Kultur, Osten

Anatolien gerammt – Ein Zeilendurcheinander aus dem jüngsten Werk von Kai Pohl

Von Jürgen Schneider

Besuchen Sie das Humayun-Grabmal, das Mausoleum des Schah Tscheragh, den Gettysburg-Friedhof und den Military Park, das War Memorial, die Gedenkstätte Yad Vashem, das thrakische Grabmal in Kasanlak, den Bergsteigerfriedhof von Zermatt, die Zechen des Ruhrpotts, die Stuttgarter Top-Bauprojekte, die Original Hardware für die Trägerrakete Ariane. Besuchen Sie den Zoo Deutschland. Schreiben wir uns an die Zukunft heran. Damit wir später glauben, was wir heute sehen, beobachtet uns eine Kamera von ziemlich nah. Flingern Nord ist der Prenzlauer Berg von Düsseldorf. Im Weg stand Die Mauer / von der Blüte zur Wut / ein ehrloser Kropf / zwischen Landschaft und Barschaft / von Niemand hat die Absicht … / bis Sofort, unverzüglich / zurück von der Zweiheit / zur Streicheleinheit. Die Misere ist für Dieter Pfizner durch »die Westler« personifiziert: »›Wir sind das Volk! Stasi raus!‹ – Da könnte ich mir heute noch in den Hintern treten, dass ich das gerufen habe. Die Stasi war noch ein herrlicher Babysitter-Gesangsverein gegen das, was wir jetzt haben. Die lassen die Nazis demonstrieren, und den Kommunisten verbieten sie ihren Kampftag der Arbeiterklasse – das ist doch ein Verbrecherstaat, in dem wir leben.« Pfitzner wünscht, dass ein Asteroid im Kapital-Zentrum von Süddeutschland einschlägt: »Ich hasse diese West-Multis wie ’n Splitter im Arsch. Das können Sie drucken!«

Es ist an der Zeit zu unterscheiden zwischen Herrschaft, die in all ihren Variationen auf die Gegnerliste gehört, und Macht, die bitter nötig ist, um gegen Herrschaft überhaupt vorgehen zu können. Wir suchten weder Sinn noch Zins, geschweige denn Freunde und Helfer resp. Vopos. Unser Leiter war der Himmel. Heute Nacht ist der Himmel voller Sterne. Industrie und Arbeitslager werden aus dem Boden gestampft mit einem Überschuss an krimineller Energie. Eine Orgie aus Lärm und Licht bricht los, begleitet von der Ankündigung: »Die Show beginnt!« Die Stadt sieht aus, als wäre sie in braunem Dreckwasser gekocht. Magrittes Moment der Panik, der erklärungslos ausgehalten werden muss. Alien Panic. Ewald-der-Gschissene rammt seinen gigantischen pulsierenden fleischfarbenen Brunzdübel in einen halb verwesten Pferdeschädel. Aber was täte Erich Mühsam, der das Theater als »die beste Ablenkung« bezeichnete, fände er sich heutzutage vor dem Fernseher wieder? Matthias BAADER Holsts Texte waren bestimmt, das »Sinnregime« zu zerschlagen. Aus den Abbruchstücken formte er Wortfolgen, die dem Unsinn verschrieben sind, den schon der russische Futurist Igor Terentjew als den »Feuerhaken des Schöpfertums« bezeichnete. Katja Horns sensible sprachliche Bilder sind lesbar als Psychogramme, die zugleich Akte der Selbstbehauptung sind. Bei Alexander Krohns Px heißt die Machart übrigens real fiction: Virulenz erzeugen mittels Pose und Bluff.

Von wegen trostloser Herbst! Volle Kraft voraus! In langer fälliger Blutlache endet ein Stralsunder Raser. Der Tod, ein untiefer Bach, verleumdet Seufzer. Die Sonne kam hoch als der Tag Asbach Uralt. Ich ahnte den Schein der Düsternis im »gewaltig sich blähenden Nichts«. DAS WORT ist ringsum schlaff geworden. Viel Lärm um Kunst. Wer wird der neue Geschäftsführer von Hegels Weltgeist sein und leuchten bis Schweineöde? O ROLF DIETER / schreib du uns einen Rettungsschirm / für die Seuche / die dem Trott die Krone aufsetzt. Wir befinden uns offenbar in jener Unreal City von Eliot. Das billigste Bier trägt die poesievollsten Namen. Zukunft wird im FutureLab gezüchtet. ///

»Die Zeilen sind durcheinander geraten«, heißt es in dem Gedicht ›Und ihr Gestorbensein erfüllt sie mit Glanz‹, enthalten in dem jüngsten, artistisch-technisch superben Werk des Sprach-und Bildmonteurs Kai Pohl mit dem Titel Anatolien gerammt. Material/Montagen 2001-2020. Pohl weiß um Adornos Diktum, dass Kunst nur als experimentierende, nicht als geborgene, überhaupt noch ihre Chance hat.

Originalzeilen aus Anatolien gerammt sind in meinem Text durcheinander geraten und besprechen sich so quasi ganz von selbst. Wäre die Literaturkritik hierzulande nicht dominiert von einem Alb-Scheck, der im Rahmen seiner TV-Interpretationsexerzitien Bücher in Qualm aufgehen lässt, sich eines Verfahrens bedient, das im Jargon der Nazis »abschießen« hieß, sowie von anderen auf der Eigenarschgeige fiedelnden Mitmachern, die voller Respekt vor einem jeglichen Bestehenden gerne und vordringlich mit erstarrten Phrasen Trübe-Tassen-Literatur anpreisen, Pohl würde eine Poleposition einnehmen unter den zeitgenössischen Schreiber:innen.

Den Konformisten einen Tritt! Lass Dich rammen von den Gedichten, Geschichten, Wortmontagen, Buchbesprechungen und Thesen sowie von den Collagen, Lesezeichen, Postkarten, Ausstellungsobjekten und den Fake-Signets in Anatolien gerammt, liebe Leserin und lieber Leser.

Kai Pohl, Anatolien gerammt. Material/Montagen 2001-2020. 176 Seiten, franz. Broschur. – Pretzien: Moloko Print, 2021, 17,50 Euro