Kultur

Zeichen und Spuren

Zum Tod von Nanni Balestrini

Von Jürgen Schneider

Nanni Balestrini (Foto: Archiv JS)

Nanni Balestrini (Foto: Archiv JS)

Nanni Balestrini starb in der Nacht von Sonntag auf Montag in Rom. Er war hierzulande vor allem wegen seines Romans »Wir wollen alles« bekannt. In dem 1971 veröffentlichten und von Peter O. Chotjewitz ein Jahr später ins Deutsche übertragenen Buch ist der Protagonist der Massenarbeiter, der Arbeiter, der in der Fabrik steht, am Fließband malocht, auswechselbar ist. Und dieser Massenarbeiter erzählt von der Fabrik und von den Kämpfen in der Fabrik – zwei Dinge, die zusammengehören. Das persönliche Leben dieses Massenarbeiters interessiert Balestrini im Buch nicht weiter, auch nicht die Theorie des Massenarbeiters. Ihn interessiert vor allem dessen »Sicht der Kämpfe«: »Und dann versetzen wir den Materialkisten Fußtritte, um Rabatz zu machen, einen heftigen, dumpfen Radau, tututu tututu tututu, zwei Stunden dauert dieser Heidenkrach, zwischendurch halten wir Versammlungen ab, mal am Nordende der Bänder, mal im Süden der Bänder. Kreuz und quer laufen wir durch die Bänder, und dabei schreien wir alle im Chor: Mehr Geld, weniger Arbeit! Oder: Wir wollen Alles! Immer die Bänder auf und ab, und dabei machen wir Versammlungen. Bis zum Feierabend.«

In Balestrinis Vorwort zur deutschen Neuauflage von »Wir wollen alles« (Assoziation A, 2003) heißt es: »Eine neue Epoche erwartet die Menschheit, befreit von der Notwendigkeit und Mühsal der Arbeit, befreit von der Sklaverei des Geldes. Dies ist die Bedeutung der alten Parole, die auch heute und morgen ihren Sinn und ihre Gültigkeit nicht eingebüßt hat: Wir wollen Alles!«

Bereits 1966 war Balestrinis Roman »Tristano« bei Feltrinelli als »normales« Buch erschienen. Der Autor gliederte seinen »Tristano« in 200 Abschnitte zu jeweils 15 Zeilen und ließ errechnen, wie oft man diese 200 Textbausteine permutieren kann. Dann wartete er auf die programmgesteuerte Druckmaschine, die in der Lage wäre, lauter Einzelausgaben zu drucken.
Mehr als 40 Jahre später ermöglichte die digitale Drucktechnik die Umsetzung dieses Projekts: Balestrinis spielerische Hommage an die klassische Geschichte von Tristan und Isolde, die eine nicht-hierarchische, nicht-chronologische Lesart vorgibt, erschien in einer Auflage von 2.000 nichtidentischen Exemplaren und mit einem Nachwort von Umberto Eco zunächst in Italien, 2009 im Suhrkamp Verlag in der Übersetzung von Peter O. Chotjewitz. Der schrieb über »Tristano«: »Balestrini hat das Dogma der einmaligen und definitiven Originalversion eines literarischen Werks aufgehoben und das Gutenbergzeitalter, das stets nur identische Exemplare einer Schrift reproduzieren kann, hinter sich gelassen. Allein die rechnerisch denkbare Zahl zeigt, dass die derzeitige Weltbevölkerung nur ein Zehntel des Romans ›Tristano‹ lesen könnte, sogar weniger.

Balestrinis Buch ist für das ganze Universum nicht zu wenig. Um das zu begreifen, sollte jeder mindestens zwei Exemplare kaufen, was kein Risiko ist. Es gibt keine zwei gleichen Ausgaben des Romans. Wir haben am morgendlichen Frühstückstisch zu dritt drei Exemplare gleichzeitig gelesen – die Exemplare 7 945, 7 946 und 7 947 ›von 109 027 350 432 000 möglichen Romanen‹, wie es auf dem Cover heißt, wo auch die Nummer jedes Exemplars vermerkt ist. Das vierte Familienmitglied hat zugehört und bestätigt: Sie sind ungleich. Im Grunde ist der Roman eine Sache für Lesegesellschaften. Auch dies eine Institution aus Omas Zeiten. Also gründen Sie eine und lesen Sie sich das Buch reihum vor. Absatz für Absatz. So wird Lesen, Zuhören wieder zur Meditation. Ich habe das Buch im Krankenhaus übersetzt. Es hat mir sehr geholfen.«

Nanni Balestrini, Potere Operaio (1971), zuletzt gezeigt in seiner interdisziplinären und transnationalen Ausstellung Ottobre Rosso, Fondazione Mudima, Mailand, Okt./Nov. 2017 (Foto: Archiv JS)

Nanni Balestrini, Potere Operaio (1971), zuletzt gezeigt in seiner interdisziplinären und transnationalen Ausstellung
Ottobre Rosso, Fondazione Mudima, Mailand, Okt./Nov. 2017 (Foto: Archiv JS)

Hierzulande wird Nanni Balestrini gerne reduziert auf den Romancier des Operaismus. Doch er war mehr als das, so viel mehr, dass viele Tage benötigt würden, alles aufzuschreiben: Dichter (sein »Tape Mark I« von 1961 gilt als das erste Gedicht, das je auf einem Computer geschrieben wurde), Mitbegründer der neoavangardistischen Gruppe 63 (bei der die politischen Ideen sich in den Kunstformen widerspiegeln, Form und Inhalt zueinander passen sollten), Verlagslektor (bei Feltrinelli), unbeirrbarer Zeitschriftenmacher (»Il Verri«, »Quindici«, »Compagni«, »Alfabeta«, »Zoooom«, zuletzt online »Alphabeta2«), das verlegerische Dienstleistungszentrum »Area«, das Kleinverlagen dabei hilft, ihre Bücher auch gegen den Druck der großen Häuser zu veröffentlichen, Verfasser der poetischen Oper »Elettra« (mit Musik von Luigi Cinque), Chronist der linksautonomen Bewegung (»Die Goldene Horde«, gemeinsam verfasst mit Primo Moroni), unermüdlicher Organisator von Literaturfestivals (etwa in Rom 1999, wo ich gemeinsam mit dem Heidelberger Wort- und Niederfrequenz-Werker Jörg Burkhard auftreten durfte), Förderer jüngerer Kolleginnen und Kollegen, deren Arbeit Nanni schätzte, sowie last, but not least, bildender Künstler, der 1993 an der Biennale von Venedig und 2012 an der documenta (13) in Kassel teilnahm.
Nanni Balestrini war Mitte der 1990-er Jahre als Künstler an der von mir kuratierten letzten Ausstellung der galerie + edition caoc am Prenzlauer Berg mit dem Titel »Small World – Small Works« beteiligt. Nanni und ich durchstreiften gemeinsam Berliner Galerien und Museen, und eines abends kreuzte er bei mir auf und verkündete, er habe eingekauft und werde nun für uns kochen. Seine Pasta mit Brokkoli wird mir als die beste in Erinnerung bleiben, die ich je gegessen habe.

Als Nanni 2004 die Ausstellung »Mon coeur mis à cru e altre opere su carta« in der Pinacoteca comunale des in den Marken gelegenen Universitätsstädtchens Macerata vorbereitete, in der er sich mit seiner Herzoperation auseinandersetzte, wollte er rasch noch einige neue Wortcollagen erstellen. Also drückte er meinem in Macerata lebenden Freund Reinhard Sauer und mir einen Stapel Tageszeitungen in die Hand und bat uns, interessante Überschriften und Textpassagen für ihn auszuschneiden, die er dann zu Collagen montierte.

Als 2011 im Karin Kramer Verlag mein Roman »RMX« erschien, urteilte Nanni, der eine deutsche Mutter hatte und deswegen ganz passabel Deutsch lesen konnte: »Ein besonders hervorragendes Buch.«

Zu seinem 80. Geburtstag im Jahre 2015 gaben Thomas Atzert, Andreas Löhrer, Reinhard Sauer und ich das Buch »Nanni Balestrini. Landschaften des Wortes« heraus (Hamburg/Berlin: Assoziation A). Darin wird neben dem Romanautor auch der Dichter und Künstler Balestrini gewürdigt. Das Buch wurde in Wien und Berlin vorgestellt, und es war mir eine große Ehre, die Bühne mit Nanni teilen zu dürfen.

Zuletzt sah ich Nanni vor zwei Jahren im Karlsruher ZKM. Begeistert führte er durch seine im Rahmen der Reihe »Poetische Expansionen« gezeigten Ausstellung »Wer das hir liest braucht sich vor nichts mehr zu fürchten«, die von Nanni nach einem Berliner Fundstück benannt war. Das ZKM widmete ihm erstmals eine Ausstellung, »die einen umfassenden Einblick in sein visuell-poetisches Oeuvre gibt. Collagen und Cut-Ups aus Bildern, Texten und Filmsequenzen zeigen ein Lebenswerk, das sich gegen die Trägheit der Sprache wandte und damit gegen die Erstarrung des Denkens und Handelns. Sie zeigen jene möglichen Welten, die wir nicht wagen sowie jene, die wir übersehen haben.« (ZKM)

Nanni Balestrini. Landschaften des Wortes. Buchvorstellung im Roten Salon der Volksbühne. Von links nach rechts: Andreas Löhrer, Jürgen Schneider, Nanni Balestrini, Reinhard Sauer, Thomas Atzert. Im Hintergrund: Projektion des Filmes TRISTANOIL von Balestrini. (Foto: Uta Baatz).

Nanni Balestrini. Landschaften des Wortes. Buchvorstellung im Roten Salon der Volksbühne. Von links nach rechts: Andreas Löhrer, Jürgen Schneider, Nanni Balestrini, Reinhard Sauer, Thomas Atzert. Im Hintergrund: Projektion des Filmes TRISTANOIL von Balestrini. (Foto: Uta Baatz).

Nach der Facebook-Nachricht von Nannis Tod von seinem italienischen Verlag DeriveApprodi zitierte die Tageszeitung »La Repubblica« aus einem Interview mit ihm: »Eine Revolution ist nicht etwas, das sich – wie man denkt – in einem Augenblick ereignet, sondern sie setzt sich aus Spuren und Zeichen zusammen, die zu etwas hinführen, die eine Richtung weisen. Die Revolution ist ein Signal, das seine Zeit braucht, um auszubrechen: sie braucht auch ein oder zwei Jahrhunderte, um die Dinge zu verändern.«

Wenn dem so ist, lieber Nanni, hättest Du noch eine Weile bei uns bleiben können. Grazie mille für alles und »eine atmosphäre die reich ist an freude und verstörung« (wie es in Deinem Gedicht »Empty Cage« heißt).