Fragmente eines verspäteten Nachrufs auf Herbert Mißlitz
Von telegraph-Redakteur Dirk Teschner
Herbert Mißlitz und Marion Seelig 1989, Foto: Hans Scherner
Im vergangenen Jahr jagte eine Todesmeldung die nächste. Unter denen, die es zu verabschieden galt, war auch Herbert Mißlitz. Nachbarn seiner Wohnung in Prenzlauer Berg benachrichtigten am zweiten Weihnachtsfeiertag die Polizei – sie fanden seinen Leichnam, der dort schon über vier Wochen gelegen hatte. Es ist das traurige Ende eines ostdeutschen Berufsrevolutionärs.
Herbert Mißlitz wurde 1960 in Ostberlin geboren und machte nach seiner Schulzeit eine Ausbildung zum Stuckateur. Er ging den typischen Weg eines Unangepassten, dem der monotone Alltag der DDR auf den Sack ging. Seit Ende der 1970er Jahre trampte er durch die Republik, zu Beginn zum Bluesbums auf die Dörfer. Er hatte lange Haare, einen langen Bart, trank viel, schlief in Scheunen, lernte viele Gleichgesinnte kennen – das Übliche.
Ab Anfang der 1980er Jahre engagierte er sich in der Offenen Arbeit in Berlin. Die Offene Arbeit der evangelischen Kirche bot Räume für Kunden, Punks und Querulanten. Und es wurde politisch – Diskussionszirkel bildeten sich, Veranstaltungen fanden statt und Samisdat gedruckt.
Infolge des NATO-Doppelbeschlusses und der Aufstellung von neuen atomaren Mittelstreckenraketen in Westeuropa kam es 1983 in vielen Ländern zu Protesten. Es bildete sich eine neue Friedensbewegung. Auch in der DDR – es wurden Friedensseminare und Friedenswerkstätten abgehalten, es kam zu Protestaktionen im öffentlichen Raum, zu Inhaftierungen und Ausreisen von Mitgliedern oppositioneller Gruppen in den Westen. Trotz kurzer Stagnation durch den Abgang einiger Aktivisten, der Beginn einer stetig anwachsenden Oppositionsszene in der DDR konnte nicht mehr aufgehalten werden.
Herbert war immer und überall dabei. 1985 wurde er mit einhundert anderen als Wehrdienst-Totalverweigerern inhaftiert, auf Druck von der Kirche, von Oppositionsgruppen und aus dem Ausland wurden sie nach einigen Tagen wieder entlassen.
Nach der Reaktorkatastrophe im ukrainischen AKW Tschernobyl 1986 schossen neue Umweltgruppen wie Pilze aus dem Boden. Es gab mit den »Umweltblättern« und »Grenzfall« wichtige neue Zeitschriften der Opposition. Unter dem Namen »Schwarzer Kanal« wurden drei Sendungen eines Piratensenders in Ostberlin produziert und mit Hilfe von Mitgliedern der Westberliner autonomen Szene in der Nähe der Mauer ausgestrahlt.
Herbert fuhr als Kurier durch die Republik, verteilte aktuelle Ausgaben der Oppositionszeitschriften und den Mitschnitt der ersten Sendung des Schwarzen Kanals. Der Autor selbst erhielt im Herbst 86 eine Kassette zum Friedensfest in Karl-Marx-Stadt. Das mehrmalige Abspielen vor interessierten Hörern in Privaträumen reichte der Staatssicherheit als Vorwand aus, um mich und meine damalige Lebensgefährtin zu inhaftieren und wegen staatsfeindlicher Hetze zu verurteilen. Aber das ist eine andere Geschichte.
In Berlin gab es 1987 Bemühungen zur Durchführung eines Menschenrechtsseminars, die Vorbereitungsgruppe spaltete sich. In Folge dessen gründete die bürgerliche Fraktion die Gruppe Initiative Frieden und Menschenrechte und die marxistische Fraktion die Gruppe Gegenstimmen, deren Mitglied Herbert bis zur Auflösung im Herbst 89 war.
In Berlin war 1987 aufräumen, putzen und schön machen angesagt. Beide Teile feierten das 750-jährige Bestehen. Das bedeutete in Ostberlin auch intensive Gespräche und Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche. Die alljährliche Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche wurde abgesagt. Als Reaktion darauf fanden sich die verschiedensten Oppositionsgruppen, Musiker und Künstler zusammen, besetzten die Räume der Pfingstgemeinde in Berlin-Friedrichshain und veranstalteten den ersten »Kirchentag von Unten« (K.v.U.). Seitdem liefen Verhandlungen zur Erlangung eigener Räume. Es gab mit der Umwelt-Bibliothek und der angeschlossenen Galerie und sowie den Caféräumen und der Druckerei zwar schon ein wichtiges, autonom betriebenes Projekt in der Zionsgemeinde, aber das reichte längst nicht mehr aus. Und die Leute der K.v.U. kamen mehrheitlich aus der Offenen Arbeit, unter ihnen viele Punks. Sie suchten vor allem einen großen Raum für Veranstaltungen und Konzerte. Herbert war an den Verhandlungen und dem Aufbau bis Herbst ‘89 beteiligt. Die K.v.U. bekam Räume in der Elisabethgemeinde und existiert trotz mehrerer Umzüge bis heute.
Im Januar 1988 wurde er zusammen mit Vera Lengsfeld am Rande der Rosa-Luxemburg-Demo verhaftet. Im Unterschied zu ihr und den inhaftierten Mitgliedern der Gruppe Initiative Frieden und Menschenrechte, Templin, Bohley, Fischer, Hirsch und auch Krawczyk, Klier entschied er sich in der U-Haft gegen eine Entlassung in den Westen. Nach vier Tagen wurde er nach Ostberlin entlassen.
Das Jahr 1988 stand ganz im Zeichen des geplanten Kongresses von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank in Westberlin und dem sich formierenden Widerstand dagegen. Herbert war Mitgründer der Gruppe AG Weltwirtschaft. Es wurde ein umfangreicher Reader erstellt, Veranstaltungen organisiert, eine Tagung in Friedrichsfelde auf die Beine gestellt und öffentliche Protestaktionen durchgeführt. Es wurden u.a. Banker, die als Tagestouristen die DDR besuchten, mit Münzen beworfen.
Von 1988 bis 1989 war er Mitglied der Gruppe Demokratische SozialistInnen. Er ließ Texte von Ernest Mandel und der IV. Internationale auf einer Ormig-Maschine drucken und brachte sie in Umlauf.
Anfang September ‘89 war er Mitverfasser der Böhlener Plattform – für eine Vereinigte Linke in der DDR. Diese Erklärung gilt als Gründungspapier der späteren Vereinigten Linken (VL). Mit den Anfangszeilen »Entwickelt die enge Zusammenarbeit und das Bündnis der Linken! Vertretet offensiv die Positionen sozialistischer Demokratie und Freiheit! Erarbeitet eigenständig alternative Konzepte und Programmatik im Geiste einer demokratischen, freiheitlichen sozialistischen Entwicklung in der DDR!« stellte sie den wichtigsten linken Aufruf im Herbst ‘89 da. Im Vergleich zu anderen Aufrufen der Oppositionsgruppen und denen neu gegründeter Initiativgruppen enthielt die Böhlener Plattform den detailliertesten Katalog von Forderungen an ein Reformprogramm.
Bis Mitte 1990 war Herbert Mitglied der VL und kurze Zeit für sie Mitarbeiter in der Volkskammer. Bereits vor der Wende knüpfte Herbert, etwa im Rahmen der Anti-IWF-Kampagne 1988, engere Kontakte zu linken Gruppen im Westen. Es entstand ein erster Austausch mit AktivistInnen, denen nach einem Einreiseverbot nach Ostberlin, bald umfangreichere Kontakte folgen sollten. Ab 1990 arbeitete und lebte Herbert mit verschiedenen Menschen aus der autonomen und antiimperialistischen Westberliner Szene zusammen und war Teil des Ermittlungsausschuss (EA) im Kreuzberger Mehringhof. Er unterstützte die wenigen selbstorganisierten Streiks in Ostdeutschland und beteiligte sich an unzähligen Diskussionszirkeln.
Ab 1998 war er für einige Jahre Redakteur der Zeitschrift »telegraph«, der Nachfolgezeitschrift der wichtigsten DDR-Oppositionszeitung »Umweltblätter«.
Am 31. Juli 2007 stürmte ein Spezialeinsatzkommando seine Wohnung, ein Ermittlungsverfahren wurde gegen ihn eingeleitet. Der Vorwurf: Verstoß gegen §129a – Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Mit ihm wurden weitere Personen verdächtigt und Andrej Holm wochenlang inhaftiert. Bei den Verhören wurden Herbert Mißlitz seine umfangreichen Akten vorgelegt, die die Staatssicherheit über ihn angelegt hatte und er wurde über seine damaligen Kontakte zu Mitgliedern des PAC (Pan Africanist Congress) und zur Anti-IWF Aktionswoche befragt.
Später gab es eine Hausdurchsuchung im geerbten Haus seiner Großmutter, Grund war diesmal der Vorwurf der Unterstützung und des Vertriebs der Zeitschrift »radikal«.
Nebenbei studierte er ab Ende der 1990er Jahre Slawistik an der Humboldt Universität zu Berlin und später Osteuropawissenschaften an der Freien Universität Berlin, fuhr Taxi und gründete den Osteuropaservice. Mit diesem letzten Projekt betrieb Herbert wissenschaftliche Forschungen und Recherchen in Archiven, vor allem in Russland. Aber auch in diesem Fall gilt: Näheres weiß man nicht. Denn, Herbert liebte schon immer Geheimnisse und die Konspiration. Viele offene Baustellen bleiben: der Aufbau eines Archives, der Ausbau des geerbten Hauses seiner Großmutter in Karlshorst, in Russland neu Fuß fassen und vor allem – die Revolution.