Kultur, Osten

Thomas allein auf der Welt

„Lieber Thomas“, D 2021, Regie: Andreas Kleinert

Von Angelika Nguyen

Copyright Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany (Foto: Peter Hartwig)

Copyright Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany (Foto: Peter Hartwig)

Der Film über den Dichter Thomas Brasch als fiktiver Figur beginnt literarisch. Erst wird ein nackter Frauenkörper mit Filzstift vollgeschrieben (im Traum), dann wird die sechste Strophe seines Textes „Papiertiger“ aus dem Buch „Kargo“ von 1977 komplett aus dem Off rezitiert und eingeblendet. Dazu klappert eine Schreibmaschine, kling. Es sind wohl die bekanntesten Zeilen von Thomas Brasch, ein Widerspruchsreigen, der endet mit dem Satz „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ Oft zitiert nur im Vorbeigehen, vielleicht zu oft. DDR-Utopie, sagen die einen, Heimatlosigkeit, sagen die anderen. Der Film setzt die Strophe jedenfalls geschlossen voran, zerpflückt sie dann in fünf Teile und macht daraus Kapitel, die den Film jeweils kurz in Schriftform unterbrechen. Die Zeilen gucken einen an, wozu? Man weiß nicht so recht.

Geschlagen wird ein riesiger Bogen von 1956 bis 2001, in 150 Minuten. In Schwarz-Weiß. Überlänge. Aber die Sorge, dass es sich um ein langatmiges Biopic handelt, zerstreut sich schnell. Pointiert erzählt der Film, überspringt, baut aus, bewältigt in rascher Montage den gewaltigen Stoff.

Die Handlung fängt mit einem Ereignis in der Kindheit an. In einem schwarzen Tatra-Auto, der DDR-Staatskarosse jener Jahre, fahren Vater Horst und Sohn Thomas durch die Landschaft und schmettern gemeinsam das Lied von der „Hölzern Wurzel“. Die nette Stimmung, man ahnt es schon, verheißt nichts Gutes. Sie halten vor einer Art Schloss, kein Mensch weit und breit. Mit vertrauensvollem Blick auf den Vater lässt der Junge sich abliefern – in der NVA-Kadettenschule. Schon bald darauf, nach kurzen quälerischen Szenen in der Anstalt, bittet Thomas den Vater, ihn von der Schule zu nehmen, aber der lässt nicht mit sich reden, das Kind muss wieder hin. Der erste Verrat.

Das nächste Kapitel springt in die Jugend, da ist schon Hauptdarsteller Albrecht Schuch am Start. Politischer Streit mit dem Vater, durch dessen Funktionärstätigkeit die Staatsmacht praktisch mit am Esstisch sitzt, wird Alltag. Sie schreien sich in der Ostberliner Vollkomfortwohnung an, die Mutter versucht immer wieder, Frieden zu stiften, die kleinen Geschwister als Komparsen. Thomas zieht aus, in eine Hinterhofwohnung im Prenzlauer Berg der frühen 60iger. Die verwahrlosten Altbauten versprechen Freiheit. Frei von Fernheizung, Innentoilette, Schrankwand. Schreibtisch und Stuhl vorm kahlen Fenster, fertig. Schreiben! Und, ja klar – die schönen Frauen! Die reihenweise umfallen, wenn Brasch auf eine Party kommt. Brasch, der Aufreißer, der sensitive Macho. Die brünette Kurzhaarige wird abgelöst von der blonden Kurzhaarigen, die aussieht, als sei sie direkt aus der Zeitschrift „Sybille“ gesprungen, und da nimmt ihn auch schon ein dunkler rumänischer Gesang im Nebenzimmer gefangen, wo er sich augenblicklich in die nächste verliebt. Und natürlich die Ostsee, die jetzt zum Kulturerbe der DDR zählt, die frische Brandung und der Strand, wo Brasch nackt mit einer der Frauen das Leben feiert und mit ihr, paniert mit Sand, küssend herumrollt.

Etwas launig wird die Babelsberger Filmhochschule abgehandelt, eine arrogante, sich aufmüpfig gebende Szene mit Ho-Chi-Minh-Maske, eine Dozentin, die eigentlich auch nur scharf auf Brasch ist, nun ja. Dann wird der Film wieder stark: 1968 als Wendepunkt im Leben des 23jährigen. Eine der Frauen, im wahren Leben Bettina Wegner, bringt Braschs Sohn zur Welt, dem er nie ein Vater wird, und in Prag marschieren gegen den Aufstand für sozialistische Reformen befreundete Truppenverbände ein. Brasch und ein Kreis von Gleichgesinnten verteilen selbst gefertigte Flugblättchen mit einfachen Losungen: „Stalin lebt“ und „Deutsche raus aus Prag“ und „Hoch Dubček“. Dem Prozess um die Anklage der jungen Protestierenden gibt der Film viel Erzählraum, auch Braschs Erlebnissen und Träumen im Gefängnis, ebenfalls der Zeit als Fabrikarbeiter in Oberschöneweide, die Brasch als Sozial-Erfahrung wichtig wird und für sein Schreiben substanziell.

Copyright Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany (Foto: Peter Hartwig)

Copyright Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany (Foto: Peter Hartwig)

Eine glückliche Zäsur stellt Thomas‘ Begegnung mit der kleinen kessen Schauspielerin vom Berliner Ensemble, im wahren Leben Katharina Thalbach, hier leicht verfremdet als „Katarina“, dar, die Regisseur Andreas Kleinert extra und besonders aufbaut. Netzbestrumpfte Beinchen steigen auf einer Theaterbühne aus der Kulisse heraus, dann das Gesicht: tellergroße helle Augen, weicher Mund, kurzes Blondhaar, nur kurz zu sehen, und schon geht das Mädchen in Zeitlupe ab. Thomas guckt aus der Loge unverwandt nach vorn, die derzeitige Frau neben ihm guckt auch und weiß Bescheid. Wurde die Besetzung der Katarina durch Jella Haase im Vorfeld beargwöhnt, ja gefürchtet, so erweist sich ihr Spiel als angenehm zurückhaltend und genau. Man spürt, Katarina bringt etwas Neues in Braschs Leben: eine echte Bindung, die über den ersten verliebten Sturm hinausgeht, ein Kind, ein bisschen Ordnung. Es folgt die Geschichte ihrer gemeinsamen Ausreise im Dezember 1976, lakonisch erzählt wird der Systemwechsel am S-Bahnhof Friedrichstraße, dann stehen sie in neuer Deko. „Mit dem Kopf durch die Wand“, sagt Katarina. „Ja, und doch nur in der Nebenzelle.“ zitiert Thomas den polnischen Satiriker Lec. Deutschland eben, nur die andere Hälfte. „Ich bitte dich, lass mich mit Deutschland zufrieden“, hätte da Heinrich Heine, den Brasch besonders mochte, dazwischenrufen können. Und so wird es auch mit den beiden. Während Katarina ihren Weg als Schauspielerin findet und Struktur, sieht es auch für Thomas zunächst nach Karriere aus. Doch eigentlich streitet er sich nur weiter über die Verhältnisse – nun mit den Westmächtigen und verweigert jeden DDR-Dissidenten-Satz. Er wird abhängig von Kokain, was ihn verändern wird. Einmal sieht er sich selbst erhängt im Zimmer, als Katarina nach Hause kommt wie aus einer anderen Welt. Als 1980 die Nachricht vom Tod des geliebten Bruders Klaus in Ostberlin per Telefon kommt, ist Thomas nicht zu trösten. Er schreit, wie ein Irrer halbnackt in langer schlabbriger Unterhose, auf einem Westberliner Hausdach seinen Schmerz heraus, mit Sicht auf den Ostberliner Fernsehturm, markerschütternd. „Vor den Vätern sterben die Söhne“, hatte der echte Brasch seinen ersten Prosaband – der erst im Westen erscheinen durfte – betitelt, während der Film-Brasch es im Dialog dem Vater im Wohnzimmer sagt. „Unsinn“, entgegnete der Vater. „Der Jugend gehört die Zukunft.“ Den Ruhm des Titels kann der biedere Kommentar nicht aufhalten. Braschs Satz ist die schmerzliche Pointe eines Generationenkonflikts. Gerade mal 31jährig hat er damit ein Lebensgefühl beschrieben, das sich als prophetisch erweisen sollte: im Wortsinn am Leben des Bruders Klaus und im übertragenen Sinn am Leben des anderen Bruders Peter und seines eigenen. Gemeint war vom Dichter nicht mal der physische Tod, sondern eine Unerfülltheit, ein Lebensbogen, der unvollendet bleibt, eine Utopie, die sie nicht weiter bauen können, weil sie an deren Realität scheitern. Der Satz stimmt, und es stimmt auch sein Gegenteil. Diese Widersprüchlichkeit inszeniert Andreas Kleinert, indem er die Totenmaske des Vaters zeigt, aber Thomas leben lässt, auch wenn Thomas stirbt. Thomas‘ Lebenswerk hat überlebt und wird weitergetragen, Horsts Lebenswerk hingegen ist gestorben mit der DDR und war schon vorher siech. Die „Versöhnung“ der beiden erfolgt fiktiv und sehr leise und nebenbei: Horst sitzt mit Tochter Marion vor dem Fernseher und erlebt – mit einem Lächeln – wie Thomas im Westen die DDR verteidigt. Ohne lange zu überlegen und für Katarina leichtfertig schlägt Brasch zudem viel Geld in New York City aus, das ihm ein US-Journalist für seine Biographie anbietet. Filme und Bücher machen, ja gern, aber sein Leben zu Markte tragen? Never. Kritisch, unbeugsam und unverkäuflich, so blieb Thomas Brasch auch im Westen – nie kam er dort an.

Albrecht Schuch in der Rolle des Thomas zeigt einmal mehr, wie wandlungsfähig er ist. Er spielte schon den Maler Otto Modersohn, den Forscher Alexander von Humboldt und den Aussteiger Kruso. Es war nicht gleich darauf zu kommen, dass dieser blauäugige, durchtrainierte Blonde auch die schwarzäugige Melancholie, den stirngerunzelten Abscheu und intellektuellen Zorn des Thomas Brasch kann. Jörg Schüttauf, der wie Schuch seine blauen Augen verbergen muss und Anja Schneider, nur acht Jahre älter als Schuch, als Brasch-Eltern geben solide, manchmal bewegende Vorstellungen. Hingegen ist die Idee, Schüttauf in einer Doppelrolle auch als Honecker im Staatsratsbüro aufmarschieren zu lassen, in seiner Symbolik plump und die ganze Szene unnötig. Falls das von Schüttaufs gelungener Honecker- Parodie in der Komödie „Vorwärts immer“ profitieren wollte, dann ist das gründlich misslungen. Auch nicht so überzeugend ist die Besetzung des Bruders Klaus durch Joel Basman. Das liegt ganz sicher nicht an Basmans spielerischen Fähigkeiten. Der Schweizer Schauspieler hat schon mehrmals in Hauptrollen geglänzt. Namentlich in zwei Filmen, die zur Umbruchszeit im Osten spielen, fiel Basman durch seine spezielle Spielweise und seinen besonderen Typ auf. Aber als Klaus Brasch bleibt er seltsam blass.

Dem Film gelingt ein Zugang zum Dichter Thomas Brasch, indem er auf etwas ganz Wesentliches zielt, auf dessen Einsamkeit. Künstlerisch hat Kleinert das spannend gelöst: statt Beziehungen herunterzuzählen, baut er eine phantastische Erzählebene ein, Träume, Angstvorstellungen, Panik-Attacken, Kokain-Wahn. Gewissermaßen kriecht dann der Film ins Bewusstsein seiner Hauptfigur und zeigt ihre Gefühle, die sie am Tag verbirgt, in ganz eigenen Inszenierungen. Das erweitert die Erzählung enorm und lockert sie auf. Die erschreckendsten, aber auch die witzigsten und zärtlichsten Erlebnisse spielen sich im Kopf von Thomas ab. Die Szenen, die Thomas immer „allein auf der Welt“ zeigen, in einer leeren Wohnung, aus der die Eltern verschwunden sind, in der leeren Karl-Marx-Allee, in leeren Läden, leeren Restaurants, nehmen Bezug auf das dänische Kinderbuch „Paul allein auf der Welt“, das Brasch einmal im Gespräch sein Lieblingsbuch nannte. Thomas – allein auf der Welt? Mit den drei Geschwistern, all den Freunden und der 68er Widerstands-Kommune, mit den Frauen, die ihn liebten, mit all dem Erfolg? Ja. Seine Texte und der intensive Dokumentarfilm „Das Wünschen und das Fürchten“ erzählen davon.

Der Film porträtiert jemanden, der nicht an der DDR verzweifelt, sondern an Deutschland. Jemanden, der dem Ruhm widersteht wie Iwan in dem Märchenfilm „Feuer, Wasser und Posaunen“. Einer, der nervt. „Diese Augen haben Auschwitz gesehen.“ sagt er einmal unvermittelt zu einem älteren Wohnungsnachbarn in Westberlin, der sich über zu laute Musik beklagt. Der Regisseur verzichtet zwar auf die berühmte Szene, in der Brasch 1981 den Bayrischen Filmpreis entgegennimmt und mit seiner fundamentalen Kritik der westdeutschen Gesellschaft und seinem Dank an die DDR-Filmhochschule einen Eklat auslöst, doch zitiert er aus ihr. Kleinert und der Autor machen daraus Dialogsätze im Traum-Streit zwischen Vater und Sohn. Aber nicht Thomas sagt hier die Worte über den Widerspruch des Künstlers, der das Geld des Staates braucht, um den Staat anzugreifen, sondern Horst Brasch als DDR-Funktionär und Kapitalismus-Kritiker per se, worauf Sohn Brasch seinen eigenen Worten widerspricht. Grandios, das ist die dialektische Zerschlagung eines manchmal schon starren Dichterdenkmals!

Den Streit mit dem Vater in seinem Kopf hat Thomas 1981 in Cannes, während der Vorführung seines Films „Engel aus Eisen“, aus der er ins Foyer flüchtet. Katarina, die ihn wieder reinholen will, sieht erschrocken, wie Thomas mit dem Wasserspender ringt, der in der Phantasie sein Vater ist. Kein eleganter „Belmondo“ mit Sonnenbrille mehr auf dem Motorboot an der Côte d’Azur, wie zwei Szenen vorher, sondern Brasch wieder im Zweikampf mit den Dämonen seiner inneren Welt, die das Kokain erst recht nicht besiegen kann. In einer anderen Vision träumt sich Brasch als Gladow, sein Held aus jenem Film, und schießt mit seiner Mutter als seiner Partnerin in Crime eine Gruppe angerückter Westpolizisten zusammen, in nie da gewesener Harmonie, lustig pusten sie abschließend auf ihre Waffen. Kriminalität als „Ausdruck der Auflehnung“.

Kleinert verschränkt in seinem Film biographisch gewichtige Ereignisse, Defizite und Traumata, überspringt langwierige, langweilige Prozesse, rafft poetisch zusammen, macht eine Geschichte mit ganz eigenen Pointen daraus. So ist nicht der Mauerfall das zentrale Ereignis von 1989, sondern der Tod des Vaters. Der Mauerfall selbst nicht wichtig, nur die technische Vollendung eines Verfalls, der spätestens 1968 begann. Da wurde der Generationenvertrag unumkehrbar verletzt, die Jungen kamen ihrer Fürsorgepflicht nach, die Alten nicht. Minutiös lässt Kleinert ein paar Kapitel zuvor die Urteilsbegründungen im Gerichtssaal verlesen, mit einem Kamerarundblick auf die verschämten Eltern, die um ihre Posten fürchten. Ein Staat bestraft die ungehorsamen Kinder, die den Sozialismus besser machen wollten – und verliert sie für immer. Braschs Ausreise 1976 war nur die Folge.

Die Jahre vom Mauerfall bis zum Todesjahr 2001 werden quasi übersprungen – hin zum gealterten Brasch in der riesigen Wohnung am Schiffbauerdamm, die er sich eigentlich nicht leisten kann, gleich neben dem Berliner Ensemble, gleich überm Ganymed. Die Wohnung wieder nur Provisorium, der Schreibtisch zentral, die Stöße Papier, die Aschenbecher. Kleinert wechselt nochmal den Thomas-Darsteller. Ein verblüffender Bruch – ein letzter Coup. Peter Kremer legt einen zauberischen Auftritt hin. Ein Mann allein auf der Welt. Geblieben, wo er nie gewesen ist.

 

Foto: https://www.wildbunch-germany.de/press