Kultur, Politik

Wiener Notizen #4

Von Jürgen Schneider


Jürgen Schneider, Legt die Schweine um; skulpturales Miniwerk, 1999; Plastefiguren, Abstand variabel. (Foto: JS)

In einem in der Wiener Zeitung unter der Überschrift ›Wir sind aufrecht gehende Killeraffen‹ gibt der österreichische Historiker Ilja Steffelbauer Auskunft über die Geschichte des menschlichen Fleischverzehrs und führt aus: »Wir haben uns hierzulande nicht zu Schnitzelessern entwickelt, weil wir so gerne Schnitzel essen, sondern weil wir in einer Schweinegegend leben.« Steffelbauer ist im niederösterreichischen St. Valentin aufgewachsen, auf das die Bezeichnung »Schweinegegend« geschichtlich in einem weitläufigeren Sinn zutrifft. Ab 1939 befand sich dort das Nibelungenwerk zur Produktion von Panzern für den Fronteinsatz. Etwa die Hälfte der Standard-Panzer der Nazis wurden dort hergestellt. Die Panzerplatten kamen aus den verbundenen Eisenwerken Oberdonau, die zu dem Stahl- und Rüstungsgroßunternehmen »Hütte Linz der Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten Hermann Göring« gehörten. Deren Belegschaft wurde im August 1944 durch etwa 10.000 KZ-Insassen aus dem KZ Mauthausen verstärkt und war damit die Nazi-Produktionsstätte im Raum Linz, die nahezu ausschließlich mit Zwangsarbeitern produzierte.
Das Wiener Schnitzel, das diese Bezeichnung verdient, wird nicht aus Schweine-, sondern aus Kalbsfleisch gebacken, wie uns durch das Standardwerk Wiener Küche aus der Feder von »Regierungsrat Olga Hess« und »weiland Hofrat Prof. Adolf Fr. Hess« bestätigt wird. Dort wird dessen Zubereitung – Titel verpflichten – auch unter der vornehmeren französischen Bezeichnung Escalopes de veau panées abgehandelt.
Wer daraus ableiten möchte, Wien sei keine »Schweinegegend«, ob historisch oder aktuell irrt. Im Falter schrieb die aus Sarajevo stammende Autorin Melisa Erkurt, der stramm rechte FPÖ-Mann Strache habe »Ausländerfeindlichkeit cool gemacht, es war plötzlich in, Sprüche wie ›Isst du Schwein, kommst du rein‹ von sich zu geben«.
Der Kolumnist Hermes Phettberg wies jüngst in seinen in der »Ersten österreichischen Boulevardzeitung« Augustin zu lesenden ›Fisimatenten‹ auf den einstigen Aspangbahnhof hin. Von dem mitten in der Stadt gelegenen Bahnhof wurden zwischen 1939 und 1942 47.035 Jüdinnen und Juden in Ghettos und Vernichtungslager der Nazis deportiert. Auf einer Tafel neben dem 2017 in Form von konisch zusammenlaufenden und in einem leeren Betongehäuse endenden Betonschienen errichteten Mahnmal auf dem Platz der Deportierten heißt es: »Diese Transporte wurden von der NS-›Zentralstelle für jüdische Auswanderung‹ organisiert und in vier im 2. Bezirk errichteten Sammellagern, in der Kleinen Sperlgasse 2a, der Castellezgasse 35 und der Malzgasse 7 und 16, zusammengestellt. Die Internierten wurden drangsaliert, gedemütigt und ihrer letzten Besitztümer beraubt. Für jeden Transport wurden rund tausend Menschen auf offenen Lastwagen zum Aspangbahnhof gebracht – vor den Augen der Wienerinnen und Wiener.«
Phettberg wünscht sich, der 1977 abgerissene Aspangbahnhof wäre erhalten geblieben, damit er »in alter Grauseligkeit« als quasi reales Mahnmal rekapituliert werden könnte.
Warum eine Partei der Deportierwilligen mit der Farbe blau bedacht wird, ist mir ein Rätsel. Blau, blau blüht der Enzian, was sich von den Phantasien der FPÖ-Politikerinnen und -Politiker allerdings nicht sagen lässt. In denen blüht der Orban, spuken andere grauselige Gestalten und Vorstellungen herum.
Blau war Strache angeblich, als das sog. »Ibiza-Video« gedreht wurde, in dem zu sehen ist, wie Strache und sein Kamerad Gudemus einer vermeintlichen russischen Oligarchen-Nichte Staatsaufträge gegen Wahlkampfhilfe in Aussicht stellen.
Philippa Strache, Frau des nunmehr ehemaligen FPÖ-Bundesparteihauptmanns Strache, steht ein Nationalratsmandat zu. Das bestätigte die Landeswahlbehörde Wien – mit Rückendeckung durch die Bundeswahlbehörde. Ob Philippa Strache ins Parlament einzieht, ist jedoch noch unklar. Sie wolle »in Ruhe« entscheiden, teilten ihre Anwälte mit. Tagelang hatte es ein Hin und Her um das Wiener Landesmandat gegeben, das die FPÖ bei der Wahl gewinnen konnte. »Seifenoper-Streit ›The Straches‹, Teil 17« lautete eine Überschrift des Blatts Heute. Die Wiener FPÖ hatte entschieden, Strache kein Nationalratsmandat zu gewähren, bis die gegen das Ehepaar Strache erhobenen Vorwürfe geklärt sind, es habe den FPÖ-Slogan »Unser Geld für unsere Leut« kreativ-eigennützig interpretiert. Daraufhin teilte Heinz-Christian Strache auf Facebook einen Artikel aus der Epoch Times über angeblich gute Chancen einer eigenen Strache-Partei. Laut Zeit gehört die in New York erscheinende Epoch Times zu jenen Medien, die bei Rechten sehr beliebt sind. Stammleser habe sie etwa bei AfD-Wählern, wie die Hamburger Wochenzeitung bereits 2017 schrieb.
Das U-Bahn-Blatt Österreich 24 verlautbarte, Strache wolle 2020 mit einer eigenen Partei bei der Wien-Wahl antreten. Dafür hole er sich bei einstigen Kumpanen von Jörg Haider Rat und rede bereits mit möglichen Financiers. Zwei Unternehmer seien bereit, Strache zu finanzieren. Oder sind es russische Oligarchen-Nichten?
Die ÖVP werde im Laufe der kommenden Legislaturperiode hinter die FPÖ zurückfallen, orakelte es derweil aus FPÖ-Kreisen. Und ÖVP-Kurz, von dem der Nobelliteraturpreisträger 2019, Peter Handke, 2017 in einem Interview sagte, er habe ihn »seltsamerweise an die Masken aus Gummi erinnert, die sich manche Bankräuber über das Gesicht ziehen«, werde in der künftigen Koalition gefangen sein. Denn Kurz könne nicht ein drittes Mal eine Regierungszusammenarbeit vorzeitig beenden. Weniger der Grünen-Chef Kogler selbst »als die basisdemokratisch ausgerichteten und zum Teil extrem links stehenden Grün-Mandatare im Parlament werden – ich kann es kaum anders formulieren – zum Kryptonit des ÖVP-Obmanns werden«, prophezeite FPÖ-Führer Hofer. Stephan Bartosch, Landessprecher der Grünen Jugend Niederösterreich, forderte unter dem Hashtag »#TheWrongAmazonIsBurning«, seine Partei müsse nach ihrem Wiedereinzug in den Nationalrat »den Kapitalismus anzünden«. Der grüne Partei-Zampano heißt jedoch Kogler und nicht Kokler.
In der jungen Welt meinte der österreichische Journalist Robert Misik: »Aus einer linken Perspektive muss einem eine Regierung aus ÖVP und Grünen selbstverständlich nicht gefallen. Aber das ist, was im Rahmen einer pluralistischen Demokratie als ›gemäßigter Konservativismus‹ übrigbleibt – und nicht das autoritäre Projekt einer Orbanisierung, wie wir das zuvor hatten. Insofern gibt es diesen Grund zum Aufatmen tendenziell schon.« Bislang hat Kurz den Grünen lediglich ein nicht näher spezifiziertes Entgegenkommen in der Klimapolitik signalisiert, aber keine Abkehr von der bekundeten Einigkeit mit Orban in Sachen Migration und Grenzschutz und seiner Nähe zu den kaum gemäßigten FPÖ-Positionen und -Parolen. Zum Inhalt der Sondierungsgespräche zwischen Kurz und Kogler wissen wir nicht sehr viel, dafür verdanken wir der Gratiszeitung Heute eine Beschreibung des K.-u.K.-Ambientes, in dem die beiden miteinander sprachen. Anders als bei der Unterredung mit der Chefin der Sozialdemokraten, Rendi-Wagner, hätten die Fahnen nicht mehr hinter Kurz gestanden, sondern seien nach links gewandert. Dafür rutschte das Deko-Grünzeug hinter Kogler, und auf dem Beistelltisch gab es Wurstsemmeln. Koglers Sessel sei deutlich Richtung Kurz gedreht gewesen, die beiden hätten also nicht nebeneinander gesessen, sondern zueinander.
In dem im Kunstmann Verlag erschienenen Roman Wie Frau Krause die DDR erfand von Kathrin Aehnlich macht sich ein von der Floskelitis befallener besserwessiblöder TV-Bramarbas lustig über die Schrankwand ›Kompliment‹, einst produziert in den VEB Qualitätsmöbelwerken Werdau im VEB Möbelkombinat Zeulenroda-Triebes, die von der Romanfigur Tante Ulla nach der Annexion der DDR nicht entsorgt und gegen Pressspanramsch aus dem Westen eingetauscht worden war. Ginge es nach den Groschenansichten dieses in Sachen DDR absolut ahnungslosen televisionären Funzeltrüblings, hätte Tante Ulla sich Möbel kaufen müssen, die zu den vom Kohl-Treuhand-Syndikat verheißenen blühenden Landschaften passen.
Die 1984 in Zwickau geborene Künstlerin Henrike Naumann zeigt bis zum 12.01.2020 im Wiener Belvedere 21 ihre Installation Das Reich. Ausgangspunkt ihrer Ausstellung ist das Jahr 1990: Die Reichsbürgerbewegung erkennt die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik Deutschlang nicht an und übernimmt nach der Wiedervereinigung kurzerhand die Kontrolle. Österreich schließt sich dem wiedererrichteten Deutschen Reich bald an. Dieses fiktive Szenario inszeniert Henrike Naumann in einer Rauminstallation aus Möbeln, Wohnaccessoires, Deko-Elementen und Videos. Die Möbel sind aus Pressspan in erbswurstbeige gefertigt und haben ihren Ursprung wohl in Möbelhäusern, die sich »modern« wähnen. Sieht so eine Reichsbürgervision aus? Lebt diese absolut retromoderne Spezies nicht vielmehr zwischen kuhherdenschweren, doppelbarocken, edelholzfurnierten Möbelstücken und sitzt gerne in wuchtigen, kackbraunen, gegen Staub und Schmutz der Nachkriegsmoderne durch Reichskriegsflaggen und Hakenkreuzfahnen geschützte Polstergarnituren, an der Wand ein röhrender Hirsch oder ein deutscher Schäferhund, wenn nicht gar ein Adolf-Konterfei? Oder sind den Reichsbürgern Möbel gar nicht wichtig, sondern eher ihre Waffen? Die bundesrepublikanische Polizei fand im März dieses Jahres allein bei einem Reichsbürger 51 Schusswaffen, darunter drei Maschinenpistolen und 25 Pistolen bzw. Revolver, ebenso wie kiloweise Munition.
Der 1934 in Wels (Oberösterreich) geborene und in Gunskirchen aufgewachsene, konzeptuell arbeitende Künstler Josef Bauer stellt derzeit ebenfalls im Belvedere 21 aus. Seine bis zum 12. Januar 2020 zu sehende Werkschau trägt den Titel Demonstration. Bauer verwandelt Gegenstände des Alltags mit Sprache in präzise Konstellationen und Situationen, wie er seine Arbeiten nennt. Bei Kriegsende und bei der Befreiung des KZ Mauthausen und des Außenlagers Gunkirchen war er noch zu jung, um die Verbrechen verstehen zu können, berührt wurde er davon jedoch allemal. Dies zeigt sich in seiner Kunst. So etwa, wenn er für seine Soldatenserie von 2011 Fotos von Soldaten, die er auf Flohmärkten erwirbt, mit seinen Verfügbaren Pinselstrichen versieht. Dabei handelt es sich nicht um spontane Malaktionen, sondern um farbig gefasste Gipsabgüsse, poetische Verneinungen, mit denen er quasi gegen das heroische Posieren und die latente Gewalt auf diesen Soldatenfotos demonstriert.


Josef Bauer, Doris – Eine Installation mit Placebos, 2001-19; verschiedene Materialien, Maße variabel (Foto: JS)

Bauer, so heißt es in dem zur Ausstellung erschienenen Katalog, »verleiht mit seiner Kunst der Sprache eine dinglich körperliche Existenz, weil er sie in ein affektives Idiom übersetzt.« Seine Körpernahen Formen entstanden zu einer Zeit, als es noch keine Möglichkeit gab, diese am Computer generieren zu lassen.
Im Katalog breiten die Autorinnen und Autoren ihr ganzes kunsthistorisches Wissen aus, um dem Publikum Bauers Kunst nähern zu bringen. Wenn ich mich nicht arg täusche, konnten sie allerdings die mehrteilige Arbeit Doris von Josef Bauer nicht in einen kunsthistorischen Zusammenhang stellen. Bei Doris handelt es sich um eine »Installation mit Placebos« (2001-2019). Mittels verschiedener Fundstücke möchte Bauer das Bild einer Frau evozieren, von der unklar bleibt, ob sie real existiert.
Vor langer Zeit hat die Berliner Künstlergruppe Die Tödliche Doris verkündet, Doris tauche überall dort auf, wo es nicht erwartet werde. Haben wir es bei diesem Bauer’schen Werk etwa mit einer Reinkarnation der Berliner Doris zu tun? Die Tödliche Doris löste sich 1987 auf, genauer: jedes der drei Mitglieder ließ die Tödliche Doris in einen oder mehrere andere Zustände übergehen. Wolfgang Müller etwa transformierte sie in einen Vino da Tavola Bianco. Zuvor hatte die Gruppe noch die Langspielplatte Liveplaybacks veröffentlicht, »auf der eine Anhäufung von Klangmaterial die musikalische Struktur auflöst«, wie der Musikwissenschaftler Thomas Groetz in seiner Studie Doris als Musikerin feststellte (Martin Schmitz Verlag, 1999). Groetz prophezeite richtig: »Doris kann unerwartet auferstehen und sich in neuen Gewändern zeigen.«

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