„Becoming Black“, Dokumentarfilm, 91 Min., Dt. 2019, Regie: Ines Johnson-Spain
Von Angelika Nguyen
Ein Nachmittag in einer Ostberliner Wohnung, 1974. Ein zwölfjähriges schwarzes Mädchen und ihr zwei Jahre älterer weißer Bruder sind allein, die Eltern nicht da. Mit einer Art Dietrich öffnen sie die Wohnzimmertür, die in Abwesenheit der Eltern stets verschlossen ist, und entdecken in einer Schublade einen Ordner. Dieser Ordner enthält die Informationen über die wahre Herkunft des Mädchens, Name, Blutgruppe des Vaters, eines Togolesen. Dieser Ordner deckt die Lüge in der Familie auf. Das Mädchen schreit weder noch fällt es in Ohnmacht noch stellt es die Eltern zur Rede. Es beschließt nur, diesen Eltern nichts mehr zu sagen, was ihr wichtig ist und eines Tages seinen leiblichen Vater zu suchen und bis nach Togo zu reisen. Wo liegt denn Togo? Das muss das Mädchen erst mal im Lexikon nachschlagen. Irgendwo in Afrika war der andere Teil von ihm, und danach wird es suchen, eines Tages.
Ines Johnson-Spain, die Regisseurin, welche zugleich ihre eigene Hauptprotagonistin ist, erzählt von dieser Entdeckung, die sie als Kind machte und von dem Entschluss, den sie daraufhin fasste, in einem Gespräch mit ihrem Adoptivvater, den sie Armin nennt. Das ist nicht der Beginn des Films, sondern sein Höhepunkt, man kann auch sagen: sein Wendepunkt.
Wie lang der Weg nach Togo für das Mädchen war, das erzählt dieser Dokumentarfilm. Er ist so gebaut, siehe Titel, dass man einen Prozess erkennen kann. Diesen erzählt die Regisseurin nicht linear. Vielmehr gibt es verschiedene Erzählebenen: da sind die Gespräche mit den weißen Verwandten und Bekannten in Deutschland, wo sie eine Cousine der Mutter, eine Urlaubsbekanntschaft der Eltern, ihren Bruder befragt, wie sie sie, Ines damals wahr- genommen haben. Im Subtext fragt sie: habt ihr gesehen, dass ich schwarz bin und dass ich dafür leiden musste? Nein, sagen Tante und Bekannte einvernehmlich, sie hätten ein „glückliches Kind“ gesehen. Sie wäre nur „schnell beleidigt“ gewesen. Das lässt der Film so stehen. Vom Adoptivvater wird Ines‘ Existenz ihr gegenüber auch schon mal als „Problem“ bezeichnet, daraufhin schweigt sie kurz, bevor sie weiter fragt.
Eine andere Erzählebene sind die Gespräche und Ereignisse bei der Familie in Togo und Benin, noch eine andere die Familienfotos, die die schwarze Ines immer herausstechend zeigen inmitten ihrer weißen familiären Umgebung, und, eine Erzählebene auf ganz andere Art, die inneren Off-Monologe von Ines, in denen sie, fern jeder Höflichkeit und Contenance von den täglichen Angriffen auf dem Schulhof erzählt, von vielen Jahren mit Magenschmerzen, weil sie versuchte, „normal“ zu sein, von ihrer Hoffnung im Ferienlager, dass man sie einfach nur in Ruhe lässt, von einem dicken Wollpullover mitten im Sommer und von einem fremden schwarzen Mädchen, dem sie nicht beistehen wollte. Diese diversen Erzählebenen verschränkt die Regisseurin so, dass sie einander kommentieren, ergänzen, widersprechen bis hin zum scharfen Kontrast. Sie baut die Widersprüche so lange gegeneinander auf, bis sie explodieren – in jenem Gespräch mit Armin.
Was niemals bei Ines zu spüren ist, obwohl es verständlich wäre, ist Zorn. Zorn auf ihre Mutter und auf Armin dafür, dass sie sie durch Schweigen aushungerten und ihr Lebenswichtiges verweigerten. Dass sie sie im Unklaren über sich selbst ließen, obwohl ganz offensichtlich war, dass etwas nicht stimmte. Die Verletzung ist enorm, unerhört. Von außen Beleidigungen und rassistische Angriffe, das Starren auf der Straße, überall im öffentlichen Raum. Und nach einem solchen Tag nicht wirklich nach Hause kommen können, weil da dieses Schweigen ist, diese Unterströmungen eines Elternpaares, das seine eigenen Angelegenheiten auf Kosten des Kindes „bereinigt“ hat und es sehr allein ließen.
Doch die Regisseurin findet ein anderes Mittel als den direkten Zornesausbruch: Sie montiert zu den Gesprächen mit Armin einen filmischen Widerspruch von den Verwandten aus Togo und Benin. „Es ist nicht Sache der Eltern, die Persönlichkeit des Kindes zu verändern.“ sagen dort zwei Männer in einem Gespräch zu Ines, im Schatten eines afrikanischen Hauses „Das Kind muss seinem eigenen Ziel folgen!“
Daraufhin sieht man Ines nachdenklich in den tropischen Regen schauen, und noch in die afrikanische Szenerie hinein schneidet der Film die Frage des Adoptivvaters aus Pankow: „Wann wurde dir denn eigentlich bewusst, was die Ursache für dein Anderssein ist?“. Noch 50 Jahre später kann er nicht klarer formulieren, was er meint. Und dann folgt ihre Antwort – dass sie eben als Zwölfjährige den Ordner und die Wahrheit fand und daraufhin beschloss, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das Kind beantwortete damals Schweigen mit Schweigen. Etwas so Brisantes für eine Familie erzählt Ines vor laufender Kamera dem Adoptivvater da im Park in Pankow-Niederschönhausen ganz ruhig, und das ist vielleicht wirksamer als aller Zorn der Welt.
Wir werden Zeugen einer filmischen Selbstbefreiung, die bis in die Widmung im Abspann reicht. Nun ist das Mädchen von damals als Erwachsene nicht nur bis nach Togo gekommen und hatte schon Anfang der 90iger über diesen Umweg den Vater in Mühlheim an der Ruhr glücklich gefunden. Als Regisseurin dieses Films konnte Ines in den Gesprächen in Deutschland, Togo und Benin auch vieles klären oder Ungeklärtes zumindest sichtbar machen. Zum Beispiel kann sie mit dem Bruder Michael nicht klären, wie ihre Geschwisterbeziehung damals war, sie fand sie ziemlich eng, er nicht. Er war froh, sagt er, dass sie die „Schläge abbekam“, nicht er, und er fand es nicht gut, dass die Mutter ihm sagte, sie habe ihn lieber als ihre Tochter. Da gibt es größere Schweigemomente zwischen den beiden, die im selben Haushalt und doch unter so unterschiedlichen Bedingungen aufwuchsen. Aber die Familienkultur des Verschweigens und der verschlossenen Türen hat offenbar auch ihn traumatisiert. Die Geschwister wirken so, als hätten sie keine gemeinsame Sprache mehr. Dass die Regisseurin diese Szenen im Film gelassen hat, zeigt, dass sie es offenbar als wichtig erachtet, Ungelöstes auch stehen zu lassen. Bei der Familie in Togo und Benin hingegen spürt man, dass Ines sich gut aufgehoben und auch verstanden fühlt, auch dank dessen, dass sie fließend Französisch spricht. Das erlaubt ihr, in den Gesprächen dort in die Tiefe zu gehen, was eine wichtige Komponente des Films ist. Sichtlich genießt Ines die Wärme, die ihr entgegengebracht wird, ihr Lächeln ist anders als bei den Interviews in Deutschland, sie ist entspannter, weicher.
Eine Person gibt es, die Ines Johnson-Spain nichts mehr fragen kann, obwohl sie vielleicht diejenige ist, an die sie die meisten Fragen hätte: ihre Mutter. Jene Frau, die Ines in den Gesprächen mit Armin und Michael stets zärtlich „Mammi.“ nennt. Gleich zu Beginn des Films erzählt sie von ihr, dass sie ihr einmal an einem „Samstag in ihrer Kindheit“ beinahe gesagt hätte, warum sie, ihre Tochter, „eine andere Hautfarbe“ hat. Und, obwohl sie „längst“ tot ist, ist diese Mutter in dem Film sehr präsent. Als junge Frau auf Fotos, in Erzählungen. Die Frau, deren Ausbruch in eine kurze Liebesgeschichte mit einem Togolesen im Jahr 1961 diese Geschichte überhaupt erst möglich gemacht hat und die seither versuchte, sie ungeschehen zu machen. Es ist auch ein Film über diese deutsche weiße Frau, die ihre Ehe retten wollte und ihre heile kleine Welt – und ihren Ruf. Deren Ängste so weit gingen, dass sie so tat, als sei ihr Kind weiß, obwohl alle sahen, es ist schwarz und dass es nicht das Kind von ihrem weißen Ehemann sein konnte. Und die der Tochter sicher nicht beistand, wenn sie tagtäglich die Zielscheibe für die Angriffe von Mitmenschen war.
Gewissermaßen einen Gegenentwurf zu dieser verheerenden Defensivhaltung stellt eine besondere Interviewpartnerin dar, die etwa in der Mitte des Films auftaucht. Die wie Ines‘ Mutter – vermutlich auch in den 60iger Jahren – sich in einen Afrikaner verliebte und ihn heiratete. Die mit ihm und den beiden gemeinsamen Kindern in der DDR ein Leben aufbaute. Die zornig wurde, wenn man ihren Kindern auf der Straße in die Haare fasste und den distanzlosen Weißen als Antwort ebenfalls in die Haare fasste. Die abends nicht mehr ausging, weil sie die verbalen und tätlichen Angriffe auf ihren Mann fürchtete und sie auch satthatte. Die erzählte, dass die DDR-Polizei bei Beschwerden und Anzeigen von Rassismus-Opfern fast immer den Deutschen recht gab und überzeugt war, dass „die Afrikaner selber schuld waren“. Völkerfreundschaft ja, Liebe und Freundschaft nein, das war der absurde Widerspruch, in dem sich bi-ethnische Paare in der DDR bewegten.
Wer jetzt glaubt, dass der Film wieder nur ein weiterer Beleg dafür sei, dass Rassismus und deutsch-nationales Misstrauen nur aus Ostdeutschland stammen, weil die Leute dort kein Kontakt zu Menschen aus „anderen Kulturen“ hatten und nur in ihrem eigenen Saft schmorten, den überrascht vielleicht die Aussage jener Ehefrau eines Afrikaners, die darüber bestimmt schon länger nachdenkt. Sie antwortet auf Ines‘ diesbezügliche Frage, dass man das zwar immer so sage über die DDR, aber dass ihr das zu kurz greife und die Ursachen für Hass und Fremdklischees viel weiter zurückliegen, in tief sitzenden kolonialistischen und historisch später fortgesetzten Nazi-Denkmustern aus zwölf Jahre deutschem Faschismus, die bis heute wirken, weil in der DDR die „positiven Bilder“ des Fremden viel zu oberflächlich gesetzt waren und altes Denken nicht wirklich ausräumten. Das ist viel überzeugender als immer nur in der DDR-Geschichte die Ursachen für Ost-Rassismus zu suchen.
Der Film „Becoming Black“ ist politisch brisant, persönlich berührend und ein klug gebautes authentisches Drama. Selten sind Gespräche und „Talking Heads“ in einem Dokumentarfilm so spannend, und selten atmet eine Schlussszene in einem Dokumentarfilm so schön durch.
Der Film läuft ab 9. September beim Internationalen FrauenFilmFestival in Köln-Dortmund, danach in Berlin beim Achtung Berlin!-Festival und in ausgewählten Kinos.