Kultur

Documenta 15: In der Bilderflut ein ausgeixtes Hakenkreuz

Von Jürgen Schneider

»Mir genügte ein kurzer Blick: ›Miserables Gemälde‹.« Jedes weitere Wort sei Verschwendung, so der einstige Bhagwan-Jünger Peter Sloterdijk gegenüber der »Berliner Zeitung«. War der einst vom Glück, einer Sekte anzugehören, beseelte Philosoph Sloterdijk in Kassel, als das indonesische Banner »People’s Justice« kurz zu sehen war? Hat er in den Medien eine hochauflösende Abbildung davon gefunden, die ihm sein Urteil erlaubte? Wir wissen es nicht.

»Die Betrachter*innen sehen sich stets der Herausforderung gegenüber, dass die Konzentration auf einen bestimmten Aspekt andere, konkurrierende Momente ausblendet, dass mithin jede Einsicht durch die vorübergehende Blindheit für anderes erkauft ist. (…) Lassen Diskurse, Diskussionen und Debatten hinreichend Raum, damit ein Kunstwerk in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zur Geltung gebracht werden kann? Derartige einst in »Texte zur Kunst«1 formulierten Überlegungen spielen in der Diskussion um das auf der Documenta 15 in Kassel kurz gezeigte acht mal zwölf Meter große Banner »People’s Justice« des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi keine Rolle.

In der israelischen Tageszeitung »Haaretz« schrieb Shany Littman: »Es muss viel Mühe gekostet haben, in der Bilderflut, die ›People’s Justice‹ ist, das eine antisemitische Bild auszumachen. Dennoch: Es ist da, es lässt sich nicht leugnen – in Form einer als ultraorthodoxer Jude verkleideten Figur mit Schläfenlocken, spitzen Zähnen und einem SS-Emblem am Hut. Es ist ein wirres und zugleich auch verwirrendes Bild, das Juden mit ihren Mördern gleichsetzt. Dieses antisemitische Bild und die Figur eines Soldaten mit dem Wort Mossad am Helm und einem Schal mit Davidstern um den Hals lieferten genug Stoff für diejenigen, die seit Monaten versuchten zu beweisen, dass die Documenta 15 von Antisemiten kuratiert wird. Es dauerte nur zwei Tage nach Eröffnung, bis Taring Padis Gemälde abgedeckt und vollständig entfernt wurde.«2

Im Kunstmagazin »Monopol« stellte Saskia Trebing den medialen Konsens in Frage: »[Es] gibt tatsächlich Anhaltspunkte, die die Argumentation von Taring Padi stützen, das 20 Jahre alte Bild habe keine antisemitische Absicht. Auf dem Banner, das in stark polemischer Weise den Kampf der indonesischen Bevölkerung gegen den militaristischen Westen darstellt, werden alle angegriffen. Auch ein US-amerikanischer Soldat und ein katholischer Kardinal werden als Schweine dargestellt, die Dämonisierung einer korrupten Elite kommt aus der Erfahrung der Gräuel während der indonesischen Militärdiktatur unter General Suharto, die teilweise von westlichen Staaten während des Kalten Krieges unterstützt wurde. Außerdem ist es gut möglich, dass das riesige Werk nicht nur als plumper Agit-Prop, sondern auch als Karikatur auf Verschwörungstheorien gelesen werden kann. So gibt es auf einem Flügel des Bildes eine ›Propaganda Box‹, die eine ganze Reihe von neuen gefügigen Figuren produziert. In der Reihe der Soldaten marschiert auch der fiktive Agent James Bond mit.«3 Mit der Nennung dieser Anhaltspunkte stand Saskia Trebing allein da.

In einem Gespräch mit der »jungen Welt« sagten Künstler des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi, die – so Shany Littman – »als Linke, die sich gegen Kapitalismus, Rassismus und religiösen Fundamentalismus aussprechen, in ihrem Land noch heute von islamistischen Organisationen angegriffen werden«: »Das Bild entstand unter dem Eindruck der bedrückenden Lebensumstände, die wir unter der Militärdiktatur von Suharto erfahren hatten, in der Gewalt, Ausbeutung und Zensur an der Tagesordnung waren. Wie viele unserer Kunstwerke versucht das Banner, die komplexen Machtverhältnisse aufzudecken, die hinter dieser Verfolgung und den Ungerechtigkeiten stehen. Insbesondere geht es um den Massenmord an mehr als 500.000 Menschen in Indonesien im Jahr 1965, der bis heute nicht aufgearbeitet wurde.«4

Auch in dem nach der Abhängung des Banners geforderten »Diskurs« spielen die Massenmorde im Indonesien der Jahre nach 1965 keine Rolle. Wäre es anders, müsste etwa die bundesrepublikanische Indonesienpolitik, besonders das Treiben der von dem Nazi Gehlen geführten Organisation Gehlen sowie der Nachfolgeorganisation Bundesnachrichtendienst (BND) ebenso in den Fokus gerückt werden wie die Rolle des israelischen Geheimdienstes Mossad mit seiner »Haus und Garten« genannten Initiative, über die 2019 der israelische Menschenrechtsanwalt Eitay Mack unter der Überschrift »How Israel helped whitewash Indonesia’s anti-leftist massacres« geschrieben hat.5

Wichtiger ist es der hessischen Kultusministerin Dorn (Die Grünen), dass alle Documenta-Exponate kunstpolizeilich in Augenschein genommen werden, um herauszufinden, ob sie sich einer antisemitischen Bildsprache bedienen. Das indonesische Kuratorenteam hat damit ausgedient. Das ist ganz im Sinne eines Sloterdijk, der einst auf eine alternative Wahrheit aus Indien oder von einem anderen Ende der Welt setzte und nun raunt »Intellektuelle von der Peripherie« machten sich bereit, »im Zentrum Macht zu übernehmen«.

Der Bitte an die Pressestelle der Documenta 15, dem Autor dieser Zeilen ein hochauflösendes Foto des abgehängten Banners zur Verfügung zu stellen, kam man in Kassel nicht nach. Seit mehr als einer Woche ist ein Artikel mit der Überschrift »documenta-Eklat spitzt sich zu« auf der Website der Deutschen Welle online.6 Er ist u. a. illustriert mit einem Foto von der Abhängung des Banners von Taring Padi. Auf diesem erkennbar ist eine mit einem Hakenkreuz versehene Gitarre, das Hakenkreuz ist jedoch deutlich ausgeixt. Wir dürfen gespannt sein, wie jene, die eine globale Deutungshoheit über das beanspruchen, was Antisemitismus ist, weil es schließlich ihre Väter und Großväter waren, die den millionenfach begangenen Judenmord begangen haben, dieses Detail auf dem Banner wegdiskutieren werden, ohne den Schatten eines Entsetzens über die Barbarei in Indonesien unter Suharto.

 

PS: Am 06.07.22 erhielt der Autor nach nochmaliger Nachfrage vom Office Management der Documenta diese Mitteilung: »Die Arbeit People’s Justice von Taring Padi wurde aus der Ausstellung entfernt. Entsprechend werden auch keine reproduzierenden Abbildungen der Arbeit seitens der documenta verbreitet.«

 

1 https://www.textezurkunst.de/87/innerer-widerstreit/

2 In Übersetzung erschienen in der »Berliner Zeitung«: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/israelische-autorin-zu-documenta-antisemitismus-streit-verdeckt-wichtigeres-li.24100

3 https://www.monopol-magazin.de/taring-padi-kommentar-abbau-we-really-need-talk

4 https://www.jungewelt.de/artikel/429359.documenta-15-wir-verurteilen-jeden-rassismus.html

5 Siehe etwa https://www.nd-aktuell.de/artikel/1142551.indonesien-massenmord-mit-deutscher-hilfe.html und https://www.nd-aktuell.de/artikel/1147634.massaker-in-indonesien-auf-blut-gebaut.html; https://www.972.mag.com/israel-whitewash-indonesia-anit-communist-massacres/

6 https://www.dw.com/de/documenta-eklat-spitzt-sich-zu/a-62215097