Vom Umbruch in der DDR, so ein Wolfgang Schäuble zugeschriebenes Diktum, durften keine Prozesse ausgehen, die in der BRD bestehende Strukturen hätten verändern können. Die anschließende radikale Privatisierung in Ostdeutschland verlief mithilfe der bereits bewährten Schockstrategie. Das unmittelbare Erleben der gigantischen Enteignungskampagne bleibt bis heute Teil ostdeutscher Identität.
Von Malte Daniljuk
Aus telegraph #137/138 2020/2021 (telegraph bestellen?)
1. Die Resilienz des Sozialen
Im Oktober jährte sich das formale Ende der DDR zum 30. Mal. Dass dieses Land zuvor insgesamt nur 40 Jahre existierte, macht den Abstand deutlich, den die jüngeren Generationen zu dieser kurzen Episode der deutschen Geschichte haben könnten. Warum also, abgesehen von persönlich biografischen Gründen, sich noch mit diesem kleinen Land beschäftigen? Eine Antwort bietet das Institut für Meinungsforschung Allensbach. Noch im vergangenen Jahr wollten nur 30 Prozent der Ostdeutschen sicher ausschließen, dass es ein besseres Wirtschaftssystem als die Marktwirtschaft geben könnte. Die große Mehrheit der irgendwie von der DDR geprägten Bevölkerung pflegt zuverlässig bis heute vom westdeutschen Durchschnitt abweichende Sichtweisen auf das politische und wirtschaftliche System. Signifikant mehr Ostdeutsche verlangen mehr demokratische Mitbestimmung, mehr soziale Gerechtigkeit, sie stehen Zwangsmaßnahmen in der internationalen Politik skeptischer gegenüber und haben bis heute eine freundliche Einstellung gegenüber Russland.
Diese kurzen vierzig Jahre an realer, sowjetisch geprägter Sozialismuserfahrung beweisen bis heute also eine bemerkenswerte Durchschlagskraft auf politische Grundeinstellungen. Die DDR ist immer noch ein messbarer Sachverhalt, obwohl ihr normatives Verschwinden bald genauso lange zurückliegt, wie ihre Existenz überhaupt gedauert hat. Das ideologische Echo einer soliden historisch-materialistischen Grundbildung ist bis heute deutlich vernehmbar, die Erfahrung einer sozial egalitären Umwelt immer noch prägend, das Wissen um die Endlichkeit jedes politischen Systems gegenwärtig. Immer wenn die wirtschaftliche und ökologische Dysfunktionalität des herrschenden Systems sich in handfesten Krisensymptomen manifestiert, verweisen native Ostdeutsche mit faustischer Gewissheit darauf, über den Vorteil zu verfügen, schon einmal ein als historisch überlegen geltendes System zusammenbrechen gesehen zu haben.
Diese eigenwillige Gegenwart der DDR in Einstellungen und Haltungen ist schon allein deshalb bemerkenswert, weil ihre Institutionen, Regeln und Symbole recht schnell und gründlich beseitigt wurden. Aber mehr noch: Die ideologischen Apparate, wie Althusser sie nannte, des überlebenden Systems unternahmen in den folgenden Jahrzehnten nicht unbeträchtliche Anstrengungen, jede mit dem Realsozialismus zusammenhängende Erinnerung in ihrem Sinne zu überschreiben oder auszulöschen. Insofern zeigt die sozialistische Erfahrung sich deutlich resilienter als gemeinhin angenommen. Diese Resilienz des Sozialen ist der eigentliche Grund, warum es sich lohnt, heute noch dieser lang zurückliegenden Geschichte nachzuspüren.
2. Spezialisten für die Wirklichkeit
Nun sind Einstellungen und Haltungen, ist Ideologie bis heute ein sumpfiges Themenfeld. Auch jahrzehntelange Erforschung von Propaganda und psychologischer Kriegsführung, Ideologiekritik und Diskursanalyse führten nicht dazu, dass wir aktuell zuverlässige Aussagen über das Wollen und Wünschen gesellschaftlicher Gruppen treffen könnten. Grundsätzlich gilt jedoch: Eigene Erfahrung sticht vermitteltes Wissen. Das unmittelbare Erleben erweist sich als schwer zu hintergehende Ressource. Natürlich hat der Nachrichtensprecher ein ehrliches Gesicht. Was er auswählt, wie er gewichtet und kommentiert, all das beeinflusst die Agenda der nächsten Tage. Aber seine professionellen, immer jedoch an Laien gerichteten Darstellungen können die Gewissheit des Spezialisten kaum erschüttern. Dass jede und jeder genau das ist, ein Spezialist für die eigenen Angelegenheiten, begrenzt grundsätzlich die Wirksamkeit der ideologischen Apparate.
In ihrer vergleichsweise kurzfristigen Wirksamkeit liegt eine entscheidende Erklärung für die nervtötende Redundanz aktueller Medieninhalte. Sie müssen täglich und wöchentlich aufs Neue den Tagessieg einfahren, um langfristig wirksame Erfahrungen übertönen zu können. Diese täglich neue Inszenierung des Immergleichen faszinierte bereits in den 1940er Jahren Max Horkheimer und Theodor Adorno, als sie die Anfänge der Kulturindustrie beschrieben. Dass sie dabei auf die industrielle Standardisierung kultureller Produkte abstellten, sollte jedoch nicht in den Hintergrund treten lassen, dass die für ein System wesentlichen Erzählinhalte, ihre zentralen Mythen, in immer neuem Gewand wiederholt werden müssen.
Sie sprachen von einer Ablenkung „vom Wesentlichen hin zum Sekundären“, die dadurch gelingt, dass die Konsumenten das Gefühl bekommen, dabei zu sein und Bescheid zu wissen. Mit Blick auf eine politische Öffentlichkeit betrifft „das Wesentliche“ natürlich weniger den intrinsischen Genuss einer Oper, welchen Horkheimer und Adorno Schaden nehmen sahen. Aber ihre Einschätzung lag bereits erstaunlich nahe an der moderneren Beschreibung parasozialer Interaktion, die Medienkonsum als Ersatz für reale soziale Beziehungen erkannt hat.
Aus dieser Perspektive hat die Medienproduktion vor allem die Funktion, tatsächliche soziale Interaktion zu verhindern, einen Verständigungsprozess unter den Spezialisten für die Wirklichkeit auszubremsen. Indem sie die tagesaktuelle Agenda bestimmen, beschäftigen sie die Gesellschaft abwechslungsreich täglich mit dem Immergleichen. Dies bringt das gruppengebundene Erfahrungswissen zwar nicht zum Verschwinden, verhindert aber wirkungsvoll, dass es in einen Austausch eintritt, Prozesse der Selbstverständigung beginnt, sich artikuliert, eine eigene Agenda entwickelt, wirkungsmächtig wird.
3. Agenda Cutting
Je länger die Wiedervereinigung zurückliegt, desto stärker verfestigt sich die Einschätzung, dass es sich um einen mittlerweile 30-jährigen Prozess des Agenda Cutting handelt. Das bezeichnet die Strategie, bestimmte Ereignisse oder Meinungen von der öffentlichen Tagesordnung zu verdrängen, etwa indem man die Sprecher delegitimiert, ihre Reichweite einschränkt oder völlig andere Schwerpunkte setzt. Die Strategie der Bundesregierung bestand vom Herbst 89 an darin, Prozesse der Selbstverständigung in Ostdeutschland unwirksam zu machen. Vom Umbruch in der DDR, so ein Wolfgang Schäuble zugeschriebenes Diktum, durften keine Prozesse ausgehen, die in der BRD bestehende Strukturen hätten verändern können.
Was das hätte sein können, wird schnell klar, wenn man auf die Ergebnisse schaut, welche die zaghafte ostdeutsche Selbstverständigung innerhalb weniger Monate am zentralen Runden Tisch erbrachte. In kürzester Zeit hatten sich die Gegner von gestern, Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerbewegung und der sich gerade in die PDS transformierenden SED auf den Entwurf einer Verfassung geeinigt, die hinsichtlich der Bürger- und Eigentumsrechte eher an den kapitalismuskritischen Nachkriegsprogrammen von CDU und SPD orientiert war als am im Westen einsetzenden neoliberalen Zeitgeist.
Für die basisdemokratischen Impulse des Herbst 89 war in der alten und neuen Bundesrepublik ebenso wenig Platz wie für die etatistische Grundhaltung beinahe aller unter dem osteuropäischen Sozialismus geprägten Akteure. Niemand sollte sich in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt mit der Frage auseinandersetzen, ob es sinnvoll ist, den privaten Grundbesitz an Boden auf 100 Hektar zu begrenzen, wirtschaftliche Monopole zu unterbinden oder ob staatliches Handeln den Auftrag haben sollte, die Umwelt genauso zu schützen wie die Gleichberechtigung der Geschlechter. Dies gilt sicher genauso für die Vorstellung, gesetzliche Verbote für Kriegspropaganda und öffentliche Bekundung von die Menschenwürde verletzender Diskriminierung zu verankern.
Dass es im Prozess der Wiedervereinigung sehr effektiv gelang, solche Debatten aus dem Bereich der öffentlichen Meinungsfindung und den politischen Institutionen herauszuhalten, führt zu bis heute anhaltenden Phantomschmerzen der damals politisch Aktiven. Der zunächst sehr erfolgreiche Prozess der Selbstverständigung lief ins Leere, ein Umstand, der dieses unbestimmte Gefühl hinterlässt, dass da noch einige lose Enden herumflattern, Aufgaben ungelöst liegen geblieben sind. Indem der breite Prozess der Selbstermächtigung auf den Straßen, in Betrieben und an Runden Tischen schließlich auf einen Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschränkt wurde, fand eine Entmündigung statt, die viele Ostdeutsche nachtragen. Wenn irgendwelche Meinungsforscher in Bonn bis heute messen können, dass die Ostdeutschen wohl immer noch nicht richtig in der Bundesrepublik angekommen sind, sehen sie vermutlich Effekte, die sich in dieser Leerstelle ausbreiten. Sie bildet einen Schutzraum, aus dem das Soziale seine Resilienz bezieht, die gemeinsam erfahrene Geschichte, auf die Westdeutsche keinen Zugriff haben, das Privileg der Erfahrung, Identität.
In der gesamtdeutschen Öffentlichkeit spielten Menschen, die ostdeutsche Erfahrungen und Interessen hätten repräsentieren können, jedoch lange überhaupt keine Rolle. Rückblickend ist vor allem bemerkenswert, mit welcher Konsequenz potentielle Sprecherinnen und Sprecher ostdeutscher Interessen in den 1990er Jahren angegriffen und demontiert wurden. Dabei richteten sich diese Kampagnen nicht nur gegen Menschen wie Christa Wolf oder Heiner Müller, denen eine starke Befähigung zum kritischen Denken unterstellt werden konnte, selbst eher gefällige Zeitgenossen wie Manfred Stolpe mussten sich dauerhaft auf harten Gegenwind aus westdeutschen Gazetten und Politstuben einstellen.
Gleichzeitig gelang es nicht, eine eigene überregionale ostdeutsche Medieninfrastruktur zu etablieren. Von dutzenden neu gegründeten Zeitungen überlebte keine einzige, die Infrastrukturen des ostdeutschen Rundfunks wurden abgewickelt oder in das sorgfältig von CDU und SPD kontrollierte System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks überführt. Zuletzt recherchierte Mandy Tröger mit beeindruckenden Ergebnissen, wie der kurze Pressefrühling von einer Handvoll westdeutscher Familienkonglomerate einkassiert wurde. Mit der Bundesregierung und der Treuhand im Rücken teilten die Familien Springer, Mohn und Burda Ostdeutschland blitzartig unter sich auf. Durch diese kapital- und parteienorientierte Wendepolitik, so Mandy Tröger mit Blick auf das Mediensystem, hatten geplante basisdemokratische Reformen in Ostdeutschland keine Chance.
4. Schockstrategie
Alles war Beschleunigung in diesem Jahr 89, die Atmosphäre begann förmlich zu knistern, so stark verdichtete sich die Materie im Herbst. Aber einige waren, das muss man rückblickend anerkennen, eben noch schneller. Am 10. November zum Beispiel, die meisten Ostdeutschen fragten sich noch, was gerade passiert war, da stand Vernon Walters schon auf der Glienicker Brücke und gab eine Erklärung ab: Die Freiheit hat gesiegt. Diese Erklärung ist nicht nur wegen ihrer schlichten Einfachheit bemerkenswert, sondern vor allem, weil sie für den regierungsamtlichen Diskurs über die nächsten 30 Jahre ausreichen musste.
Die wenigen ostdeutschen Bürgerrechtler, die in dieser Nacht um ihre Meinung gefragt wurden, etwa Bärbel Bohley im Interview mit dem NDR Morgenmagazin, zeigten sich weniger sicher, um nicht zu sagen verunsichert, was die Einordnung des plötzlichen Verschwindens einer effektiven Systemgrenze betraf. Der Mauerfall, so ein weit verbreiteter Tenor unter den damals politisch Aktiven, behinderte effektiv den eben begonnen Prozess der Verständigung innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft.
Aber dies war nur der erste äußere Schock, den die Gesellschaft zu verkraften hatte. Innerhalb weniger Wochen begann die CDU einen offensiven Straßenwahlkampf, der den bedingungslosen Beitritt zum westdeutschen Grundgesetz mit dem Anreiz einer schnellstmöglichen Währungsunion verknüpfte und als völlig alternativlos darstellte. Selbst etablierte konservative Ökonomen sprachen sich gegen den Kohl-Plan aus, da er absehbar zur schockartigen Entwertung ostdeutscher Wirtschaftsstrukturen führen müsse. Egal, nur Schnelligkeit zählte.
Immerhin fand, schmerzlich für die Bürgerbewegung, aber ein bis heute nicht zu unterschätzender Faktor, dieses Vorgehen ein ansprechbares Publikum innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft. „Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“, dichteten die in der ostdeutschen Provinz Zurückgeblieben. 30 Jahre Wiedervereinigung sind auch 30 Jahre AfD, damals als Allianz für Deutschland, erinnerte treffend im vergangenen Herbst der Telegraph an ein soziales und politisches Kontinuum in Ostdeutschland.
Mithilfe der noch vom Runden Tisch beschlossenen Treuhandanstalt, ihr ursprünglicher Auftrag war die Vergesellschaftung der vormals staatlichen Unternehmen, zerschlug aus Westdeutschland eingeflogenes Managerpersonal in Windeseile die vorhandenen wirtschaftlichen Strukturen. Millionenfache Arbeitslosigkeit, dauerhaft zerstörte ökonomische Grundlagen, fehlende Basis für Akkumulation und Entstehung von Kapital führten direkt zum deutschen Mezzogiorno, allerdings in einer eben noch hoch industrialisierten Region mit hervorragend qualifizierter Bevölkerung.
Auf individueller Ebene besteht mit zunehmenden Abstand die Tendenz, diese Vorgänge als Schicksal zu behandeln, eine Form der Erinnerung, die politische Verantwortung ins Ungewisse expediert. Deshalb muss 30 Jahre später auch immer wieder in Erinnerung gerufen werden, dass es eine von der damaligen Bundesregierung verfolgte Strategie war, eine zielgerichtete Anwendung von Mitteln und Methoden.
Naomi Klein hat erst im Jahr 2007 diese Strategie von bestimmten Eliten, von Interessengruppen aus Kapitalfraktionen, beschrieben und benannt. Anhand von Beispielen wie Russland und Polen zeichnete sie nach, wie politische Entscheider aus den globalen Eliten ganze Bevölkerungen in einen Schockzustand versetzen und die damit einhergehende Desorientierung nutzen, um blitzartig eine radikale Privatisierung durchzusetzen, also letztlich gigantische Enteignungskampagnen durchzuführen. Sie schildert Fälle, in denen Naturkatastrophen zum Anlass für eine Schockstrategie wurden, aber benennt auch Beispiele, in denen Schockzustände gezielt von außen herbeigeführt wurden, etwa im Irak mithilfe eines militärischen Angriffs, oder des Klassikers der Schockstrategie, durch einen Putsch wie 1973 in Chile.
Die Entscheidungsfindung der Bundesregierung unter Helmut Kohl in Sachen Wiedervereinigung ist bis heute nur teilweise aufgearbeitet. Sicher ist indes, dass sie einen bei der Anwendung von Schockstrategie äußerst kompetenten Berater hatte, den schnellen Vernon Walters. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er als amerikanischer Botschafter in Bonn, zuvor war er unter anderem CIA-Chef, bis er, schnell wie immer, von diesem Posten zurücktrat, als sich abzeichnete, dass mit Jimmy Carter ein Demokrat an die Regierung kommt, der mit den dunklen Operationen der Nixon-Ära Schluss macht. Zuvor hatte Vernon Walters unter anderem den Putsch in Chile federführend begleitet und insofern auch Erfahrung, wie man eine Volkswirtschaft mittlerer Größe putschartig nach den Vorstellungen der Chiacago-Boys umgestaltet.
5. Gewaltfreie Expropriation
Im Unterschied zu Chile und vielen anderen Ländern der so genannten Dritten Welt verlief dieser Prozess der weitgehenden Entrechtung und beinahe vollständigen Enteignung in Ostdeutschland und Osteuropa so gut wie gewaltfrei. Entscheidende Bevölkerungsgruppen in den vom sowjetischen Sozialismus geprägten Gesellschaften haben scheinbar freiwillig die „Pinochet-Option“ gewählt, wie Naomi Klein es zuspitzte. Die ostdeutsche Bevölkerung verbindet mit den mittel- und osteuropäischen Gesellschaften insofern nicht nur die Sozialismus-Erfahrung oder dass man in der Folge gemeinsam tief greifende Umbrüche durchlebte, sondern auch, dass dies ohne einen unmittelbar erkennbaren externen Zwang ablief.
Tatsächlich ging es jedoch darum, einen Moment allgemeiner Desorientierung zu nutzen, um möglichst schnell eigene Konzepte zu verankern. Die Strategie stammt eigentlich von einem anderen engen Berater der chilenischen Diktatoren, von dem Chicagoer Professor Milton Friedmann. Man könnte sie auch einfacher als Überwältigungstaktik oder Schubladenpolitik bezeichnen. Ihre Vertreter verfügen über einen global handlungsfähigen Apparat und die immer gleichen Konzepte in der Schublade, die sie in einem extern verursachten oder natürlich vorkommenden Schockmoment blitzschnell aus ebendieser Schublade ziehen und mithilfe lokaler Akteure in neue Strukturen gießen.
Diese Strukturen sind ein rechtlicher und institutioneller Rahmen, der ausschließlich darauf ausgelegt ist, seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten aufgebaute öffentliche Ressourcen zu privatisieren, das heißt, an eine Gruppe von Finanzinvestoren und Unternehmensbesitzern zu überschreiben, sie zu enteignen. Natürlich baute Professor Friedmann dieses Konzept sprachlich aus, etwa in seinem Manifest „Kapitalismus und Freiheit“, aber grundlegend bestand es in dem Ratschlag an die großen Kapitalbesitzer: Nutze den Moment und behaupte, es diene der Freiheit aller.
Bis Anfang der 1970er Jahre galt dieses recht durchsichtige Konstrukt auch unter westlichen Wirtschaftswissenschaftlern als haarsträubender Unfug, als ideologischer Schutt aus der Ära des Liberalismus im 19. Jahrhundert. Möglicherweise wäre dies auch so geblieben, wenn ein anderer Freund des schnellen Handelns, Vernon Walters, nicht Professor Friedmann und seinen Kollegen einen handlungsfähigen globalen Apparat, ein Experimentierfeld und eine passende Gelegenheit zur Verfügung gestellt hätte, den Putsch vom 11. September 1973 in Chile.
Natürlich musste, man sollte diese Vorgänge gar nicht dramatisieren, in der zusammenbrechenden DDR niemand physisch ausgelöscht oder gefoltert werden. Es reichte aus, nachdrücklich das Diktum der Alternativlosigkeit in den öffentlichen Raum zu stellen sowie die Diskussions- und die Artikulationsfähigkeit der Gesellschaft einzuschränken, die öffentliche Debatte und die politischen Institutionen exklusiv unter Kontrolle zu halten. Das System der repressiven Toleranz, wie es Herbert Marcuse schon 1965 mit Blick auf die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften bezeichnete, neutralisiert effektive Abweichungen, „die Anerkennung dessen, was nicht dem Establishment angehört“, durch die technisch-mediale Kontrolle.
Hinzukommt, dass diese Enteignungskampagne dazu beitrug, die westdeutschen Kapital- und Industriegruppen im einsetzenden europäischen und weltweiten Wettbewerb sehr gut aufzustellen. Stabile wirtschaftliche und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen vorausgesetzt, fallen aus der globalen Konkurrenz ausreichend Gewinne ab, um auch die Bewohner des Mezzogiorno dauerhaft zu alimentieren, zumal deren Ausgaben an Miete, Lebensmitteln und Konsumgütern größtenteils direkt über die Elbe zurück in den Westen fließen. Zusammen mit den Privilegien einer starken Währung und beinahe uneingeschränkter Reisefreiheit erklärt das, weshalb bis heute die meisten Ostdeutschen nicht mit ihren osteuropäischen Nachbarn tauschen wollen.
Anders als in Polen, Tschechien und der Russischen Föderation verlief die Enteignung in Ostdeutschland jedoch sehr viel gründlicher. In den osteuropäischen Ländern bildeten sich während der Umbrüche, in teilweise schmerzhaften Prozessen, neue autochthone Eliten heraus, die bis heute relevante Teile des gesellschaftlichen Eigentums besitzen und auch in den neuen politischen Institutionen vertreten sind. Insofern verlief die Übernahme der DDR durch westdeutsches Kapital und westdeutsche Politiker durchaus weitgehender. Ostdeutsche sind in den gesamtdeutschen Eliten, unter Kapitaleignern, in Unternehmensspitzen und Institutionen bis heute teilweise noch geringer vertreten als andere notorisch unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen.
6. Was bleibt
Der Verlust speziell der materiellen Ressourcen, eine derart gründliche Enteignung, ist langfristig nicht wiedergutzumachen. Die ostdeutsche Bevölkerung bleibt hinsichtlich Kapitalverfügung und Immobilienbesitz dauerhaft weit unter dem westdeutschen Durchschnitt. Und da im real existierenden Kapitalismus die Kontrolle über materielle Ressourcen den Einfluss auf das politische System nun mal entscheidend bestimmt, wird sich über die Ebene der betreffenden fünf Bundesländer hinaus auch die politische Gestaltungsmacht weiterhin in Grenzen halten. Hinzu kommt, dass jeder Versuch, innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft an die progressiven Traditionen der DDR und der Wendejahre anzuknüpfen, auf ein nicht zu unterschätzendes, aggressives, kleinbürgerlich konservatives Milieu stößt, das im richtigen Augenblick stets das Falsche fordert. Katja Salomo konnte mit ihren Untersuchungen zeigen, dass dieses Milieu sich in vielen ostdeutschen Regionen eher noch verfestigt, weil viele jüngere, höher gebildete und weltoffene Menschen auch weiterhin in den Westen ziehen. Auch in Hinblick auf diesen PiS-Effekt, wie man ihn anhand der polnischen Entwicklung nennen könnte, weist Ostdeutschland im Übrigen Gemeinsamkeiten mit den ost-mitteleuropäischen Gesellschaften auf.
Andererseits, und dafür stehen Katja Salomo und Mandy Tröger genauso wie Jana Hensel, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aus Ostdeutschland ein beachtenswertes Potential an jungen kritischen Wissenschaftlern entwickelt, die durchaus als organische Intellektuelle im Sinne Gramscis agieren können. Sie wirken über ihre beruflich akademische Welt hinaus, beziehen ihre Fragestellungen aus den Problemen ihrer Herkunftsgesellschaft und vermitteln ihre Ergebnisse in diese zurück. Bundesweit Aufsehen erregte im vergangenen Jahr der aus Rostock stammende Soziologe Steffen Mau, Professor an der Humboldt-Universität, als er mit „Lütten Klein“, einer ungewöhnlich deutlich formulierten Analyse der ostdeutschen Verhältnisse, die Spiegel-Bestseller-Liste stürmte. Noch höher ist die Reichweite von kritischen ostdeutschen Schriftstellern, die gewissermaßen an die beste DDR-Tradition anknüpfen, indem sie in einem weniger parteipolitisch kontrollierten Bereich der Kulturindustrie Geschichte schreiben. Ingo Schulze und Lutz Seiler, um nur zwei zu nennen, machen immer wieder die fortschrittlichen Elemente ostdeutscher Identität erlebbar.
Nicht zuletzt überleben einige originär ostdeutsche Medien bis heute, namentlich die Wochenzeitung Der Freitag, oder einige unabhängige Sender wie Radio Blau, das Freie Radio aus Leipzig. Wie die weitere redaktionelle Entwicklung beim Berliner Verlag abläuft, der zunächst von Robert Maxwell an Gruner+Jahr, zu Holtzbrinck, zu DuMont verschoben worden war, bleibt abzuwarten. Mit einer vor allem in den ostdeutschen Universitätsstädten beheimateten vielfältigen freien Kulturszene ist aus diesen Gruppen in den vergangenen 30 Jahren durchaus eine ostdeutsche Öffentlichkeit entstanden, die weit über die unmittelbare politische Repräsentation etwa durch DIE LINKE hinaus den gesellschaftlichen Austausch innerhalb der ehemaligen DDR am Laufen erhält. Dies bleibt in gewisser Weise ein Garant für die Resilienz des Sozialen.
Malte Daniljuk schrieb für die Umweltblätter, arbeitete später im telegraph mit und ist Redakteur bei der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.
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