Kultur

»Zwischen dem Hier & dem Nicht-Hier bewege ich mich«

– Zum Tod des »cut prose«-Schreibers Jürgen Ploog

Von Jürgen Schneider

Jürgen Ploog (Archiv JS)

Jürgen Ploog wurde 1935 in München geboren. Nach einer Ausbildung zum Gebrauchsgrafiker war er drei Jahrzehnte als Langstreckenpilot unterwegs und versuchte mit dem Schnittverfahren »Cut-up« den Viruscharakter des Wortes bloß zu stellen: »Das Wort sehen & betrachten, es zum Material machen wie der Maler Form oder Farbe behandelt, bis sie möglichst deckungsgleich seiner Vorstellung entsprechen.«

In einem Interview, veröffentlicht in Poet (Nr. 21, Herbst 2016), erklärte Ploog: »Cut-up ist ein Versuch, gegen den Strich zu schreiben und lebt von Experimentierfreude. Eine Versuchsanordnung, die der Jagd nach dem Zufall dient. Dahinter steckt eine Art Quantentheorie des Worts. Was soviel heißt wie ein verändertes Verhältnis zum Wort herstellen. Denn was bedeutet Schreiben, wenn es nicht nur der Unterhaltung dient? Aber die Literatur schottet sich ab, wird dirigiert von geheimen Geistern wie Kritikern, Lektoren, Agenten und Verlegern. Von Faktoren, die mit Literatur wenig zu tun haben. Und da steht der Schriftsteller und versucht, es allen recht zu machen. Anstatt aufzustehen, wie Brinkmann, und zu sagen: Euch gibt es gar nicht. – Ich fordere den autonomen Autor, der sich erst einmal hemmungslos umsieht (dabei kann er auch in einem Café sitzen). Und dann versucht, seiner Sichtweise eine sprachliche Form zu geben.«

Ploogs Experimente mit Cut-up-Techniken führten früh zu einem regen Austausch mit William S. Burroughs, dem Autor von Naked Lunch und anderen Werken, die der Trübe-Tassen-Literatur Paroli bieten. Ploog gründete mit Carl Weissner und Jörg Fauser die legendäre Literaturzeitschrift Gasolin 23 und war Schreiber von mehr als zwanzig Büchern.

Zwei Gentlemen: William S. Burroughs und Jürgen Ploog (Archiv JS)

Ich kannte Jürgen Ploog seit den 1980-er Jahren. Als ich ihn Ende des letzten Jahres zu einer Lesung in Düsseldorf einlud und ihm schilderte, warum diese in den von meiner Lebensgefährtin und mir bewohnten Räumen stattfinden würde – Düsseldorf ist eine literarische Wüstenei –antwortete er:

»Lieber Jürgen,

Ja, du versuchst, eine temporär befreite Zone hinzukriegen. Da bist du auf dem richtigen Weg & verdienst Unterstützung. Trotzdem kann ich mich nicht zu einer Zusage entschließen. Ich mag mich unter bestehenden Verhältnissen (die du ja in deiner Mail plastisch beschreibst) nicht exponieren. Ich käme mir vor wie auf einer Alibiveranstaltung mit déjà vu-Anwandlungen vor. Das ist eine Plattform für Jüngere.  Das sage ich mit einem feuchten Auge. Auch weil mir damit eine Begegnung mit dir entgeht.«

Am 19. Mai 2020 ist Jürgen Ploog gestorben.

 

In zwei Rezensionen habe ich in der Vergangenheit Jürgen Ploog gewürdigt.

 

Lufthansa-Cut-Up

von Jürgen Schneider

 

Nichts, das ist das Labyrinth der Sprache.

Jürgen Ploog, »Wo ich arbeite«

 

Flying was his business. Lufthansa. Langstrecke. Eine Generation lang. Zwischen Lorita, Carensa & Tristeza. Dabei auf Schreib-Montage: Coca-Cola Hinterland (1969), Radarorient (1976), Pacific Boulevard (1977), Motel USA (1979), Nächte in Amnesien (1980). Bei Virilio (Black Maria oder das Echtzeit-Endspiel) 1992. Vom Himmel geholt & in den Ruhestand versetzt, als Raumagent unterwegs 1993. Wilde Tage in New York. Die Schwerkraft der Nachmittage, als die Sterne über Baalbek aufgingen. Eine staubige, altertümliche Stadt am Fuß der Anden. Istanbul, wo die Kuppeln der Moscheen blinken. Deutschland, der Geruch von Antiquitäten.

Nicht geographische Reisen interessieren Jürgen Ploog, dessen jüngstes Buch gerade in der Rhön erschienen ist, sondern physiologische. Die Rückkehr ins Coca- & Cola Hinterland ist ein Dreiteiler. Der erste Teil spielt im Niemandsland zwischen Vergangenheit & Atlantik. Es blitzen holografische Maschinensound-Fetzen auf, bei denen sich Zuschauer & Darsteller bis zur Erschöpfung bei Hyperkommunikationsaktionen verausgaben und genmanipulierte Techno-Kids, die – von erotischen Alpträumen geschüttelt – in die Laserstrahlen elektronischer Tanzflächen stürzen. Die bei Unruhen während eines Hahnenkampfes festgenommenen Minister der alten Regierung sind derweil auf Korbstühlen eingenickt. Ihre Sicherheitsexperten sind so weit gegangen, einen Apparat zu entwickeln, der subversive Träume auch während des Schlafs verhindern soll. Teil zwei (»Apokalypse«) kreist um die Frage, was zurückbleibt, wenn der Autor mit der Geschwindigkeit des Schnitts das syntaktische Umfeld verschwinden lässt. Und in Teil drei fügt Ploog persönliche Notizen über Erfahrungen mit der Technik der semantischen Abweichung ein: Cut-Up Revisited. Er schildert, dass er anfangs vor der Notwendigkeit stand, für die Diskontinuität seines Lebens als Pilot eine entsprechende Schreibweise zu finden. »In linearer chronologischer Syntax liess sich die Fragmentierung nicht zum Ausdruck bringen.« Durch Burroughs’ Naked Lunch (später durch Gysin und andere Schnittmeister) inspiriert, begann er in den Jahren der Gruppe 47 mit der Schnitttechnik zu arbeiten. Ploog geht es darum, »der Natur des WORTES auf die Spur zu kommen. Nach all den Jahren ist es wahrscheinlich das, was mich am Schnittvorgang fasziniert: dass der Umgang mit dem sezierten Wort mich dem, was es bezeichnet, näherbringt, dem Bild hinter dem Wort.« Der Zufall, so Ploog, kann das Wortvirus in einen Widerstandsfaktor verwandeln. Auf dem Weg über die Matrix der Wahrnehmungsmuster lassen sich die Kontrollinstrumente der Machtzentren mit kinästhetischen Operationen unwirksam machen. »Ja, es muß zu Brüchen kommen. Man kann nicht ewig auf die marmorglatte Oberfläche des Bildschirms starren. Wie weit seid ihr mit euren Computern an Freiheit herangekommen?«

»Tristeza hat ihren Schnitt gemacht, & ich habe mich wieder der Strasse zugewandt, den Tälern, die nachts den Kontinent zu einem Labyrinth von Verlockungen machen. Wo aufwachen?«

Jürgen Ploog: Rückkehr ins Coca- & Cola Hinterland. Ostheim/Rhön: Verlag Peter Engstler 1995

(Erstveröffentlichung in: Die Beute 4/95)

 

In den Fettecken

Jürgen Ploog über das Unterwegssein zwischen Berlin und New York

von Jürgen Schneider

 

Einmal war Jürgen Ploog, Jahrgang 1935, dem Mainstream ganz nah. 1966 war’s, in Princeton, wo er ein Treffen der Gruppe 47 belauschen wollte. »Was machen Sie denn hier? fragte eins der Gesichter mit verächtlichem Zynismus & lächelnder Dreistigkeit, wie es Modegeworden ist in der Generation nach dem Krieg. Es roch nach schlaflosen Nächten, nach hektischen Sätzen & Wortfetzen, nach Rollkragenpullovern, nach Deutschland & bestenfalls nach dem alten Kontinent, nach hochgekrempelten Hemdsärmeln, nach Schlächtermienen, nach gutem & bösen Spiel.« Er versuchte, an den Aufpassern vorbeizukommen: »Gesichtskontrolle, nichts drin«.

Knapp zehn Jahre später schrieb Ploog an seinen Freund Walter Hartmann: »You never know with these small publishers – but they are the only chance.« Da war Ploog längst zum transatlantischen Komplizen von William Burroughs geworden und hatte Cut-up als Methode für sich entdeckt: »Mit einem Schnitt läßt sich das semantische Koordinatensystem verschieben oder zum Einstürzen bringen. Durchkreuzen.«

»›Beat‹ war für Burroughs verbunden mit einer existentiellen Gegenposition zur herrschenden Ideologie des American Way of Life, die auch in der Musik von Charlie Parker, den Arbeiten von Jackson Pollock & dem Charisma von Marlon Brando zum Ausdruck kam.« So heißt es in Ploogs jüngstem Werk Unterwegssein ist alles – Tagebuch Berlin-New York, das wie alle seine Bücher seit Cola-Hinterland (1969) nicht in einer »Fat-ass-Fabrik« (J. P.) erschien, sondern als »Fettecke No. 1« in dem neuen [SIC]-Literaturverlag. Bereits im April 2001 hatte Ploog an seine New Yorker Freundin Regina Weinreich geschrieben: »I have just sent my New York/Berlin diary to my agent.« In wie vielen Fettecken der Buchproduzenten, »deren Selbsterhaltungstrieb sie auf Bewährtes zurückgreifen läßt« (J. P.), das Manuskript gelegen hat, wissen wir nicht, es war jedenfalls lange unterwegs. Schnell ausgelassen über das Buch hat sich hingegen eine Autorin der »Zeitung für den letzten linken Studenten«. Sie kann zwar Burroughs nicht richtig schreiben, urteilt dafür aber: Ploogs Buch ist »ein bißchen nostalgisch … ein bisschen retro«. Wer sich stets vom Zeitgeist abschleppen läßt und sich der »Avongarde« (Tödliche Doris) verschrieben hat, dem müssen Ploog’sche Sätze wie dieser retro vorkommen: »Zum Teufel mit Übereinkünften, mit Tradition & Verpflichtung. Nichts IST. Das Ist-Konzept beruht auf einem sprachlichen Trick, einer Festlegung. Der Verrat beginnt, wenn es dir als Ausweg erscheint, dich auf Kompromisse mit dem Bestehenden einzulassen.«

Ploogs Buch, geprägt von diesem eigentümlichen Ploog-Sound, der nur sinnlich erfahrbar ist und sich wie jeder gute Sound einer sprachlichen Fixierung entzieht, besteht aus zwei Teilen. Der erste, kürzere und von harten Schnitten geprägte, ist überschrieben »Unterwegssein ist Alles – Nomadische Statements«. Der zweite Teil gibt sich als »Tagebuch Berlin-New York« zu erkennen und stützt sich auf ein tatsächlich geführtes Tagebuch der späten 90-er Jahre. Dem misstraut der Schreiber: »Sind das Momente, die ich hinschreibe, weil ich sie gern erleben würde, oder widerfahren sie mir, weil ich sie aufgeschrieben habe?« In der Infrasprache der City, so Ploog, mischen sich Fakt und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit. Und die Umstände sind ohnehin so, »dass im wahrsten Sinne des Wortes den ›eigenen Augen‹ nicht zu trauen ist«.

Im Kern geht es dem einstigen Langstreckenpiloten, der Briefe an Freunde schon mal mit »Jay le bird« unterschrieb, um das Unterwegssein, um Zeit und Raum, Exterritorialität und Fremdsein, um »das Weiterschreiben der Wirklichkeit jenseits der geographischen Fixierung«, wie es Walter Hartmann einmal formulierte. Ploog ist »auf haltlose Art unterwegs. Im Nirgends … Der ewige Pilot, der Passagier ohne Abreise & Ankunft. Dies Unterwegs ist kein Reisen, kein zwischen Orten sein, sondern Aufenthalt in einem ortlosen Raum.« Jeder Ort ist eine Durchgangsstation, und es gelingt der »Wahrnehmungsmaschine« Ploog nicht festzustellen, wo er sich gerade befindet. »Das Hier ist der Raum, der mich umgibt. Vergessen die Zeit, in die ich eingeschweißt bin. Zwischen dem Hier & dem Nicht-Hier bewege ich mich. Das Hier wird stets von Abhängigkeiten verfälscht, Briefe schreiben, Essen machen, ficken.« Verloren und gegenwartslos zwischen Städten, das ist der virtuelle Zustand, in dem sich der Reisende bewegt. Freundschaften, so behauptet Ploog, seien etwas für Seßhafte. Und alles Seßhafte ist ihm noch heute zuwider, er habe keinen Ortssitz gesucht, »sondern die Abgeschiedenheit (von vier Wänden & einem Schreibtisch)«.

»New York«, so Ploog, »ist so nah gerückt, als wäre Berlin eine seiner Vorstädte, früher hat man den Atlantik überflogen & ist auf einem anderen Kontinent & in einer anderen Megapolis gelandet. Mit der Ankunft wurde auch ein Teil der Vergangenheit zurückgelassen. Heute fliegt man in die City, kauft ein, geht essen, übernachtet ein- oder zweimal und fliegt wieder ab. Man hat nur kurz den Schauplatz gewechselt.« Sitzt er im Flugzeug, versucht Ploog Berlin auf New York zu projizieren und umgekehrt. Irgendwo in Manhattan kommt Ploog die Gegend europäisch vor, europäisch in ihrer Dimensionalität. Und er theoretisiert, dass die Enge Europas eine Bewußtseinsenge ist, die den Raum kolonisiert, statt ihn zu gestalten. Am Bryant Park überkommt ihn das Gefühl, im Prater, Kastanienallee, Berlin zu sein. Derart sind die Ploog’schen Tagebucheinträge, weit entfernt von einem PR-Slang, wie er Reiseführern eigen ist. Metropolenschwingungen (New Yorker Art zumeist) sind es, die Ploog vor uns entfaltet, Wanderungen durch das nächtliche Inferno der City. Hotelzimmer, Bars, der schnelle Griff eines Mädchens in den Hosenschlitz, Lichtintensitäten, Häuserschluchten, U-Bahn-Fahrten. Hier und da finden sich Notizen über Ausstellungsbesuche. Über Gauguin: »Er ist ein erstes Beispiel dafür, dass geografische, kulturelle Suche keine Erlösung bringt. Inzwischen sind 100 Jahre vergangen. Sie wirken wie ein kurzes Liderzucken der Geschichte.« Über Kurt Schwitters: »Schwitters ist ein Meister mit einzigartiger Form- und Farbsprache. (Enttäuschend Max Ernst; Dali nicht der Rede wert.) Erstaunliche Kälte bei Picasso. (Drei Balthus: Kulissen einer anderen Welt. Er sagt etwas, das wie ein Echo aus einem anderen Jahrhundert klingt.)«

Crissy, Perita, Kikki, Lea & andere Frauen (sowie Replikanten) tauchen auf und werden unseren Blicken wieder entzogen. Deren Beziehungen zum Schreiber Ploog und vice versa bleiben unterschiedlich unklar. Stattdessen ein Ausblick: »Verschwinde, & deine Sehnsucht wird Gestalt annehmen.«

Durchgangsstation Berlin. Kein Hype: »Nirgends gewachsene urbane Räume. Das Monumentale ist nicht weiterzuführen & fürs Metropolitane fehlt die Geschäftigkeit.« Das soll er mal in Berlin so vortragen während einer Lesung, der Ploog. Da werden sich die Verfechter der Berliner Republik aber ereifern und aufs Heftigste widersprechen. Berlins Geschichte, so schreibt Ploog an anderer Stelle, ließe sich »nur in Traumsprache erzählen, ohne Interpunktion & Syntax … eine Sprache, die über die Ruinen der Geschichte hinweggeht … in der Ahnungen & Gefühle mehr wiegen als Befehle & Reglementierung. Feldpostbriefe, aus denen Verzweiflung & Grauen spricht.« Während Ploog am Ufer der Spree auf seinen Freund Harry H. wartet (der mal als Kurier bei den Amis gejobbt hat), sinniert er: »Als Berlin noch eine Agentenstadt war, hätten wir ein gutes Team abgegeben, schätze ich. Aber das ist vorbei. Jetzt ist Berlin langweilig wie jede Hauptstadt.«

(Erstveröffentlichung in: junge Welt, 11. Juli 2011)