Es könnte also sein, dass viele Merkmale, die den Ostdeutschen zugeschrieben werden, älterer Provenienz als die DDR sind. Und selbst wenn das nicht stimmt, bleibt doch, dass die Vorurteile gegenüber den Ostdeutschen tiefe Wurzeln haben.
Von Guillaume Paoli
(Aus telegraph #129/130)
Vor ein paar Jahren geht eine Frau, Gabriela S., vor das Arbeitsgericht, weil ihre Bewerbung für eine Stelle abgelehnt wurde. Auf ihrem zurückgesendeten Lebenslauf befand sich der Vermerk „Ossi“ mit einem Minuszeichen versehen. Um eine Entschädigung zu fordern, beruft sie sich auf das Grundgesetz, wonach eine Benachteiligung aufgrund der ethnischen Herkunft verboten ist. Also muss das Gericht entscheiden, ob die Ossis eine Ethnie sind. Nach langen Verhandlungen wird die Klage zurückgewiesen mit der Begründung, schließlich habe die DDR „nur wenig mehr als eine Generation“ eine eigenständige Entwicklung genommen. Die Zeitspanne sei zu kurz für die Herausbildung eines Volksstamms gewesen.
Nun, ich möchte jetzt nicht den Begriff der „Ethnie“ diskutieren, dessen Definition ohnehin schwammig ist. Aber wäre ich der Rechtsanwalt von Gabriela S. gewesen, hätte ich versucht zu argumentieren, dass die Ostdeutschen eine viel ältere Bevölkerungsgruppe als die DDR sind. Die Elbe war ja bereits vor Jahrhunderten ein Grenzfluss, der das römisch-imperiale Einflussgebiet von der unzivilisierten Germania slavica trennte. Natürlich waren die kleinen Siedlungen dort eher ihren slawischen Nachbarn zugewandt, als den fernen Staaten im Westen. Aus dem Westen kamen dann die Raubritter, um sie zu überfallen und zu unterjochen. Da lief ein regelrechter Western ab, nur Jahrhunderte früher und in die andere Richtung gedreht, ein Ostern sozusagen. Dies mag erklären, wieso im Osten Karl May und Indianer-Rollenspiele heute noch so beliebt sind. Und wir können annehmen, dass nach der Wende die Ankunft westdeutscher Neueigentümer und Manager als eine Art Wiederholung der Urszene erlebt wurde. Es kursierte ja die ironische Parole: „Bauernland in Junkerhand.“ Viel früher als von der SED wurde von den Junkern bereits eine Kommandowirtschaft praktiziert, die den Untertanen kaum Handlungsspielräume überließ. Eine bleibende Folge davon ist die kulinarische Misere in Mecklenburg-Vorpommern oder in Brandenburg. Nicht der Staatssozialismus ist daran schuld, dass dort der hungrige Besucher auf Asia-Imbisse und schlechte Pizzerias angewiesen ist. Eine Kochtradition gab es nie, weil es nie ein freies Kleinbauerntum gab. Hingegen hat die Kochkunst in Thüringen die DDR gut überstanden, weil Thüringen kein Junkerland war und der DDR eher zufällig angeschlossen wurde.
„Ostelbier“ – das war im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein gängiger Begriff, der von den Restdeutschen meist abwertend gemeint war. Eine der ersten Schriften Max Webers ist der „Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ gewidmet, und die Beschreibung hört sich wie eine Vorankündigung der DDR-Verhältnisse an: „Der mangelnde spezifisch geschäftliche Erwerbssinn der Herren und die stumpfe Resignation der Arbeiter ergänzten einander und waren die psychologische Stütze der Betriebsweise wie der politischen Herrscherstellung der Grundaristokratie.“ Auch das Wort „Halbrussen“, womit DDR-Bürger im kalten Krieg beschimpft wurden, hatten bereits die Nazis verwendet. Im zweiten Weltkrieg wurden die Bewohner der Ostgebiete verdächtigt. ihrer nicht rein germanischen Herkunft wegen sich der roten Armee allzu leicht zu ergeben.
Es könnte also sein, dass viele Merkmale, die den Ostdeutschen zugeschrieben werden, älterer Provenienz als die DDR sind. Und selbst wenn das nicht stimmt, bleibt doch, dass die Vorurteile gegenüber den Ostdeutschen tiefe Wurzel haben. Wenn Thilo Sarrazin behauptet, „in Schwaben wird es immer mehr Maschinenbau und mehr Unternehmertum geben, als in der Uckermark“, dann bezieht er sich nicht auf die jüngere Geschichte, sondern auf eine quasi biologische Differenz, wahrscheinlich ein Ost-Gen, das die Menschen im Kampf ums Dasein benachteiligt. Natürlich ist das Unfug, aber wenn der Unfug von vielen Menschen geteilt und propagiert wird, führt er tatsächlich zu einer ethnisch begründeten Diskriminierung.
Wenn über die Ostdeutschen gesprochen wird, dann meistens nach der Prämisse, diese hätten spezifische Charakterzüge, die von den EU-Normen abwichen. Und es wird implizit oder explizit angenommen, dass diese Besonderheiten eine Hinterlassenschaft der SED seien. Mit anderen Worten: Der sozialistische Staat hätte es tatsächlich geschafft, den neuen Menschen nach seinem Vorbild zu modellieren. Das ist natürlich Quatsch. Gerade weil der Staatssozialismus seinen utopischen Neumenschen nicht verwirklichen konnte, konnten sich in der Bevölkerung bereits vorhandene Charakterzüge und Umgangsformen erhalten. Und wenn schon neue Aspekte sich zur DDR-Zeiten entwickelt haben, dann nicht positiv von der Partei geplant, sondern ungewollt, als Nebeneffekte und meistens, um die Lücken des Systems auszugleichen. Es ist mit den Menschen wie mit der Landschaft. Man fährt im Osten auf gepflasterten Alleen, bewundert die alten Bäume, und Dörfer, die nicht wie Puppenhäuser aussehen, das Auge wird nicht ständig von der Werbung angegriffen – doch hat dieser besondere Charme gar nichts mit Sozialismus zu tun sondern mit Ursprünglichkeit.
Da war die BRD viel erfolgreicher. Der sozialistische Neumensch ist nicht zum Leben erweckt worden, wohl aber der rheinisch-kapitalistische. Dieser wäre die historische Besonderheit, die es zu untersuchen gälte. Um nur ein Beispiel zu nennen: In den spätvierziger Jahren gab es kaum einen Unterschied zwischen Arbeitertraditionen im Ruhrgebiet und in Sachsen. Nur haben sich in Sachsen diese Traditionen zumindest bis zur Wende erhalten, während sie im Ruhrgebiet längst verschwunden sind. Also ist der entscheidende Punkt nicht, wie wir so oft hören, dass der Sozialismus in seinem Versuch, den Menschen zu verändern, gescheitert ist. Nein, der entscheidende Punkt ist, dass diese Veränderung dem Kapitalismus gelang.
Vielleicht wird da der Leser denken, dass ich viele Stereotypen bemühe. Zu Recht. Aber Stereotypen sind wichtig, weil Menschen sich doch nach Stereotypen verhalten. Identität und Nicht-Identität lassen sich nicht empirisch belegen, Gefühle nicht wissenschaftlich ermessen. Ohnehin können Aussagen über den Osten und den Westen keine objektive Genauigkeit haben. Da muss man sich bestenfalls mit dem Urteil zufrieden geben: Es ist was dran.
Meine These wäre, dass der Osten die westliche Kulturgrenze der BRD durchlässiger machte. Damit wird zweierlei impliziert: Erstens, dass es zwischen Frankreich und Westdeutschland eine stark markierte Kulturgrenze gibt, zweitens, dass den Franzosen die Ostdeutsche Mentalität auf gewisse Weise vertrauter ist als die ihrer unmittelbaren Nachbarn. Der erste Punkt ist, glaube ich, ziemlich offensichtlich. Vor einiger Zeit erschien in Frankreich ein Buch über den französisch-deutschen Ideenverkehr mit dem schönen Titel: „Im Garten der Missverständnisse.“ Es ist frappierend, wie sich mindestens seit der Aufklärung beide Länder mit den gleichen Themen, den gleichen Problemen auseinandersetzen, doch jeweils auf eine eigene Art. Sei es in der Kunst, in der Geisteswissenschaft, in der Literatur oder der Mode, die Geschichte zeugt von einer frappierenden Parallelität und einer ebenso frappierenden Quasi-Abwesenheit von Überbrückungen. Der Punkt ist, glaube ich, ziemlich bekannt und gut dokumentiert, darum werde ich jetzt nicht darauf näher eingehen. Meine zweite Hypothese, die größere emotionale Nähe der Franzosen zu Ostdeutschland, ist schwieriger zu belegen. Da kann ich mich nur auf persönliche Eindrücke und Diskussionen beziehen, wobei der außergewöhnliche Erfolg in Frankreich von Filmen wie „Goodbye Lenin“ oder „Das Leben der Anderen“ auch als Symptom gedeutet werden kann.
Ich kann mich aber auch auf meine eigene Erfahrung beziehen, und diese Überlegungen sind auch für mich ein Versuch, die eigene Wahrnehmung zu begreifen. Ich war als Jugendlicher ein paar Mal in der BRD, kam mit der festen Überzeugung zurück, ich hätte in diesem Land nichts zu suchen und hielt mich lange Zeit davon fern. Hingegen kam ich vor fünfundzwanzig Jahren in die Noch-DDR und erfuhr sofort ein familiäres Verhältnis zu ostdeutschen Menschen. Seltsamerweise kam mir dort vieles bekannt vor. Eine Zeit lang hatte ich sogar fast nur Kontakt zu Ossis. (Zugegeben: auch mal zu Westberlinern, aber auch sie grenzen sich stark vom gemeinen Wessi ab). Es ist nicht, dass ich westdeutsche Beziehungen abgelehnt hätte, sie ergaben sich einfach nicht. Natürlich hat sich die Lage nach und nach normalisiert. Wenn ich heute mit Deutschen in Verbindung bin, weiß ich oft nicht einmal, woher sie stammen und es ist meistens nicht die unmittelbare Frage, die sich stellt. Aber selbst diese Annäherung zu BRD-Bürgern und zur westdeutschen Kultur erfolgte für mich auf Umwegen, vom Osten aus, sozusagen. Nun, genug Autobiographie. Versuchen wir, die Hypothese einigermaßen plausibel zu machen.
Ich habe vorhin die gescheiterte Transformation der DDR und das dadurch entstandene Gefühl einer größeren Ursprünglichkeit erwähnt. Was Frankreich betrifft, selbstverständlich hat das Land denselben grundlegenden Transformationsprozess wie die BRD hinter sich. Nur sind die Franzosen rückwärts dahin gelaufen, mit den Augen immer nach hinten gerichtet, nach Traditionen, die einen umso größeren symbolischen Platz annahmen, als sich von ihnen die erlebte Wirklichkeit entfernte. Jeder weiß das doch: Das gute Leben, das gute Essen, die Witze, das Akkordeon, der Aperitif, die Kunst, sich Zeit zu lassen, all diese Dinge, die vom Kino und von der Werbung ständig zelebriert und von den Touristen eifrig gesucht werden, all diese Dinge haben mit dem Leben von 95% der heutigen Bevölkerung nicht im Geringsten zu tun. Dennoch machen sie den Großteil des Selbstbildes der Franzosen aus. Da hätten wir vielleicht eine erste Komponente, die Franzosen und Ostdeutsche verbindet: die nostalgische Selbsttäuschung. Das meine ich gar nicht abwertend, im Gegenteil: die Sehnsucht nach Identität, nach Wurzeln, kann meines Erachtens eine durchaus positive, dynamische Rückkoppelung haben. Ohne Wurzeln sehen wir wie anorganisch kultivierte, holländische Tomaten aus.
Ich möchte aus einem interessanten Dokument zitieren, nämlich einem Ratgeber, den die Industrie- und Handelskammer für Manager und Unternehmer herausgegeben hat, die Geschäftsbeziehungen mit Franzosen aufnehmen möchten. Es ist deswegen interessant, weil da auf praktische Erfahrungen zurückgegriffen wird, mit dem Ziel, Mentalitätsunterschiede möglichst zu glätten. Diese Unterschiede werden ziemlich derb auf die Formel zusammengebracht: „Die Deutschen lieben die Franzosen, nehmen sie aber nicht wirklich ernst; die Franzosen bewundern die Deutschen, lieben sie aber nicht wirklich.“ Demnach versuchten die ersten, geliebt, die zweiten ernst genommen zu werden. Was genau französischerseits ernst genommen, doch nicht geliebt wird, ist bekannt. Es sind die vermeintlichen Tugenden, womit die Deutschen assoziiert werden: Ordnung, Genauigkeit, Organisation, Fleiß, Pünktlichkeit, Effizienz und eine Höllenangst vor Chaos und Improvisation. In Frankreich gelten diese Tugenden als vorteilhaft, gewiss, aber niemals liebenswert. Sie gehören zur Zweckrationalität, zum Reich der Notwendigkeit, doch ohne Verstöße gegen diese Tugenden wäre das Leben grau und traurig. Auch das darf man nicht für bare Münze nehmen. Wir sind wieder im symbolischen Bereich der Selbstdarstellung. In der Wirklichkeit ist die Arbeitsproduktivität nicht geringer in Frankreich, als in Deutschland. Nur gehört es selbst für ein französisches Arbeitstier zum gutem Ton zu behaupten, am liebsten sei es faul, während der deutsche Faulenzer zu behaupten pflegt, er stürze sich ganz gern in die Arbeit.
Lange Zeit spielte der stereotypische Blick auf die Deutschen auch eine Rolle in der Bewertung der DDR. Es wurde weitgehend geglaubt, dass der Sozialismus, der in der Sowjetunion oder in Polen erfolglos war, in Ostdeutschland dank der preußischen Tugenden der Bevölkerung wirklich funktionierte. Mit der Wende wurde mit Erleichterung vernommen, dass dies gar nicht der Fall war. Ganz im Gegenteil, die ostdeutschen Bürger hatten sich mit dem verwalteten Chaos und der geringen Produktivität bestens arrangiert. Von Fleiß, Pünktlichkeit und Effizienz keine Spur. Besser noch: Zwischen den ersten Montagsdemos und der deutschen Einheit herrschte im Lande ein Zustand, den Christoph Links „das wunderbare Jahr der Anarchie“ genannt hat. Da legten die Bürger völlig unerwartete Tugenden zu Tage wie Spontaneität, Selbstorganisation und Ungehorsam. Endlich herrschte eine revolutionäre Stimmung in Deutschland! Zweifelsohne hat diese Sympathie eine Rolle in der außergewöhnlichen Großzügigkeit gespielt, mit der die ersten Trabitouristen im Sommer 1990 von Franzosen empfangen wurden.
Doch zurück zum Benimm-Kodex der IHK. Empfohlen wird, die besonderen gallischen Sitten zu berücksichtigen, vor allem natürlich die zentrale Stellung des Essens. Viel schwieriger sei aber die richtige Kommunikationsebene herzustellen:
„Um Franzosen für Ihr Verhandlungsziel zu gewinnen, sollten deutsche Geschäftsleute „sympathisch“ wirken. Franzosen sind sehr emotional. Wenn Sie gemocht werden, ist der erste Schritt für eine Geschäftspartnerschaft schon getan. Sich öffnen und sich als Mensch zeigen, das wirkt oft Wunder bei Franzosen.“
Es sagt wahrscheinlich nichts über den Deutschen an sich, wohl aber über den deutschen Unternehmer, dass die IHK es für nötig hält, ihm zu raten, er solle sich als Mensch zeigen. Doch ist die Sache nicht so einfach, denn:
„Gesprächsthemen sind mit Bedacht zu wählen. Der deutsche Besserwisser kommt in Frankreich nicht gut an. Die deutsche Direktheit gegenüber den Franzosen wird demnach als Beweis für den deutschen Machtanspruch und nicht als Aufrichtigkeit empfunden.“
Hier lässt sich eine klare Parallele zu den gestörten deutsch-deutschen Beziehungen, der sprichwörtlichen „Mauer in den Köpfen“ ziehen. Wir wissen ja, wie die Figur des „Besserwessis“ die Nachwende vergiftet hat. Zumal der Machtanspruch der West-Ankömmlinge oft real genug war. Es waren ja in erster Linie neue Hauseigentümer, neue Chefs sowie Studenten, die die Einheimischen Demokratie lehren wollten. Also können wir annehmen, dass die Wahrnehmung der Westdeutschen in Frankreich und in der DDR eine ähnliche war und analoge Kränkungen auslöste. Vielleicht hätte es damals geholfen, wenn die IHK auch einen Benimm-Ratgeber für den Umgang mit Ostlern veröffentlicht hätte. Das hielt sie nicht für nötig. Als einmal ein westdeutscher Geschäftsmann von einem französischen Journalisten über seine Geringschätzung des Ostens befragt wurde, sagte er: „Ich weiß, dass bestimmte Dinge für Sie normal sind, aber von meinen Landsleuten kann ich sie nicht akzeptieren.“
Doch nicht nur der Blick auf die Westdeutschen verbindet ihren Ost- mit ihrem Westnachbarn. Eine andere Gemeinsamkeit ist offensichtlich. Im Unterschied zur BRD hatten wir in Frankreich eine starke kommunistische Partei, die in der Gesellschaft eine zentrale Rolle spielte. Zwar ist die KPF nur zweimal kurz an der nationalen Regierung beteiligt gewesen, dennoch hatte sie bis in die spätachtziger Jahre eine quasi-hegemoniale Macht in zahlreichen Stadträten, Betriebsgewerkschaften, Bauernverbänden, Verwaltungen und Vereinen. Lange Zeit hat sie auch das intellektuelle Leben des Landes geprägt. Wurde ein Autor in den fünfziger Jahren von der KPF als „Hitlero-Trotzkyst“ oder „geile Natter“ beschimpft, dann hatte er keine Chance mehr, einen großen Verlag zu finden. Noch in den sechziger Jahren konnte Sartre über Foucault schreiben, dieser sei „die letzte Waffe der Bourgeoisie im Kampf gegen den Marxismus“ (wobei er vielleicht nicht ganz unrecht hatte). Zwar musste sich Foucault nicht deswegen fürchten, von der Staatssicherheit verhaftet zu werden, doch blieb die Anklage nicht ohne Konsequenz für seine damalige Rezeption. Sie zeugt vor allem von dem politischen Klima jener Zeit. Das heißt, selbst wer nicht in der Partei war, musste sich nichtsdestotrotz gegenüber der Partei positionieren – und wer sich nicht positionierte, dem wurde umso mehr eine feindliche Haltung unterstellt. Also waren viele Franzosen mit dem Duktus, den Denkschablonen und der Paranoia des Parteiapparats bestens vertraut.
Um ein persönliches Beispiel zu erwähnen: Mit siebzehn hatte ich meinen ersten Job bei der kommunistischen Gewerkschaft CGT. Davon wurde ich nach einem kleinen Schauprozess mit der Begründung entlassen: Schuld an der Misere der Arbeiterklasse seien kleinbürgerliche Anarchisten wie ich. Fortan stand ich auf einer schwarzen Liste, was selbstverständlich keine schwerwiegenden Folgen hatte. Es ließen sich andere Arbeitgeber finden. Aber wenn ich mit DDR-Bürgern spreche, müssen sie mir nicht lange erzählen, wie es damals mit den Funktionären war. Andeutungen und Witze werden sofort verstanden.
Um es noch einmal zu betonen: Gemeint sind nicht politische Gemeinsamkeiten, sondern kulturelle und psychologische Aspekte. Nehmen wir als Beispiel die heroische Verdrängung. Wir wissen, wie in der BRD die Nazi-Vergangenheit behandelt wurde. Bis 1968 herrschte das komplette Schweigen, danach die schuldbeladene Aufarbeitung. In der DDR erfolgte ein anderes Modell, nach der bekannten Mär: Die Arbeiterklasse hat den Faschismus siegreich bekämpft, alle Nazis sind im Westen, und die Partei ist der Garant für die Unschuld der Bevölkerung. So unglaubwürdig die Erzählung, sie war hilfreich, um sich der Vergangenheit zu entledigen. Nun konnte man optimistisch in die Zukunft schauen. Dasselbe Szenario der heroischen Verdrängung herrschte in Frankreich. Gegen die Besatzer hatte die selbsternannte „Partei der 75000 Hingerichteten“ und hinter ihr das ganze Volk einen heroischen Widerstand geleistet. So konnte einiges unter den Tisch gefegt werden. Zum Beispiel, dass die Deportation der Juden von französischen Behörden, französischen Polizisten, französischen Eisenbahnern unter dem gleichgültig bis zustimmenden Blick der Bevölkerung durchgeführt worden war.
Gewöhnlich wird Verdrängung als etwas Schlechtes betrachtet. In der Bewältigung einer traumatischen Erfahrung kann aber Verdrängung eine durchaus positive Rolle spielen. Sie ermöglicht einem, das Blatt zu drehen, anstatt in eine fortdauernde Trauerarbeit zu versinken. Vor allem führt die heroische Verdrängung, zu keinem schamgeladenen Schweigen, im Gegenteil wird viel über das Trauma gesprochen, gilt sie doch als definitiv überwunden. Und wir können annehmen, dass selbst die Parteilosen der Partei für diese Lebenslüge dankbar waren. Wie auch immer, die Art der Vergangenheitsbewältigung hat eine vorhandene Differenz verstärkt, die zur kulturellen deutsch-französischen Grenze erheblich beiträgt.
Wenn am Stammtisch von der angeblichen Dummheit oder dem Egoismus des Volkes die Rede ist, wird der Deutsche gewöhnlich sagen: „So sind die Deutschen“. Niemals werden Sie einen Franzosen sagen hören: „So sind die Franzosen“. Er wird sagen: “die Menschen sind doof“, „die Menschen sind egoistisch“ usw. Das heißt, wo der Deutsche eine Meinung über den besonderen, nationalen Charakter äußert, geht der Franzose gleich zur allgemeinen, anthropologischen Ebene über. Der Franzose wird von dem Deutschen denken, dieser sei unfähig, über den partikularen Tellerrand zu schauen, der Deutsche wird dem Franzosen wiederum vorwerfen, er mache es sich mit der eigenen Verantwortung zu leicht. Und wahrscheinlich haben beide Recht. Dieser Unterschied hat tiefe historische Gründe. Da muss man mindestens auf Napoleon zurückgehen, der andere Länder überfiel, nicht in Namen der eigenen Nation, sondern in Namen der Freiheit, der Menschenrechte und des Universalismus. Um Mensch zu sein muss man erst einmal Franzose werden. Heute noch staunen französische Touristen, dass in anderen Ländern kein französisch gesprochen wird. Nun, wie wir wissen, entstand die deutsche Nation im Befreiungskampf gegen die französische Besatzung. Da das Universale bereits von Frankreich beansprucht war, hob der deutsche Nationalismus das Besondere hervor, den Sonderweg, die besondere Mission. Diese Vorstellung kulminierte mit den Nazis, doch mit ihrem Untergang hörte sie nicht auf. Im Gegenteil, seitdem wird ständig mit der besonderen Schuld, der besonderen Verantwortung der Deutschen argumentiert. So sind die Deutschen.
Nun, mit der DDR wird die Sache komplizierter. Aus westdeutscher Sicht sind die Ostdeutschen eine Besonderheit innerhalb der Besonderheit, da sie noch eine zweite Diktatur erduldet haben. So kann ein Schuldtransfer stattfinden. Wenn am Stammtisch von Stasi-Geschichten die Rede ist, sagt der Westkunde nicht: „So sind die Deutschen“, sondern „So sind die Zonis“ anders gesagt: Wir hätten uns das nicht gefallen lassen. Zumindest diese Schuld haben wir nicht. Heute noch wird von Ostdeutschen erwartet, dass sie sich ausdrücklich vom Unrechtsstaat distanzieren und ihre demokratische Assimilierung unter Beweis stellen. Und dagegen weigern sie sich. Eine kollektive Schuld wird nicht anerkannt. Wenn im Osten furchtbare IM-Geschichten erzählt werden, dann wird nicht auf die subnationale Schuld, sondern auf die Schwäche, die dunkle Seite der Conditio humana verwiesen. Also nicht: So sind die Ostdeutschen, sondern: So sind die Menschen. Paradoxerweise wird hier also die Negation des Besonderen zum Bestandteil des kollektiven Selbstbewusstseins. Indessen sind die Ostdeutschen ein bisschen Franzosen geworden.
Das Wort Gesellschaft hat zwei Bedeutungen. Gesellschaft ist einerseits eine große Anzahl von Personen, die miteinander verknüpft sind, (nennen wir es Gesellschaft A), es ist andererseits eine Form, ein System, (nennen wir es Gesellschaft B). Die „italienische Gesellschaft“ ist vom Typ A, die „kapitalistische Gesellschaft“ vom Typ B. Aus historischen Gründen, die ich jetzt nicht ausführen werde, wird in der BRD viel weniger zwischen Gesellschaft A und Gesellschaft B unterschieden, als in Frankreich. Wenn hier jemand „unsere Gesellschaft“ sagt, weiß man nie genau, ob er die Anzahl der Menschen oder das soziale System meint. Die Gegenüberstellung wird er gar sinnlos finden, er wird sagen: Wir sind alle Teil des Systems, wir sitzen in einem Boot. Selbst wenn er gegen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich protestiert, dann deswegen, weil das Boot der Gesellschaft auseinander zu brechen droht. Solche Aussagen kommen mir immer seltsam vor. In Frankreich würde kein Mensch „unsere Gesellschaft“ sagen, sondern die Gesellschaft, die da … Zwischen Gesellschaft A und Gesellschaft B wird stark differenziert, was selbstverständlich ein nachhaltiges Erbe der französischen Revolution ist. Mit anderen Worten, es wird eine gewisse Autonomie der Bevölkerung gegenüber dem bestehenden sozialen System postuliert.
Damit komme ich zu einem der größten Missverständnisse zwischen Osten und Westen. Da viele Westdeutsche ohne es gar wahrzunehmen sich mit Gesellschaft B, mit der eigenen Gesellschaftsordnung überidentifizieren, vermuten sie, dass Ostdeutsche, die irgendetwas Positives über ihre Vergangenheit erläutern, sich ebenfalls mit dem damaligen System identifizieren. Wenn Westdeutsche über die DDR sprechen, haben sie ausschließlich ein politisches System im Kopf. Und da dieses System diktatorisch gewesen sei, habe es der Gesellschaft keine Freiräume gelassen. Es ist daher unverständlich, dass Menschen irgendetwas aus dieser Vergangenheit retten oder verteidigen wollen. Doch wenn Ostdeutsche über ihre Erfahrung sprechen, reden sie über etwas ganz anderes, nämlich die Lebensformen und Verhältnisse, die nicht durch die direkte Gestaltung der Partei existierten, sondern unbeabsichtigt, dank der Unfähigkeit des Systems, seine Pläne zu erfüllen. Hinter der offiziellen Vergesellschaftung konnten sich die DDR-Bürger viele Bereiche des sozialen Lebens informell aneignen. Zumindest wurde das in einem Nachwende-Bestseller behauptet, „Der Gefühlsstau“ von dem Ost-Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz. In einem Kapitel mit dem Titel „Die äußere Mangelsituation“ schrieb er Folgendes:
„Beziehungen (im Volksmund: Vitamin B) waren eine Form der gegenseitigen Hilfe durch Abhängigkeit. Wer von einem Bekannten durch dessen Beruf oder Stellung erwarten konnte, irgendwann mal einen Vorteil zu ergattern, dem wurden auch Engpasswaren oder -Dienstleistungen angeboten, aufgehoben und heimlich verkauft. So konnte sich ein einzigartiges Netz von Bestechung, Schieberei, Korruption und Abhängigkeit entwickeln – auch die kleinen Diebstähle aus Betrieben und Baustellen gingen auf diese Verhältnisse zurück. Der heimliche Waren-und Naturalienhandel, durch Schmiergelder in Fluss gehalten, hatte zu einer Situation geführt, die vom Volksmund so zusammengefasst war: Obwohl es nichts gab, hatte jeder alles.“
Wie wir sehen wurde diese Form der Vergesellschaftung nicht vom Staat positiv und gewollt produziert, sie war eine Folge des Systemversagens und der Mangelwirtschaft. Wir haben hier das Beispiel einer spontanen Organisation, die dann entsteht, wenn die Lücken der offiziellen Wirklichkeit genügend Freiräume offerieren. Es ist aber bemerkenswert, wie negativ Maaz diese Situation bewertete. „Schieberei, Korruption, Schmiergelder“, das sind Worte eines Staatsanwalts. Eine solche Anklage könnte ebenso von Ost-Parteifunktionären oder West-Wirtschaftsexperten kommen. Aber was ist daran so schlimm, durch einen informellen Waren- und Dienstleistungsverkehr ein System der gegenseitigen Hilfe zu etablieren? Ist es nicht eher eine positive Leistung, die sogar an ein Wunder grenzt, alles zu bekommen obwohl es nichts gibt?
Überdies sprechen wir nicht von Sizilien, in der DDR gab es doch keine Mafia, das Beziehungsgeflecht verlief horizontal und gewaltfrei. Was ist also dagegen einzuwenden? Als ich Hans-Joachim Maaz mehrere Jahre nach Erscheinung seines Buches diese Frage stellte, räumte er ein, damals noch von dem westlichen Wertesystem verblendet gewesen zu sein. Was er früher als Kränkung betrachtete, nennt er heute eine Tugend. In einem Spiegel-Interview erklärte Maaz, die Ostdeutschen seien „krisentauglicher“ als die Westdeutschen, weil sie „auf verschüttete und abgewertete Fähigkeiten zurückgreifen können; sie können in einer Mangelwirtschaft improvisieren, sich gegenseitig helfen.“
So komme ich auf Frankreich zurück, denn diese Situation zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit einer in lateinischen Ländern weit verbreiteten Mentalität. Damit meine ich einen spontanen Volksanarchismus, welcher paradox mit einer ausgeprägten Staatsgläubigkeit einhergeht. „Vitamin B“ heißt auf Französisch „Système D“ (für „la débrouille“, sich zu helfen wissen). Hoch geschätzt wird derjenige, der sich durch Beziehungen und halblegale Tricks kleine Vorteile verschafft und den Sachzwängen einigermaßen entzieht. Viele Menschen in Frankreich werfen einen nostalgischen, wenn nicht verklärten Blick auf das frühere Leben im Arbeiterviertel oder auf dem Dorf, als der direkte Tauschverkehr soziale Wärme erzeugte. Ich verweise auf die vielen französischen Filme, die auf diese Nostalgie gebaut sind.
In deutschen Medien wird oft über den ausgeprägten Staatsfetischismus der Franzosen gestaunt, und dies zu Recht. Franzosen jammern über Hollande in der gleichen Weise, wie DDR-Bürger Honecker-Witze erzählten. Sie glauben an die quasi imperiale Macht des Staatspräsidenten (eigentlich meckern sie vor allem, weil Hollande seine imperiale Funktion missbraucht). Sie sind überzeugt, dass der Staat imstande ist, alles zu richten, wenn er es nur will. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Denn diese Überzeugung hat auch eine dynamische Komponente. Dem Staat wird deswegen eine große Selbstständigkeit verliehen, weil ihm gegenüber eine Gesellschaft steht, also „Gesellschaft A“, die zumindest an die Möglichkeit der eigenen Selbstständigkeit glaubt. Und das ist keine rein theoretische Idee. Aus Erfahrung weiß man: Die Straße kann immer ein Gesetz kippen. Die Regierung weiß es auch, daher zögert sie noch, die deutschen „Reformen“ zu importieren. Trotz all ihrer Anpassungsbemühungen bleibt „Sozialdemokrat“ ein Schimpfwort. Diesbezüglich vermerkt die vorhin erwähnte Broschüre der IHK:
„Die im Konsens getroffene Entscheidung in der deutschen Politik, die zudem auf Kompromissen beruht, kennt man in Frankreich kaum. Kompromiss ist durchaus ein negativ besetzter Begriff.“
Zurück zu Ostdeutschland. Mit dem Aufstand des Herbstes 1989 trennte sich Gesellschaft A entschieden von Gesellschaft B, wie es die Parole „Wir sind das Volk“ deutlich zum Ausdruck bringt. Deshalb rief dieser Aufstand für Franzosen Erinnerungen an den eigenen Aufstand in dem Mai 1968 wach. Heute liegen diese Ereignisse weit hinter uns. Sie haben aber sichtbare Spuren hinterlassen. Damit meine ich die ironische Distanz gegenüber der aktuellen Gesellschaftsordnung, wie sie im Osten der Republik dekliniert wird, nach dem Motto: Ich habe schon den Untergang des Sozialismus erlebt, den Kollaps des Kapitalismus werde ich auch verkraften. Oder um das schöne Nachwende-Epitaph eines Ostberliner Bauarbeiters zu zitieren: „Eijentlich hat sich hier nichts verändert, außer det Jesellschaftssystem.“
Nun ist seit der Wende ein Vierteljahrhundert vergangen, und es ist gut möglich, dass all diese Überlegungen nur noch historisch relevant sind. In Berlin-Prenzlauer Berg, wo ich wohne, sind über 90% der Einheimischen ausgezogen, um von Wohneigentümern aus dem kapitalistischen Ausland abgesetzt zu werden. In der Leipziger Innenstadt, wo ich arbeite, wird kaum noch gesächselt. Junge Leute, die als die Mauer fiel, Kleinkinder waren, haben von dieser ganzen Problematik keine Ahnung. Sie haben ja andere Probleme zu bewältigen, die Welt ist eine andere, komplexere geworden. Sicherlich sind noch Ostler-Reservate zu finden. Einige haben es sogar geschafft, sich in der neuen Republik zu behaupten. Doch ist die Ausstreuung des Ost-Gedankenguts zu schwach, um das Gesamtspektrum merklich zu beeinflussen. Dennoch wissen wir, wie manche totgeglaubte Vorstellungen und Dispositionen ein unterirdisches Dasein weiter führen, bis sie völlig überraschend wieder zu Tage wieder. Es ist zu hoffen, dass die positiven Eigenschaften des Ostens ein solches Schicksal haben werden.
Guillaume Paoli ist ein deutschschreibender französischer Schriftsteller und
Philosoph. Er lebt in Berlin.
Foto: Wikipedia, bearbeitet