Kultur

Ulysses Goes Wild – Veranstaltungen rund um den Bloomsday 2022

Von Jürgen Schneider

»Wenn man den Ulysses nicht lesen kann,
kann man das Leben nicht leben.«

– James Joyce

 

Wie in jedem Jahr begehen die Joyce-Irren dieser Welt den 16. Juni als Bloomsday. Es ist jener Tag, an dem der grandiose Roman Ulysses von James Joyce spielt, das bekannteste nicht gelesene Buch der Weltliteratur, eine – so Joyce – »spaßhaft-geschwätzige allumfassende Chronik mit vielfältigstem Material.«

Laut dem Joyce-Biografen Richard Ellmann sind Joyce und Nora Barnacle am 16. Juni 1904 zum ersten Mal in Dublin miteinander ausgegangen und sich nähergekommen. Der Joyce-Experte Fritz Senn merkt dazu an: »Der Ulysses wird demzufolge zu einem ›Epithalanium‹, einer Hochzeitshymne. Eine Möglichkeit ist Dogma geworden. Denn es ist nicht genau belegt, dass die beiden genau am 16. Juni zusammengekommen sind (…).«

Am 16. Juni 1954 versammelten sich in Dublin einige trinkfreudige Wortwerker zu einem Ausflug nach Sandymount zum Martello Tower, zu jener Befestigung an der »rotzgrünen Irischen See« also, in der James Joyce das erste Kapitel seines Ein-Tages-Romans Ulysses von 1922 ansiedelte. Die Dichter Patrick Kavanagh und John Ryan waren dabei sowie der Schriftsteller Flann O’Brien, der freilich dem Joyce-Kult skeptisch gegenüberstand. In Aus Dalkeys Archiven (1964) lässt er James Joyce als Barkeeper auftauchen, der sich von seinen Werken wegen deren Obszönitäten distanziert. Die ersten Bloomsday-Pilger kehrten auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort in so vielen Pubs ein, dass sie schließlich kaum noch stehen konnten. Damit war für kommende Bloomsday-Aktivitäten ein Zeichen gesetzt. James Joyce selbst hatte einst das Motto vorgegeben: »Die Straße der Ausschweifung führt zum Palast der Weisheit.«

Dublin, dem Joyce im Jahre 1904 aus Überdruss an der »Stadt des Versagens, der Ranküne und der Unglückseligkeit« den Rücken kehrte, begeht den 16. Juni in diesem Jahr, in dem sich die Veröffentlichung des Ulysses zum hundertsten Mal jährt, noch spektakulärer als sonst. Vor Jahren schon konnten wir in der Irish Times lesen, der Bloomsday sei ein brillantes Marketingdatum, und da Literatur eine Ware sei, spiele es auch keinerlei Rolle, ob man das Werk gelesen habe oder nicht, Hauptsache der Name des Autors werde immer wieder ins Spiel gebracht. Joyce als Marke.

Bereits am 14. Juni bietet das James Joyce Centre in der North Great George’s Street um 17.30 Uhr das Projekt XR Ulysses. Hierbei sollen die Möglichkeiten von Live-Performances erprobt werden, bei denen 3D-Filmtechniken verbunden werden mit Extended Reality (XR), Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR).

Das James Joyce Centre bietet zudem diverse Spaziergänge an, um die Orte zu erkunden, an denen sich die Handlung des Ulysses entfaltet. Die Titel dieser Spaziergänge lauten u. a. Ulysses Goes Wild in Sandymount, Ulysses goes Wild in Ballsbridge oder Ulysses Goes Wild Along the Grand Canal.

Im Irish Film Institute (IFI), im James Joyce Centre sowie im Sugar Club heißt es vom 11. bis zum 16. Juni: »IFI & Bloomsday Film Festival present: Ulysses 100«.

Auf dem Friedhof von Glasnevin wird der Bloomsday seit 2010 begangen. Auf diesem Totenacker im Norden Dublins wird im Ulysses der fiktive Paddy Dignam beerdigt. An der Zeremonie nimmt die Hauptfigur des Romans teil, der jüdische Jedermann und Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom, dieses »Riesenroß von einem Außenseiter«. Für ihn hat der Tag um acht in der Früh mit einer angebrannten Schweinsniere begonnen. Er hätte lieber eine Hammelniere gehabt, die sein Metzger Dlugacz jedoch nicht mehr hatte. In diesem Jahr wird es am 16. Juni auf dem Friedhof ab 11 Uhr eine Joyce-Ausstellung, einen neuen Ulysses-Guide sowie ein Reenactment der Beerdigungsszene aus dem Roman geben.

Ab 12 Uhr wird im Pub Davy Byrne’s in Dublins Duke Street wieder der Lestrygonen-Episode aus dem Ulysses gehuldigt, in der Leopold Bloom ein Gorgonzola-Sandwich isst und ein Glas Burgunder trinkt.

Im Rahmen von Bloomsday Villages wird u. a. in Sandymount, Drumcondra, Blackrock, Ringsend und anderen Dubliner Stadtteilen James Joyce gefeiert. Die National Gallery of Ireland zeigt bis zum 21. August 2022 34 seit 1963 entstandene Illustrationen zum Ulysses des Stuttgarter Künstlers Günter Schöllkopf (1935-1979), die dessen Schwester der Galerie überlassen hat.

Das XXVIII. Internationale James Joyce Symposium findet ebenfalls in Dublin statt (12.-18. Juni) und zwar unter der Überschrift: »Ulysses 1922-2022«. Die Exponentinnen und Exponenten des international vernetzten veritablen Dechiffrier-Syndikats, die sich zumeist an Universitäten mit Joyce befassen (ein Faktum, das Joyce antizipiert hatte), werden ihre neuesten Forschungsergebnisse vorlesen bzw. vortragen. Ein Referent ließ gar ankündigen, dass er seinen Vortrag »geübt« habe.

Einer der wenigen Ulysses-Orte in Dublin, der nicht den Immobilieninvestoren und Stadtplanungsvandalen zum Opfer gefallen ist, ist Sweny’s, eine Drogerie, in der Joyce seinen Leopold Bloom Zitronenseife kaufen lässt. Sweny‘s war bis 2009 Drogerie, dann sollte der Laden, in den schon mal Junkies auf der Suche nach Stoff durch die Decke einstiegen, geschlossen werden und weichen müssen, wurde aber von Joyce-Fans gerettet. Nicht nur am Bloomsday, sondern das ganze Jahr über wird dort Joyce-Literatur bereitgehalten und aus den Joyce’schen Werken gelesen. Und auch in diesem Jahr wird dort um den Bloomsday herum wieder viel Zitronenseife verkauft werden.

In der Sirenen-Episode des Ulysses veranstaltet Joyce seine ureigenste Feis Cheoil, ein Musikfestival also, in der Bar des Ormond-Hotels. Träumten die an einer Wiederbelebung der irischen Musiktradition Interessierten einst von Harmonie, so insistiert Joyce auf Kakophonie, auf radikaler Dissonanz. Alltagsgeräusche sind in diesem Kapitel völlig ausreichend, um mit der Bezeichnung Musik versehen zu werden: »Musik ist überall.« Als »Musik« hat auch jener Klang zu gelten, der beim Pinkeln in einen Nachttopf erzeugt wird: »Chamber music. Could make a kind of pun on that. It is a kind of music I often thought when she. Acoustics that is. Tinkling. Empty vessels make most noise.« Der irische Sound-Künstler Danny McCarthy hat sich von dieser Stelle im Ulysses inspirieren lassen und präsentiert am 16. Juni bei Kirkos (Unit 44, Prussia Street, Dublin 7) seine Soundinstallation »Chamber Music (100 Urinations for James Joyce)«.

Vom 17. Juni bis zum 19. August ist im Irish Architectural Archive (45 Merrion Square, Dublin 2) die Ausstellung The Ulysses Project zu sehen. Der Architekt Freddie Phillipson ist der Geschichte Dubliner Gebäude und deren Verbindung mit dem Ulysses nachgegangen und präsentiert seine Ergebnisse. Joyce verfolgte das Ziel, »ein so vollständiges Bild von Dublin [zu] vermitteln, daß die Stadt, wenn sie eines Tages plötzlich vom Erdboden verschwände, nach meinem Buch wieder aufgebaut werden könnte«. Liefert Phillipson Material, das uns diesem Ziel näherbringt?

Mit dem Satz »We can be Anti-Heroes just for one day: June 16th« werden die Bloomsday-Aktivitäten im italienischen Triest angekündigt. Dort lebte Joyce mehr als ein Jahrzehnt lang, und dort gibt es auch ein kleines Joyce-Museum. Gelesen wird am Bloomsday der gesamte Ulysses, dessen Entstehung in der einst österreich-ungarischen Hafenstadt ihren Anfang nahm.

Im Centre Culturel Irlandais zu Paris (5, rue des Irlandais, 75005 Paris) wird in Zusammenarbeit mit dem Dubliner Contemporary Music Centre am 18. Juni ein Konzert gegeben, um das 100jährige Ulysses-Jubiläum zu begehen. Für das Konzert für Gitarre und Stimme wird auf die Ulysses-Verbindungen zwischen Irland, Frankreich und Ungarn gesetzt. Die ungarische Gitarristin Katalin Koltai und die irische Sopranistin Elizabeth Hilliard bringen von Ulysses inspirierte Kompositionen zu Gehör. Diese stammen von den irischen Komponisten Black Hynes, Greg Caffrey, Seán Clancy, Benjamin Dwyer, Gráinne Mulvey und Ian Wilson sowie von deren ungarischen Kollegen Máté Balogh, Alessio Elia, Samu Gryllus, Petra Szaszi, Márton Szocs und Peter Tornyaiby.

Die Irish Literary Society in London wird am 27. Juni im Bloomsbury Hotel (16-22 Great Russell Street, London) das Buch Multiple Joyce: One Hundred Short Essays About James Joyce’s Cultural Legacy von David Collard vorstellen, das bei der Sagging Meniscus Press erscheint.

James Joyce, Nora Barnacle und Patrick J. Hoey liegen in Ostende im Gras, August 1926. Sammlung: University at Buffalo, the State University of New York.

James Joyce, Nora Barnacle und Patrick J. Hoey liegen in Ostende im Gras, August 1926. Sammlung: University at Buffalo, the State University of New York.

In der belgischen Küstenstadt Ostende verbrachten Joyce, Nora Barnacle und Tochter Lucia 1926 ihren Sommerurlaub. Xavier Tricot veröffentlichte darüber ein Büchlein (Pandora Publishers, 2018). In diesem Jahr wird in Ostende erstmals der Bloomsday begangen. Er beginnt mit der Eröffnung der Ausstellung JAMES des in Brüssel arbeitenden Künstlers Hans Verhaegen in der örtlichen Bibliothek (Bibliotheek Oostende, Wellingtonstraat 17, 8400 Oostende). Verhaegen hat einen Font entworfen und alle 18 Episoden des Ulysses mittels dieses Fonts »übersetzt«. Verhaegens Arbeit JAMES wurde vor zwei Jahren erstmals im deutschsprachigen Magazin Feuerstuhl (#3) vorgestellt. Zum Bloomsday erscheint in Belgiens Norden Ostende!, eine Gazette mit Texten über James Joyce und andere Personen, die mit der Kultur der Küstenstadt verbunden sind. In Ostende wird auch in verschiedenen Sprachen und Dialekten aus dem Ulysses gelesen werden, und es soll ein Picknick am Strand geben. Die Veranstalter sähen es gerne, wenn die Besucherinnen und Besucher gekleidet wären wie anno 1926. Vermutlich wird auch ein Outfit akzeptiert, wie es im Jahre 1904 getragen wurde.

Hans Verhaegen, ›Telemachus‹ (Detail), aus der 18teiligen Digitaldruckserie JAMES © Hans Verhaegen

Hans Verhaegen, ›Telemachus‹ (Detail), aus der 18teiligen Digitaldruckserie JAMES © Hans Verhaegen

In New York City ist vom 3. Juni bis zum 2. Oktober die Ausstellung One Hundred Years of James Joyce’s Ulysses zu sehen (Morgan Library & Museum, 225 Madison Ave, New York, NY 10016). Sichtbar gemacht wird die Entstehung des Ulysses anhand von Manuskriptseiten, Plänen und Druckfahnen. Das ausgestellte Material stammt zu einem Großteil aus der James Joyce Collection der University at Buffalo. Ein Buch mit dem Titel One Hundred Years of James Joyce’s Ulysses hat der irische Schriftsteller Colm Tóibín herausgegeben. Das Werk ist mit Vorworten von Michael D. Higgins (Irlands Präsident) sowie von Colin B. Bailey (Kunsthistoriker und Morgan-Direktor) versehen und in Kooperation mit Morgan Library & Museum erschienen bei der Penn State University Press.

Der Deutsch-Griechische Verein Philadelphia möchte mehr Menschen an den Ulysses heranführen – und lädt dazu am Donnerstag, 16. Juni um 19.30 Uhr, in sein Vereinshaus im nördlich von Athen gelegenen Maroussi (Kriezi 62-64) zu einem Vortrag über das Werk ein. Unter dem Titel »100 Jahre Ulysses von James Joyce« wird der Literaturkritiker und Rundfunkmoderator Thomas Plaul darauf eingehen, was den Ulysses für ihn so einzigartig macht und wie man sich ihm annähern kann.

Die Irische Botschaft in Berlin lädt für den 16. Juni zur Mittagszeit zu einem besonderen Cúltur Salon und Live Podcast ein. Dort soll es um Joyce und Technologie gehen. Gastgeber ist der Schreiber und Verleger der Broken Dimanche Press, John Holden. Seine Gäste sind die für ihre Soundinstallationen bekannte schottische Künstlerin Susan Philipsz, der Filmemacher Declan Clarke sowie der Romanautor Tom McCarthy. Zur Lesung und Diskussion gibt es Burgunder und Gorgonzola-Sandwiches.

Auch im indischen Kalkutta wird der Bloomsday begangen:

Wer sich am 16. Juni an einem Ort befindet, an dem der Bloomsday nicht öffentlich gefeiert wird, möge sich an jenem Tag in den Ulysses vertiefen, etwa in den halluzinatorischen Taumel der in einem Bordell des »Monto« genannten Rotlichtviertels angesiedelten Circe-Episode, ein zweihundertseitiges Pandämonium. Maggie Armstrong schrieb am 14. Juni 2011 im Irish Independent, es sei dies die Bloomsday-Welt, von der Touristen nie etwas hören würden. Bei Joyce heißt das Viertel, das einst ein Slum war, »Nighttown«. Seine Romanfigur Stephen Dedalus schlägt mit einem Eschenstock einen Kandelaber kaputt – die Folge: »Zerschmettertes Glas und stürzendes Mauerwerk.« Leopold Bloom versucht derweil die anwesenden Soldaten zu besänftigen. Der englische Soldat Carr versteht diesen Schlag und Stephens Aussage »here it is I must kill the priest and the king« als Angriff auf seinen König und droht Stephen mit Gewalt. Die Personifizierung Irlands, Old Gummy Granny, sowie Edward VII. und andere Gestalten tauchen auf und ermutigen zur Schlägerei, doch Stephen lehnt dieses Ansinnen ab und wird doch von den Besatzern des »brutish Empire« bewusstlos geprügelt. Die Circe-Episode endet damit, dass Stephen, von Leopold Bloom begleitet, aus dem Bordell flieht. Die Puffmutter Bella Cohen, »a massive whoremistress«, hatte gedroht, wegen des kaputtgeschlagenen Kandelabers die Polizei zu rufen.