Kultur

Meine Tante und Anne Frank

Zum 90. Geburtstag von Anne Frank

Von Angelika Nguyen

Sie sind im selben Jahr geboren: meine Tante Marieluise und Anne Frank. Meine Tante feiert dieses Jahr im Pflegeheim ihren 90. Geburtstag, nach einem redlich erfüllten Leben. Anne Frank aber, heißt es dann wieder am 12. Juni, wäre 90 Jahre alt geworden.
In diesem Konjunktiv liegt der Unterschied, der grauenvolle Unterschied.
Die Leben der beiden 1929 in deutschen Städten geborenen Kinder spielten sich wegen des deutschen Faschismus statt in Parallelen vor allem in Gegenteilen ab. Zunächst ähnelte sich vieles: die Babyfotos von Anne (in Frankfurt am Main) und Marieluise (in Elbing), mit stolz und fürsorglich blickenden Eltern dabei. Die Fotos von den ersten Schritten, von Geburtstagsfeiern, von der Einschulung.
Dann, 1934, als Marieluise nach Königsberg umzog, weil ihr Vater eine neue Stelle als Rechtsanwalt bekommen hatte, zog auch Annes Familie weg, aber viel weiter – in die Emigration nach den Niederlanden, wegen der Judenverfolgung in Deutschland.
Mitte 1936 ist die in Deutschland gebliebene Marieluise feierlich auf der Hochzeit eines Onkels zu sehen, und die neu verwurzelte Anne verbringt letzte unbeschwerte Sommerferien in Sils im Engadin/Segl. 1939 lösen die deutschen Nazis den Zweiten Weltkrieg aus, und Marieluises Vater wird in die Wehrmacht eingezogen. In diesem Jahr entsteht in Amsterdam eine viel verwendete Passfotoserie von Anne. Im Sommer 1942 sitzt Marieluise mit der Schwester in Rauschen am Ostseestrand, während Anne kurz zuvor ihr Tagebuch begonnen hat und mit ihrer Familie im Hinterhaus in der Prinsengracht untergetaucht ist, um der Deportation in die Vernichtungslager zu entgehen. 1943 wird Marieluises Vater in der Nähe des Ladogasees von einer Granate der Roten Armee getroffen. Im selben Jahr schreibt Anne in ihr Tagebuch über angekündigte Deportationen von Juden aus den Niederlanden:„Wie eine Herde armes, krankes und verwahrlostes Vieh werden die armen Menschen zu ihren schmutzigen Schlachtplätzen geführt.“
Im Frühling 1944 bejubelt Anne im Tagebuch die Landung der West-Alliierten in der Normandie, die Befreiung wird für sie absehbar. Etwa zeitgleich stehen Marieluise und ihre Schwester in einer Fotokabine in Königsberg und lassen Serienbilder knipsen, ähnlich denen von Anne 1939. Fotoautomaten scheinen schon damals beliebt gewesen zu sein.
Anfang August 1944 wird Anne zusammen mit den anderen Versteckten entdeckt, kommt erst ins Sammellager in Westerbork, wird im September nach Auschwitz deportiert. Zu dieser Zeit werden Marieluise und ihre Schwester wegen britischer Flächenbombardements zeitweise aus Königsberg ins Umland evakuiert. Im Oktober 1944 wird Anne mit ihrer Schwester im Viehwaggon aus Auschwitz nach Bergen-Belsen transportiert, zugleich ist Marieluise darauf gefasst, mit Mutter und Schwester aus Ostpreußen vor der Roten Armee zu fliehen. Was Marieluise fürchtet, das sehnt Anne herbei.
Im Januar 1945 beginnt für Marieluise mit Mutter und Schwester die Flucht Richtung Westen. Im selben Monat befreit die Rote Armee Auschwitz, das nur acht Autostunden von Königsberg entfernt liegt. Zu dieser Zeit hat Anne, wie ihre Schwester, sich schon mit Flecktyphus im KZ Bergen-Belsen angesteckt. Anfang März 1945 ist Marieluise mit Schwester und Mutter im Harz angekommen, sie werden einquartiert. Zur selben Zeit stirbt Anne wenige Tage nach ihrer Schwester in einer zugigen Baracke in jenem kahlen Teil der Lüneburger Heide.
Meine Tante Marieluise wird eines Tages in Ruhe sterben, hochbetagt, in geschütztem Raum. Anne Frank dagegen wurde – 15 jährig – über Monate zu Tode gequält. Zuvor hatte die ausgeklügelte Nazi-Maschinerie mit allen beteiligten Einzeltätern ihr immer wieder klargemacht, dass ihr Leben wertlos sei. Bevor Anne starb, stand sie mindestens einmal in Auschwitz zitternd und nackt vor einem SS-Mann, der entschied, ob sie ins Gas kommt oder nicht. Bevor Anne starb, warf sie in Bergen-Belsen trotz der Kälte alle ihre Kleider ab, weil es sie so gegraut hat vor den kleinen Tieren darin. „Sie hatte keine Tränen mehr.“ schreibt Janny Brandes-Brilleslijper in ihren Erinnerungen.
Anne Frank schrieb ihr Tagebuch mit der Intelligenz, dem Zorn, dem Spott und der Empfindsamkeit eines ganz normalen heranwachsenden Menschen. Dieser Mensch wurde von den Nazis zertreten.
Meine Tante Marieluise wuchs in der Nazizeit geborgen heran, und nie hat ihr ein Polizist oder SS-Mann zu verstehen gegeben, dass ihr Leben nichts wert sei. Ihr Leben brach erst zusammen, als das Nazireich zusammenbrach. Das überstand sie ganz gut, schloss die Schule ab, erlernte einen Beruf, heiratete, bekam vier Kinder, zehn Enkel.
Zwei deutsche Biographien des Jahrgangs 1929. Das Mädchen Marieluise durfte sein Leben leben, weil es einen Ahnenpass vorweisen konnte, der dem Nazi-Regime genehm war, das Mädchen Anne wurde ausgegrenzt, verfolgt, ermordet, weil in seinen Papieren die jüdische Abstammung stand. Als das Leben nach dem Krieg für Marieluise neu begann, war das von Anne schon vorbei.

Ich denke viel an Anne Frank, viel mehr als an meine Tante.
Ich denke an Anne Frank, wenn ich Schulkinder nach dem Unterricht kichernd Eis essen sehe. Wenn ich ein halbleeres Blatt Papier wiederverwende, weil sie einst vollgeschriebene Seiten ihres Tagebuchs zwischen den Zeilen neu beschrieb, als es kein Papier mehr gab. Ich denke an sie, wenn ich einen besonders schönen Kastanienbaum sehe, wenn ich Fahrrad fahre im Sommerwind.

Foto: Gemeinfrei, Wikimedia,