mir in den Kopf, dass diese in irgendeinem Kausalzusammenhang mit dem Aufbau des Sozialismus zusammenhingen. Meine Zweifel betrafen nicht die Idee, sondern die Art ihrer Verwirklichung – oder genauer gesagt, der Handlungen, die als deren Realisierung ausgegeben wurden. Nicht das System war schuld, folgerte ich, sondern seine fehlerhafte Funktionsweise. Ich glaubte, dass die Schritte der Menschen ganz oben tatsächlich im Einklang mit deren eigenen Beteuerungen waren, das die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit steuert, deren Ankunft durch die Idee des Sozialismus angekündigt wurde und zu deren Einführung sie aufgerufen hat – nur dass sie, aus einem Missverständnis oder aufgrund eigenen Unvermögens oder äußeren Drucks, Fehler begehen, und sie sich an Mittel halten, welche die Erreichung dieses Ziels zumindest nicht begünstigen. Sie meinen es gut, aber irren sich, sie versuchen es, aber sie schaffen es nicht. Sie irren. Aber wir wollen das gleiche, also haben wir den gleichen Weg, und solche, die irren, kann man doch auf den richtigen Weg bringen, wenn man ihnen in den Verstand redet. Selbstverständlich unter der Annahme (ich habe dies angenommen), dass sie diese Fehler wiedergutmachen wollen, und sie noch mehr versuchen sie zu vermeiden. Ich reifte, zugegebenermaßen, langsam. Die Hoffnung, dass die Partei ihre Fehler versteht und einsieht, vom falschen Weg umkehrt und (so wie man nach dem Prager Frühling wohl hätte sagen müssen) dem Sozialismus das menschliche Antlitz wieder gibt, kehrte stur noch eine Zeit lang später wieder, als klügere Kollegen als ich, wie Leszek Kołakowski, zu der Einsicht gelangten, dass es hier nicht um Fehler geht, sondern um die Systemvoraussetzungen und dass es mit der Partei nichts gibt, worüber man reden könnte, und, dass es das auch nicht wert ist. Von dem Sinn und der Berechtigung des großen Projekts war ich überzeugt. Es gab ja auch genug Belege dafür um diese Überzeugung zu untermauern. Polen wuchs, und mit ihr die Menschen. Fortschritt wurde in damaligen Zeiten in Polen wie im Rest der Welt mit der Menge der Fabrikschornsteine und Tonnen des produzierten Stahls oder Kohle gemessen, und unter diesen Gesichtspunkten konnte man das Tempo lediglich als schwindelerregend bezeichnen. Vor unseren Augen erstand Warschau von den Toten wieder auf und wurde von Monat zu Monat schöner (während der sonntäglichen Spaziergänge mit Jasia erfreute sich unser Blick zum einen an der reizenden Altstadt, dem MDM29 oder Muranów, oder zum anderen – ja, ja! – an dem täglich den Wolken näher rückenden Palast der Kultur und Wissenschaft). Nach der endlich erfüllten Landreform, die zwar bereits von den Vorkriegsregierungen versprochen, aber nie ernsthaft angegangen wurde, kam das polnische Dorf von Jahr zu Jahr ein Stück mehr aus dem seit vergessenen Zeiten unterdrückendem Elend und der kulturellen Unterentwicklung heraus. Im Gegensatz zum kapitalistischen Westen (um an weise Worte von Claus Offe zu erinnern), standen nicht Arbeitslose in der Schlange zum Arbeitsamt, sondern die Fabrikdirektoren Schlange um Arbeiter zu bekommen: Auch wenn, im Gegensatz zum Westen, die Lebensmittelhändler vergeblich auf Waren warteten, und nicht etwa die Waren auf ihre Käufer. An den Lehrstätten erschienen Jungs und Mädchen, welche vor dem Krieg nicht einmal hätten davon träumen können, eine Universitätsschwelle zu überschreiten. Das Bildungssystem, das Gesundheitswesen, selbst Wohnungen und Erholungseinrichtungen, die zwar (vorerst!) noch viel zu Wünschen übrig ließen, jedoch unentgeltlich bzw. fast gratis und für alle zugänglich gewesen sind. Und im Hintergrund ständig dieses Gefühl, dass das Schlimmste bereits hinter uns liegt, die Schrecken des Krieges und die Bestialitäten der Besatzung sich nicht mehr wiederholen werden, und die Tatsache (um Camus zu zitieren), dass diese Gleichheit, die nicht durch die Anwesenheit des Todes geschaffen wurde, wenigstens für die wenigen Stunden die Freude der Befreiung bestimmte. Vorerst, während dieser wenigen Stunden gab es genügend, um das Auge zu füttern und das Herz zu erfreuen.

Nur, dass Doktor Rieux, der Held aus Camus’ Pest, wusste, „dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann. Dass er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und aussenden wird“. Na ja, mir mangelte es an seiner Klugheit. Warum ich machte, was ich machte, kann ich nicht abschließend erklären – insbesondere gegenüber mir selbst nicht. Es fehlte in meinem Leben ein experimentum crucis, die letzten Beweise, die Widerspruch nicht ertragen können. Ich beneide manchmal Menschen, die aus dem Stehgreif, ohne zu zögern, Dilemmata lösen können, sich wenigstens für den Eigengebrauch der Probleme entledigen und der Rätsel, von denen es so wimmelt. So wie solchen Menschen, die doch ungeniert, und ohne einen Hauch von Zweifel zu hegen, behaupten, dass Leute, die sich gegen das Anbringen von Abhöranlagen bei Bürgern aussprechen oder obligatorische öffentliche Beichten, dies bestimmt nur deshalb tun, weil sie etwas zu verstecken haben, oder dass die, die sich gegen die Verurteilung von Brotdieben zu den Galeeren wenden, das doch bestimmt nur deshalb machen, weil sie selbst Brot gestohlen haben. Wie unerreichbar doch für mich ihre Kunst des ruhigen Gewissens ist. Der englische Schriftsteller Thomas Hardy hat in seinen zahlreichen Romanen überzeugend herausgearbeitet, dass das Schicksal eines Menschen sein Charakter ist. Aber wie ist mein Charakter? Das Schicksal ersparte mir (geizte?!) einen fundierten Test, in welchem ich meinen Charakter bis zum Ende, ohne einen Hauch von Zweifel überprüfen hätte können. Im Gegensatz zu vielen Altersgenossen wurde ich von den Erfahrungen des Lagers verschont, sowie des Lagers, in welchem, wie das Primo Levi lapidar zusammenfasste, „jeder verzweifelt ist und schrecklich allein“, „alles um dich herum feindlich ist“ und alle um dich herum „Feinde oder Rivalen sind“, in welchem, würde ich sagen, der Mensch völlig einsam aufwacht, von Angesicht zu Angesicht mit seinem Sein, welches von erworbenen oder geschenkten Hüllen beraubt wurde, der Chance entledigt zu lügen und was noch wichtiger ist, sich selbst zu verleugnen, unfähig die Wahrheit über sich nicht zu erkennen oder sie versehentlich zur Kenntnis zu nehmen – somit der Möglichkeit entledigt ist, so zu tun, als sei er jemand anders, sowohl gegenüber anderen, als auch gegenüber sich selbst. Vor einigen Jahrzehnten schlug eine Welle der Flugzeugentführungen und der Geiselnahmen durch die Welt. Um jede einzelne Entführung war es laut (was im Übrigen viele Pioniere des Nachahmens bescherte, die zu weiteren Entführungen eingeladen wurden) – aber nur für ein paar Tage, wie das so üblich ist, für unsere obdachlose, verirrte und für ein Innehalten unwillige Aufmerksamkeit. Die Opfer der Entführungen verschwanden aus der öffentlichen Sichtbarkeit genauso plötzlich, wie sie in diese hineingeworfen wurden. Mit der einen – womöglich einzigen – Ausnahme: Ein Journalist der Le Monde hat nach Jahren die Adressen der ehemaligen Geiseln herausgefunden und diese besucht, um die Erinnerung an vergangene und schon fast vergessene Medienspektakel aufzufrischen. Zu seiner Verwunderung entdeckte er, dass eine überwältigende Zahl der Ehepaare, die gemeinsam Opfer der Entführungen wurden und gemeinsam das Los von Geiseln erlebten, sich kurz nach der Befreiung getrennt hatten.

Roman Kubicki: Warum?

Zygmunt Bauman: Dem Ehemann oder der Ehefrau zeigte der angeblich seit langem bekannte Partner ein Gesicht, welches sie vorher nie gesehen hatten, und einmal erblickt, fanden sie dieses niederträchtig, verachtungswürdig und nicht zu ertragen. Aber wenn sie doch in ein anderes Flugzeug gestiegen wären, oder einzeln gereist wären, hätten sie dieses Gesicht nie erblickt, und würden seine Existenz nicht vermuten und in Eintracht leben, in der glückseligen einer auf Gemeinsamkeit beruhenden Unwissenheit, der goldenen oder vielleicht sogar diamantenen Hochzeit.

Roman Kubicki: Ich vermute, dass aus ähnlichen Gründen viele Männer immer noch nicht an den Entbindungen ihrer Frauen teilnehmen möchten. Wir wissen so viel über uns, wie viel wir geprüft wurden – versichert Szymborska. Es stellt sich heraus, dass es sich nicht lohnt zuviel zu wissen, dass es Prüfungen gibt, die nicht aufbauen, sondern zerstören.

Zygmunt Bauman: Danke für dieses Zitat von Szymborska, wunderbar! Hardy hat wohl Recht, wenn er behauptet, dass das Schicksal des Menschen sein Charakter ist, und somit der Schlüssel zu seinem Charakter auch der Schlüssel zu dem Schicksal des Menschen ist. Der Hund liegt aber darin begraben, dass bei weitem nicht jedes Leben die Schlüssel zu allen Schlössern des Charakters liefert. Nietzsche beginnt seine Genealogie der Moral mit der Bemerkung „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehn, dass wir eines Tages uns fänden?“ Für die Richtigkeit keines Urteils, welches mit ‘wenn’ beginnt, kann man garantieren. Und noch weniger vertrauenswürdig sind solche Urteile, die mit ‘wenn ich an seiner (ihrer) Stelle wäre’. Ja aber was würde ich denn tun, wenn ich noch einmal an der Stelle jenes Zygmunt in den Berliner Wäldern im Mai 1945 wäre? Vermutlich würde jener Jüngling anders handeln als er handelte (womöglich konnten ihm auch andere Erlebnisse widerfahren). Doch vermutlich würde ich das gleiche machen, wie er damals. Dass er von einem Polen träumte, das frei ist von Elend und menschlicher Erniedrigung, einem Polen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, kann ich ihm nicht vorwerfen. Wenn ihn also diese Träume in irgendeinem Moment auf Irrwege führten, habe ich nicht das Recht ihm böse zu sein. Und umso weniger habe ich nicht das Recht, eine Weisheit auszukramen und ihn zu belehren aus den Höhen des Wissens, die ihm fehlten…

Übersetzung: Kamil Majchrzak

Prof. Dr. habil. Zygmunt Bauman wurde 1925 geboren, ist Soziologe und Philosoph. Bis 1968 Professor der Warschauer Universität, bei den antisemitischen Ausschreitungen 1968 während der März-Unruhen aus Polen ausgewiesen. Emigrierte nach Israel, wo er bis 1971 an den Universitäten in Tel Aviv und Haifa unterrichtete. Anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Soziologie in Leeds, wo er bis heute lebt.

Anmerkung: Wir danken Zygmunt Bauman für die Überlassung der Rechte für die Veröffentlichung der deutschen Fassung dieses Gespräches. Das Gespräch wurde 2007 durchgeführt. Das polnische Original wurde in dem Buch „Życie w kontekstach. Rozmowy o tym, co za nami i o tym, co przed nami“ von Zygmunt Bauman, Roman Kubicki und Anna Zeidler-Janiszewska im Wydawnctwa Akademickie i Profesjonalne 2009 veröffentlicht. „Alle erläuternden Fußnoten stammen vom Übersetzer und sind nicht im Original enthalten.“

1 Als IV. Republik bezeichnen Anhänger der Kaczyński-Zwillinge ihren Versuch der politischen Abgrenzung zu der Periode nach 1989. Die IV. Republik soll dank des Wahlsieges ihrer Partei „Recht und Gerechtigkeit“ in den Jahren 2005-2007 vermeintlich neue politische Rahmenbedingungen geschaffen haben. Tatsächlich waren die Veränderungen mehr rhetorischer als institutioneller Natur.

2 Das Schulbank-Ghetto war eine Form der Diskriminierung von jüdischstämmigen Schülern und Studierenden, die einen bestimmten Platz im Vorlesungsraum einnehmen mussten, welcher auch im Studienbuch vermerkt wurde. Seit 1937 auch an der Warschauer Universität eingeführt, deren national gesinnte Studierende sich nicht zu schade waren, in den 30er Jahren den „Juristen“ und kurze Zeit später „Schlächter von Polen“ Hans Frank zu einem „juristischen“ Vortrag in die Uni einzuladen.

3 Gemeint ist das lange Gespräch zwischen Stanisław Bereśund dem Regisseur Tadeusz Konwicki, welches im Frühjahr 1984 durchgeführt wurde und zwei Jahre später unter dem Pseudonym Stanisław Nowicki bei dem polnischen Verlag Aneks unter dem Titel „Pół wieku czyśćca” in London erschienen ist.

4 Stanisław Ossowski war ein polnischer Soziologe der Lemberg-Warschau-Schule.

5 Józef Beck, in den Jahren 1932–1939 polnischer Außenminister der Sanacja, der kurz vor Ausbruch des II. Weltkrieges im polnischen Sejm eine bis heute kontrovers diskutierte Rede hielt, in welcher er sagte: „Der Frieden ist eine wertvolle und begehrte Sache. Unsere von Kriegen ausgeblutete Generation verdient mit Sicherheit eine Periode des Friedens. Aber der Frieden hat, wie fast alle Dinge dieser Welt, seinen Preis, einen hohen, aber schätzbaren. Wir in Polen kennen nicht das Konzept des Friedens um jeden Preis. Es gibt nur eine Sache im Leben von Menschen, Nationen und Staaten, die keinen Preis hat. Es ist die Ehre.“

6 Celina Budzyńska (geb. 1907) wurde 1937 zu 8 Jahren Lagerhaft verurteilt. 1945 Rückkehr nach Polen, Mitglied der PPR. Arbeitete in den 70er Jahren mit dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und anschließend der Solidarność zusammen.

7 Ost-West Hauptachse in Warschau und wichtige Straßenverbindung in der Stadt.

8 PPR – Polska Partia Robotnicza [Polnische Arbeiterpartei], die 1942 gegründet wurde und die Grundlage der späteren Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei PZPR (PVAP) bildete.

9 Antoni Macierewicz, ehemaliger Innenminister und Leiter des Abschirmdienstes. Berühmt wurde er mit der Veröffentlichung einer Liste mit vermeintlichen Mitarbeitern der polnischen Staatsicherheit im Frühjahr 1992.

10 Polnischer Zweitligist aus Rzeszów, der 1905 als einer der ersten polnischen Fußballvereine neben den Klubs aus Lemberg und Krakau gegründet wurde. Der Verein gilt als der älteste auf heutigem polnischem Staatsgebiet gegründete noch existierende Fußballverein.

11 Gegenwärtig benutzter pejorativer Begriff für gebildete Personen.

12 Bauman spielt hier auf die vermeintliche „Ärzteverschwörung“ von in der Mehrzahl jüdischstämmigen Medizinern an, die beschuldigt wurden, die Führung der Sowjetunion um Josef Stalin ausschalten zu wollen. Die Säuberungswelle konnte erst nach Stalins Tod im März 1953 beendet werden. Die Vorwürfe waren gänzlich von Stalin und dem Geheimdienst erdacht und fabriziert.

13 Vgl. das Denkmal für Józef Kuraś(Pseudonym „Ogień“), siehe dazu: Polen: Keine Angst vor der „Moral-Keule“ der Geschichte, ost:blog, abrufbar auf: http://www.ostblog.de/2006/09/polen_keine_angst_vor_der_mora.php

14 Bezeichnung für die Diktatur nach dem Mai-Putsch von Marschall Józef Piłsudski im Jahre 1926, insbesondere der faktischen Machtausübung durch Offiziere nach dessen Tod 1935 bis 1939.

15 Sog. Befriedungsexpeditionen wurden insbesondere in den 30er Jahren gegen die ländliche ukrainische Mehrheits-Bevölkerung dieser Gebiete durchgeführt. Begleitet wurden diese durch eine militarisierte Kolonisierung dieser Gebiete durch die polnische Minderheit.

16 „Zakazane piosenki“ – erster polnischer Nachkriegs-Spielfilm von Leonard Buczkowski, erzählt die Geschichte des Widerstands einfacher Leute in Warschau während der deutschen Besatzung von 1939 bis 1945.

17 General Władysław Anders, Häftling des NKWD, seit August 1941 mit der Bildung einer polnischen Armee in der UdSSR beauftragt, welche ein Jahr später mit ca. 20 Tausend Soldaten über den Iran evakuiert wurde. Befehlshaber der Polnischen Armee im Osten (Irak, Palästina) und des 2. Polnischen Korps innerhalb der Britischen Armee. Unter den 1940 durch den sowjetischen NKWD in Katyń ermordeten befand sich auch Szymon Lewinson, der Vater von Janina Bauman (geb. Lewinson), der späteren Ehefrau von Zygmunt Bauman. Lewinson war Häftling des Lagers in Кoselsk.

18 Konstanty Rokossowski, sowjetischer Befehlshaber polnischer Abstammung. Seit November 1949 auf Weisung Stalins polnischer Verteidigungsminister. Nach 1956 Rückkehr mit 500 anderen sowjetischen Militärberatern in die Sowjetunion.

19 Gemeint ist der Oktober 1956, als im Zuge des Ungarn-Aufstandes sowjetische Panzer auch um die Hauptstadt Polens postiert wurden und erst durch Vermittlung von dem aus dem Gefängnis entlassenen Władysław Gomułka Ende Oktober diese in die Kasernen zurückgerufen wurden.

20 Der 20. Parteitag der KPdSU vom 14. bis zum 26. Februar 1956 beendete mit der „Geheimrede Chruschtschow“ den Personenkult um Stalin und die damit verbundenen Verbrechen und stellte damit ein Wendepunkt in der Geschichte der Sowjetunion dar. Es war der erste nationale KPdSU-Parteitag nach dem Tod des Diktators Josef Stalin am 5. März 1953.

21 Anspielung auf das Institut für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN), einer polnischen staatlichen Einrichtung, vergleichbar mit der deutschen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU), dessen Aufgabe vor allem in der Archivierung, Verwaltung und Auswertung der Akten der kommunistisch-polnischen Nachrichtendienste (Urząd Bezpieczeństwa, UB/Sicherheitsamt, ab 1956 Służba Bezpieczeństwa, SB/Sicherheitsdienst) besteht.

22 Gemeint ist der Neofaschist Bolesław Tejkowski, seit 1990 Vorsitzender der neofaschistischen Partei Polska Wspólnota Narodowa (PWN). In seiner kürzlich erschienenen „Autobiografia“ beschreibt der verstorbene Jacek Kuroń, wie er die Wandlung von Tejkowski nach seiner Verhaftung 1956 erlebt hatte. Während viele Oppositionelle damals bereits überzeugt waren, dass Tejkowski ein Agent der SB sei, glaubte Kuroń eher, dass dieser einfach krank sei. Benek (Bernard) nahm später den slawischen Namen Bolesław an und baute nach den März-Unruhen 1968 eine neuheidnische faschistische Partei „Światowid” auf. In dem berühmten Prozess gegen Karol Modzelewski und Jacek Kuroń (siehe: Interview mit Modzelewski im telegraph # 118/119) trat Tejkowski als Zeuge der Staatsanwaltschaft auf und behauptete, beide Angeklagten seien „zionistische Agenten“.

23 Bis heute befindet sich in der Wohnung in der ul. Hoża 25/13 der offizielle Sitz der neofaschistischen Partei Polska Wspólnota Narodowa – PWN.

24 Im Original „psim swędem“.

25 Gemeint ist Zofia Szoken, Ehefrau von Władysław Gomułka, dem Parteichef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) 1956 bis 1970. Szoken, selbst jüdischer Abstammung, arbeitete in der Kontrollkommission des Bezirkskomitees Warszawa – Śródmieście der PVAP.

26 Sitz der polnischen Volkspolizei (Milicja Obywatelska) für die Hauptstadt.

27 Stefan Kisielewski, konservativ-liberaler Politiker und Schriftsteller. Seit 1945 Journalist der katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“. 1957-1965 zusammen mit dem späteren Premierminister Tadeusz Mazowiecki im Rahmen der Gruppe Znak Abgeordneter des polnischen Sejm.

28 Piotr Gontarczyk (geb. 1970), seit 2006 stellvertretender Direktor des Archivbüros des IPN und anschließend Direktor der dortigen Abteilung Lustration. Als vermeintlicher Historiker benutzt er – wie andere Mitarbeiter des IPN – seinen amtlichen Zugang zu den Archiven des IPN für Publikationen über angebliche Beweise über eine Spitzeltätigkeit seiner politischen Gegner. Das IPN und Gontarczyk spielen eine wichtige Rolle in der antikommunistischen Geschichtspolitik.

29 MDM – Abkürzung von Marszałkowska Dzielnica Mieszkaniowa [Marschall-Straße Wohnviertel], vergleichbar mit der Moskauer Gorkiallee oder der Ost-Berliner Stalinallee, die in den 50er Jahren errichtet wurde.