Von Jürgen Schneider
Die Generaldirektorin der Documenta, Sabine Schormann, ist gegangen worden. Im Spiegel heißt es dazu: »Für immer wird die Ausstellungsreihe nun mit einem echten Skandal verbunden sein (…) Schormann ist gegangen, und dieses Ende ist nun hoffentlich ein Anfang echter Aufklärung.« Gibt es eine unechte Aufklärung? Die Berliner Zeitung sekundiert: »Bei der Bewertung des Debakels wird es nun einer ehrlichen Bilanz ohne die üblichen Phrasen bedürfen.«
Wir erinnern uns: Nachdem die Documenta 15 eröffnet war, wurde immer wieder medial unterstellt, das große Banner People’s Justice von Taring Padi sei bewusst erst aufgehängt worden, nachdem die meisten Journalist:innen bereits abgereist waren. Wie kam es dann aber dazu, dass die Abgereisten sich sicher sein konnten, das Banner, das sie nicht gesehen hatten, bediene sich einer antisemitischen Bildsprache? Diese Sicherheit paart sich mit der Phrase, es sei bereits im Januar vor Antisemitismus bei der bevorstehenden Documenta gewarnt worden. Haben die kritischen Kritiker den Text der Kasseler Blogger, auf den sie sich berufen, überhaupt gelesen? Jenes Traktat, in dem die Documenta als Naziveranstaltung bezeichnet und Joseph Beuys als Beleg für diese steile These angeführt wird? Den Text jenes Bündnisses gegen Antisemitismus, das sich antimuslimischen Rassismus auf die Fahnen geschrieben hat, das Antisemitismus als Killerargument benutzt, wie es in art agenda hieß? Diese Islamfeindlichkeit konnte wohlwollend aufgenommen werden, wurde in eben jenen Medien, die sich nun als Zensoren gebärden, doch einst der Abdruck der scheußlichen Mohammed-Karikaturen mit dem Hinweis befürwortet, es gelte die Meinungsfreiheit zu verteidigen.
Gegen Beuys, dessen Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu einer Veränderung seiner Kunst und seiner Auffassung der Rolle von Kunst in der Gesellschaft führte, musste dann noch nachgelegt werden. Ihn als Nazi zu bezeichnen reichte nicht. Er wurde im ND auch des Antiamerikanismus bezichtigt, weil er einst in New York ein paar Tage mit einem Kojoten kommunizierte, jenem Tier, das bei den Native Americans, die offenbar nicht als Amerikaner gelten sollen, als Umgestalter, Geist der Unordnung und Feind von Grenzen gilt. Ist es antiamerikanisch, wenn Beuys durch die USA reiste und seine Vorstellungen vom erweiterten Kunstbegriff, der notwendigen Bewusstseinsveränderung und immer wieder das Modell von der Free International School for Creativity and Interdisciplinary Research erläuterte? Wenn er zögerte, überhaupt in die USA zu reisen, so lange deren Truppen versuchten, Vietnam in die Steinzeit zurück zu bomben?
Selbst nachdem darauf hingewiesen wurde, dass auf dem Banner von Taring Padi deutlich ein ausgeixtes Hakenkreuz zu sehen ist (https://telegraph.cc/documenta-15-in-der-bilderflut-ein-ausgeixtes-hakenkreuz/), tönt die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen), es werde »antisemitische Bildsprache ausgestellt«. Zwei als antisemitisch zu deutende Figuren unter mehr als hundert anderen auf über 100 Quadratmetern ergeben keine antisemitische Bildsprache. Ein »Wimmelbild« von Hieronymus Bosch lässt sich auch nicht anhand von nur zwei Figuren würdigen, ohne die Relation aller Elemente in einen wirklichen Sinnzusammenhang zu rücken.
In einem Interview mit der Zeit hoben Mitglieder des Kollektivs Taring Padi hervor, ihr Thema sei »Klasse, nicht Rasse«. Sie verwiesen auf den Aufstand, der die indonesische Suharto-Diktatur letztlich zu Fall gebracht hat, »ein System, das Hunderttausende Menschen das Leben gekostet hat«. Bildlicher Gegenstand ihres Banners sei »auch um die Unterstützung der westlichen Demokratien für den Aufstieg der indonesischen Militärdiktatur unter Suharto im Kontext des Kalten Krieges«. Eine Auseinandersetzung darüber wurde durch die Abhängung des Banners unterbunden. Es wäre dabei auch darum gegangen, die deutsche Indonesienpolitik in den Fokus zu rücken, vom Wirken der Organisation Gehlen unter jenem Nazi, dem diese Organisation ihren Namen verdankte und die Suharto und seine Schergen unterstütze, bis hin zu Kanzler Helmut Kohl, der den Schlächter Suharto als seinen »Freund« bezeichnete und mit ihm angeln ging. Stattdessen wird eine Personaldebatte geführt, mit immer neuen Vorschlägen, wer zu feuern sei, und ein rasches Vorgehen einer Kunstpolizei gefordert, die alle Documenta-Werke daraufhin beleuchten soll, ob sie antisemitischen Inhalts sind.
Dicht gemacht wurde allerdings, ohne ein kunstpolizeiliches Urteil abzuwarten. Hanno Hauenstein schrieb am 02.07.2022 in der Berliner Zeitung: »Am selben Tag, an dem ich nach Kassel reise, sind so gut wie alle Veranstaltungen im documenta-Programmplan auf einen Schlag abgesagt worden. ›Wegen Covid‹, sagt eine Mitarbeiterin im ruruHaus, dem Herzstück der documenta 15, wo ruangrupas kollektive ›lumbung‹-Praxis erfahrbar werden soll. ›Wirklich?‹, frage ich, ›wegen Covid?« – ›Nicht wirklich‹, antwortet sie, ›hast du aber nicht von mir.‹«
Jörg Heiser beschrieb am 29. Juni 2022 in art agenda, dass er sich die Filme des Kollektivs Subversive Films aus Brüssel und Ramallah auf dem Hübner-Areal habe ansehen wollen. Am Eingang habe ein handgeschriebener Zettel jedoch auf technische Probleme hingewiesen, weswegen die Tokyo Reels nicht zu sehen gewesen seien. In einem anderen Bericht hieß es, die Filme seien aus dem Documenta-Programm genommen worden. Heiser hat die Filme nicht gesehen, gibt aber den Bescheidwisser: die Filme wären vermutlich keine nuancierten Dokumentarfilme, sondern für ihre Zeit typische Propaganda.
Die Süddeutsche Zeitung berichtete: »Besonders problematisch sind Filmarbeiten des Kollektivs Subversive Films aus Brüssel und Ramallah, zu sehen an den Documenta-Spielorten Hübner-Areal und Gloria-Kino unter dem Namen Tokyo Reels Film Festival. Das Künstlerkollektiv um Mohanad Yaqubi und Reem Shillem traf sich, wie sie auf der Website der Documenta schreiben, vor dem Projekt mit dem japanischen Agit Prop-Filmemacher und ehemaligem Mitglied von Terrororganisationen Masao Adachi, dies war demnach der Ausgangspunkt ihres Projekts. Danach erhielten sie Filme aus den Siebzigern diverser Regisseure mit Propaganda auch für die palästinensische Sache. Die Gruppe bezieht sich auf einen Kader bei der terroristischen Japanischen Roten Armee.« Der 1939 geborene Masao Adachi sei lange führender Kader der Japanischen Roten Armee (JRA) gewesen. Diese habe eine Reihe von Anschlägen in etlichen Ländern verübt, darunter den Anschlag auf den Flughafen in Tel Aviv am 30. Mai 1972, bei dem 26 Menschen starben und 80 verletzt wurden.
William Andrews führt in seinem Buch Dissenting Japan – A History of Japanese Radicalism and Counterculture from 1945 to Fukushima aus, die Japanische Rote Armee (Nihon Sekigun) sei formal erst im Dezember 1974 gegründet worden als von ihrer Gastgeberin, der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), unabhängige Organisation. Die Übernahme der Verantwortung für den Anschlag in Tel Aviv durch die JRA war also wohl ein Fake. Adachi, so Andrews in seinem Buch Die Japanische Rote Armee Fraktion, wollte ursprünglich nur wenige Jahre unter den Palästinensern bleiben, um an Filmprojekten zu arbeiten, aber seine Verbindungen zur JRA machten ihn de facto zum »Mitglied«, ohne dass er jemals aoffiziell beigetreten war. Die »terroristische Praxis«, wegen der Adachi verurteilt wurde, bestand in einem Passvergehen.
Der berühmte japanische Filmregisseur Nagisa Ôshima bezeichnet Adachi im Vorwort zu dessen Buch Le bus de la révolution passera bientôt près de chez toi – Écrits sur le cinéma, la guérilla et l’avant-garde (1963-2010) als »grand esprit«. Adachi hat sich nicht nur mit dem filmischen Wirken Ôshimas, sondern u. a. auch mit dem von Jean-Luc Godard und Rainer Werner Fassbinder auseinandergesetzt. William Andrews schreibt: »Anders als beim modernen Hollywood und dessen Abhängigkeit von terroristischen ›Bösewichten‹ ist die Verbindung zwischen der Politik der Neuen Linken und Film in Japan weder zufällig noch leichtfertig. Für Leute wie Wakamatsu und Adachi war Kino ein ehrlicher Versuch, um Ideologie zu erforschen und zu verbreiten und ein Teil ihrer fundamentalen philosophischen Neuerfindung des Kinos selbst.« Andrews konstatiert ein internationales Interesse an Adachis Arbeit. Hierzulande war es der Künstler Lutz Dammbeck, der sich mit Adachi und dessen Werk auseinandersetzte.1
Denjenigen, die eine »echte Aufklärung« und »eine ehrliche Documenta-Bilanz ohne Phrasen« fordern, reicht der Hinweis, Adachi sei ein »Freund der RAF« gewesen, um sich seiner zu entledigen und nach Zensur zu rufen. In Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno heißt es: »Wenn das Denken die herrschenden Vorschriften nicht bloß noch einmal sanktioniert, so muß es noch selbstgewisser, universaler, autoritativer auftreten, als wenn es bloß rechtfertigt, was schon gilt.«
1) Siehe: https://www.hoerspielundfeature.de/ein-gespraech-ueber-kunst-und-revolution-bruno-bettina-100.html. Von Jasper Sharp nach seinem Film Prisoner/Terrorist (Yuheisha/Terorisuto) von 2007 befragt, erklärte Adachi: »In the case of Prisoner/Terrorist, some people who expected to see an anti-American or anti-Israeli film felt rather let down, because I haven’t tried to talk on this level of politicized ideas.« (http://www.midnighteye.com/interviews/masao-adachi/) »Viele von Adachis Szenarien ergeben weit mehr Sinn, wenn man diese als surrealistisch begreift. Er selbst nennt in Il se peut que la beauté André Bretons erstes surrealistisches Manifest als wichtigsten Einfluss und Grundimpulsgeber seines filmischen Schaffens, und wie die Surrealisten der 1920er verwendet er Darstellungen sexueller und gewalttätiger Natur, um einen Bruch im Realitätsempfinden des Zuschauers herbeizuführen, durch den gewisse Aspekte der (sozialen) Realität unter anderen Vorzeichen betrachtet werden können.« (https://dominicschmid.wordpress.com/2016/03/07/radikale-aesthetik/)