Von Jürgen Schneider
Am 9. März 2014 führte Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) auf einer Veranstaltung des Hamburger Wochenblatts Die Zeit aus: »Als es um die Frage ging, wie entwickelt sich das in der Bundesrepublik Jugoslawien, Kosovo-Krieg, da haben wir unsere Flugzeuge, unsere Tornados nach Serbien geschickt, und die haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt – ohne daß es einen Sicherheitsratsbeschluß gegeben hätte. (…) Natürlich ist das, was auf der Krim geschieht, etwas, was auch Verstoß gegen das Völkerrecht ist. Aber wissen Sie, warum ich ein bißchen vorsichtiger bin mit ’nem erhobenem Zeigefinger? Ich muß nämlich sagen: Weil ich es selbst gemacht habe.«
Fünf Jahre später wurde dem österreichischen Schriftsteller Peter Handke der Literaturnobelpreis zuerkannt. Das Boulevardblatt oe24 titelte stolz: »Wir sind Nobelpreis.«
In den deutschen Medien brachten sich die Krieggutheißer, die den Terror der NATO gegen Serbien zur »Friedensmission« und zur »Holocaust-Verhinderung« umgelogen haben, in Stellung und »sudelten ihren Konfektionsschmutz über Handke hin« (Jürgen Roth).
»Der alte Streit aus dem vorigen Jahrhundert um Handkes Balkan-Schriften«, so Sigrid Löffler im Falter, »soll in Neuauflage wiederaufleben, diesmal auf der Weltbühne des Nobelpreises. Allenthalben wurden die Vorwürfe von 1996 um Handkes politisch-moralische Haltung im Jugoslawienkrieg und seinen Auftritt beim Begräbnis von Slobodan Milošević wieder hervorgegoogelt. Die alten Anschuldigungen haben sich inzwischen verselbstständigt und losgelöst von jedem Kontext. Sie sind verschlagwortet, werden aber verschärft durch neue Anwürfe wie ›Apologet des Völkermords‹.«
In der Kronenzeitung schrieb Heinz Sichrovsky, Handke habe sich im Jugoslawien-Krieg mit aller Leidenschaft hinter Serbien gestellt. Doch nicht etwa, um Kriegsgräuel zu rechtfertigen oder zu verharmlosen, sondern um Gerechtigkeit einzufordern: »In einem Bruderkrieg, in dem serbische Tschetniks, kroatische Post-Ustascha-Nazis, bosnisch-moslemische Fundamentalisten und albanische Mafia-Clans aufeinanderkrachten, könne es nicht nur eine schuldige Partei geben. Das und nichts sonst wollte er festgehalten wissen. Die NATO-Hörigkeit der von ihm verachteten, weil selbsternannten Qualitätsgroßpresse, machte ihn erst recht zornig.« Im Grunde genommen sei es Handke um sein großes Thema gegangen, nämlich, wie mit Sprache, durch Medien, Wirklichkeit geprägt und manipuliert wird, so die Literaturwissenschaftlerin Pia Janke im Standard. »Darum welche Bilder von diesem Krieg erzeugt und transportiert wurden. Handke ist nach Serbien gefahren, um das in den Blick zu bekommen, was die medialen Bilder ausgeblendet haben.« Peter Handke, der laut Sigrid Löffler immer wieder in seine Herkunftswelt eintauche, Slowenien und die slowenische Minderheit in Kärnten mythisiere und idealisiere sowie als Alternative zur imperialen und zur Nazi-Vergangenheit Österreichs die slowenischen Partisanen heroisiere, habe sich sich im letzten Vierteljahrhundert »in radikalen Selbstbefragungen mehrfach revidiert, während die Vorwürfe auf dem Stand von 1996 verharren. Hatte die mediale Öffentlichkeit diesen Autor schon damals vielfach schlecht gelesen und damit seinen störrischen Trotz und seine jugoslawischen Zorngesänge der 1990-er Jahre provoziert, so hat sie ihn seither, so scheint’s, gar nicht mehr gelesen.«
Warum auch lesen, wenn der zur eigenen moralischen Entlastung gegen Handke erhobene Zeigefinger und aufgestocherter Meinungsschlamm von den gratismutigen Apologeten des rot-grünen Völkerrechtsnihilismus der Schröders, Scharpings und Fischers als hinreichend empfunden wird?
Das Zeitbrücke-Museum der Kamptal-Sommerfrische Gars feierte in diesem Jahr den 200. Geburtstag eines Mannes, den man in den Suchmaschinen unter dem Namen Franz von Suppé findet und der zwischen 1876 und 1895 seine Sommer in Gars verbracht hat, mit einer Jubiläumsausstellung und einer reich bebilderten Begleit-Publikation von Andreas Weigel: Franz von Suppè (1819-1895). Mensch. Mythos. Musiker. Ehrenbürger von Gars.
Suppé (1819-1895) gilt als Schöpfer der Wiener Operette. Doch ist der Mann nicht nur Operetten-Afficionados bekannt, auch Frank Zappa nahm sich seines Œuvres an. In Zappas Song ›Jesus Thinks You’re A Jerk‹ vom Album Broadway The Hard Way (1988) wird eine Passage aus Suppès Leichte-Kavallerie-Ouvertüre zitiert.
Zweihundert Jahre nach Franz von Suppès Geburt, so der Literatur-und Theaterwissenschaftler Andreas Weigel, den ich Wiener Café Eiles traf, war so überraschend wenig Verbrieftes über seine Vorfahren, Ehefrauen, Nachkommen, Verwandten und Lebensumstände bekannt, dass bei der Vorbereitung der Garser Jubiläumsausstellung und der Begleitpublikation zahlreiche Fragen und Widersprüche auftraten, die biografische Nachforschungen erforderlich machten, die wiederum Zweifel an vielen bisher überlieferten Lebensdaten geschürt haben.
Die überlieferten Fehler begannen bereits 1819 mit Suppès Taufeintrag, der den Mädchennamen der Mutter entstellt und die amtlich verbürgte italienische Schreibweise des Familiennamens ignoriert, den der Komponist, sein Vater und sein Großvater (mit accent grave) Suppè geschrieben haben. Laut Taufbucheintrag lautet Suppès vollständiger Name Francesco Ezechiele Ermenegildo de Suppe.
Was soll man von einem Redakteur einer sog. »Qualitätszeitung« halten, der Weigel während eines Telefonats mitteilte, er werde sich seiner Suppè-Monografie nicht annehmen, weil Weigel ja bereits den Namen falsch geschrieben habe? In der Kronenzeitung fand sich neulich die treffende Bezeichnung für einen solchen Blattmacher: »Energiesparbelichteter Kulturpublizist.« Es handelt sich also um einen jener feuilletonistischen Schwätzer, die – so Thomas Bernhard in Auslöschung – »aus den Zeitungen seit hundert Jahren eine feuilletonistische Armeleutelektüre gemacht haben, in welcher sie ihre haarsträubenden Irrtümer immer wieder aufkochen bis zum Überdruß.«
Suppès Großvater Ignaz Jandowsky unterstellen die bisherigen Suppè-Biografen unisono, dass er als Beamter des Theresianums seinen Enkel, der ab 1835 bei ihm in Wien-Wieden gewohnt haben soll, zum Medizinstudium gedrängt habe. Tatsächlich ist dieser Opa mütterlicherseits bereits im Februar 1803, also 16 Jahre vor der Geburt des Enkels, in Wien verstorben. Suppès Rechts- bzw. Philosophie-Studium in Padua wurde von den Biografen ebenso frei erfunden wie das Medizinstudium in Wien.
Laut Weigel ist Vladimir Haklik aufgrund seiner regen Recherche-Tätigkeit die erfreuliche Ausnahme unter den bisherigen Suppè-Biografen, die kaum etwas überprüft hätten. Die Biografen Kromer, Schneidereit und auch Roser, der die Arbeiten seiner Vorgänger in seinem Opus ansprechend zusammengefasst habe, berichten über Suppès Ouvertüre zu Karl Elmars Lustspiel Dichter und Bauer übereinstimmend, dass diese 1846 selbst von den strengen Musikkritikern in allerhöchsten Tönen gelobt worden wäre: »Dr. August Schmidt, der das Schaffen Suppés in der Wiener Allgemeinen Musikzeitung oft sehr kritisch begleitete, brach in schieren Jubel aus: ›Herr Suppé ist eine Perle, die Direktor Pokorny in Gold fassen sollte. Die Musik ist allerliebst.‹« Dieses Lob kommt in der Dichter-und-Bauer-Besprechung von »Dr. Maleno« [d. i. Dr. August Schmidt]
in der Wiener allgemeinen Musik-Zeitung vom 27. August 1846 überhaupt nicht vor. Tatsächlich wurde das angebliche Lob von Julius Kromer für seine 1941 verfasste Wiener Dissertation (wie vieles andere auch) völlig frei erfunden. Seine Nachfolger haben ihm blind vertraut, obwohl die Textierung des umstrittenen Brachial-Lobes bei Weigel allein wegen seiner zeitnahen Anklänge an Adolf Hitlers Wien-Lob Verdacht erweckt hat. Hitler tönte anlässlich der Begrüßung durch den Bürgermeister der Stadt Wien, Hermann Neubacher, am 9. April 1938: »… diese Stadt ist in meinen Augen eine Perle! Ich werde sie in jene Fassung bringen, die dieser Perle würdig ist, und sie der Obhut des ganzen Deutschen Reiches, der ganzen Deutschen Nation anvertrauen. Auch diese Stadt wird eine neue Blüte erleben.« Geht es nach den lese- und denkfaulen Redakteuren in den Feuilleton-Stuben der Wiener Qualitätsmedien, bleibt diese Perle aus der Suppe der Suppè-Biografen weiterhin unwidersprochen.
Weigel hatte sich schon einmal mit der Ignoranz der Medien und erkenntnisresistenten Akademikern herumschlagen müssen, als er Behauptungen des Autors Max Riccabona (1915-1997) nachgegangen war und nachweisen konnte, dass der damals 17-Jährige während jener drei Wochen, die der irische Schriftsteller James Joyce im Sommer 1932 in Feldkirch verbrachte, selbst in der Deutschen Heilstätte zu Davos in stationärer Behandlung war. Dies ist durch Briefe und Postkarten verbürgt, die Riccabona damals seiner Mutter geschrieben hat, weshalb – so Weigel – die ihn nachhaltig prägende Begegnung mit Joyce getrost als Münchhausiade zu Grabe getragen werden kann. Im Elfenbeinturm zu Akademia wollten allerdings so manche Riccabona-Experten an dieser Münchhausiade festhalten – klar doch, schließlich hatten sie den Unfug über Jahre geglaubt und verbreitet, statt sich die Mühe einer Recherche zu machen.
Dem Besuch im Plüschambiente des Café Eiles folgte am nächsten Tag der des funktional-sachlichen Musikpavillons Fluc am Praterstern. Dort sollten die örtlichen Noise-Musiker von Speedroon Noordeeps die Vorgruppe für ihre japanische Electro-Kollegin Yuko Araki sein, die auf Europatournee ist, um ihre MC und CD II vorzustellen, erschienen beim italienischen Label Commando Vanessa.
Cover der MC II von Yuko Araki (Commando Vanessa)
Bis zum Konzertbeginn war noch Zeit, also beschloss ich, kurz den Prater in Augenschein zu nehmen. Der Rummelplatz bot einen deprimierenden Anblick. Außer ein paar fotografierenden Japanern war kaum eine Menschenseele zu sehen, was vermutlich daran lag, dass sich die Kopie des Münchner Großbesäufnisereignisses, die Wiener Wiesn, vor noch nicht allzu langer Zeit für dieses Jahr auskopiert hatte, wodurch die Verlederhosung der Stadt vorübergehend stagniert.
Die Jungs von Speedroon Noordeeps können mit ihrem Lärm mühelos ein halbes Dutzend Heavy Metal Bands in Schach halten und es locker mit Baumaschinen und Bodenfräsen aufnehmen. Es wummerte, hämmerte, knarzte, jaulte und schepperte aus den Lautsprecherboxen. Weniger brachial ging Yuko Araki mit ihren analogen Synthesizern ans Werk. Sie integrierte in ihre synthetischen Soundschichten auch Melodiöses, Zimbel-Töne und Samples traditioneller japanischer Musik.
Das Kunsthistorische Museum zu Wien zeigt derzeit (bis zum 19. Jänner 2020) die Ausstellung »Caravaggio & Bernini – Entdeckung der Gefühle«. Wolle man die Kunst des 17. Jahrhunderts in Rom charakterisieren und bei allen bestehenden Unterschieden und Gegensätzen nach verbindenden Phänomenen oder gar einer Systematik suchen, dann falle auf, so die Kuratorin Gudrun Swoboda im Katalog zur Ausstellung, dass sie nicht zuletzt eine Kunst der großen Gefühle sei. Im Rahmen der in Rom vorangetriebenen Gegenreformation sollten die Gläubigen durch Bilder überwältigt werden.
In seiner Komödie Alte Meister (1985) hatte Thomas Bernhard geschrieben: »Jeder noch so geniale Pinselstrich dieser sogenannten Alten Meister ist eine Lüge (…) Weltausschmückungsmaler (…), religionsverlogene Dekorationsgehilfen der europäischen katholischen Herrschaften, nichts anderes sind diese Alten Meister, das sehen Sie in jedem Tupfen, den diese Künstler ungeniert auf ihre Leinwände gedrückt haben (…) Es ist die größte und auch die infamste Malkunst…«
Diese »größte Malkunst« zeigt sich etwa Michelangelo Merisi da Caravaggios Gemälde »Der hl. Franziskus in Meditation« (um 1605/06), ohne jedoch »infam« zu sein. Es ist in der Ausstellung der Sektion »Visione[n]« zugeordnet. Abgebildet ist jener hl. Franz von Assisi (1181-1226), auf den sich Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Buch Empire mit ihrem Plädoyer für die Freude am Sein, für Biomacht und Kommunismus, Kooperation und Revolution in Liebe berufen, weil der hl. Franz sich in Opposition zum aufkommenden Kapitalismus jeglicher instrumentellen Vernunft verweigerte und der Abtötung des Fleisches ein glückliches Leben entgegensetzte, »das alles Sein und die gesamte Natur, die Tiere, Schwester Mond, Bruder Sonne, die Vögel auf dem Felde, die armen und ausgebeuteten Menschen zusammenschloss gegen den Willen der Macht und die Korruption.«
Caravaggio, Der hl. Franziskus in Meditation. Um 1605/06.
Leinwand, 130 x 90 cm. Cremona, Museo Civico Ala Ponzone.
Abb. a. d. Wiener Katalog, S. 148
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