Kultur

»Kunstschaffende« oder »Kulturschaffende« – Begriffe aus dem »Wörterbuch des Unmenschen«

Von Jürgen Schneider

Joseph Goebbels: Aufruf der Kulturschaffenden. Ausschnitt aus Völkischer Beobachter vom 18. August 1934

Joseph Goebbels: Aufruf der Kulturschaffenden. Ausschnitt aus Völkischer Beobachter vom 18. August 1934

Mit aller Selbstverständlichkeit wird immer noch der in den 1920-er Jahren in der Kulturwissenschaft aufgekommene Begriff »Kunstschaffende« verwendet.  Er gilt als genderneutral. Sprachliche Gleichberechtigung wird als zeitgemäß gepriesen, dem Gendern gehöre die Zukunft, so hören wir immer wieder. So ist etwa in einem Genderwörterbuch im Internet zu lesen, statt der Pluralform Künstler solle das Wort »Kunstschaffende« verwendet werden. Mit diesem Wort schleppen wir allerdings das Tausendjährige Reich in die Zukunft mit. Von der »Herausforderung der überkommenen Worte« sprach einst Theodor W. Adorno.

Im April 1937 zelebrierten die Nationalsozialisten das »neue deutsche Kunstschaffen« als Instrument der propagandistischen Selbstdarstellung im Rahmen der repräsentativen »Große[n] Deutsche Kunstausstellung« in der »Hauptstadt der Bewegung«. Schon am 18. August 1934, nach Paul von Hindenburgs Tod, sprachen sich deutsche »Kunstschaffende« im Aufruf zur Volksbefragung über die Vereinigung des Reichspräsidenten- und Kanzleramts in der Person Hitlers aus. In der Begründung des Gesetzes über die Einrichtung der Reichskulturkammer im September 1937 hieß es: »Die Aufgabe des Staates ist es, innerhalb der Kultur schädliche Kräfte zu bekämpfen und wertvolle zu fördern, und zwar nach dem Maßstab des Verantwortungsbewußtseins für die nationale Gemeinschaft. In diesem Sinne bleibt das Kulturschaffen frei. Wohl aber ist es […] notwendig, die Schaffenden auf allen ihren Gebieten unter der Führung des Reiches zu einer einheitlichen Willensgestaltung zusammenzufassen.« Die Nationalsozialisten stellten dem »raffenden« (jüdischen) Börsen- und Leihkapital das idealisierte Gegenbild eines »schaffenden« (arischen) Kapitals gegenüber. Joseph Goebbels verstand unter »Brechung der Zinsknechtschaft« die »Beseitigung der tyrannischen Geldgewalt der Börse in Staat und Wirtschaft, die das schaffende Volk ausbeutet, moralisch verseucht und zum nationalen Denken unfähig macht«.

Der Übersetzer Wilhelm Emanuel Süskind verzeichnete 1946 in der Zeitschrift Wandlung den Begriff »Kulturschaffende« im »Wörterbuch des Unmenschen«. Ganz so, als geisterte der Begriff nicht durch die westdeutschen Feuilletons, rechnete die Gesellschaft für deutsche Sprache mit Sitz in Wiesbaden nach 1990 die Bezeichnung »Kulturschaffender« zu den überlebensfähigen DDR-spezifischen Wörtern, weil diese 1949 in der Sowjetischen Besatzungszone in der Verordnung über die Erhaltung und die Entwicklung der deutschen Wissenschaft und Kultur aufgetaucht war und auch in der DDR gebräuchlich war.

Das Wort »Kunst-« oder »Kulturschaffende« muss nach Victor Klemperer (1881-1960) als »vergiftet« gelten: »Worte können sein wie Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt und scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.«  Bei einer Begegnung mit einer Berliner Kommunistin hatte Klemperer erfahren, dass sie »wejen Ausdrücken« gegen die Nazis gesessen hatte. »Das war die Erleuchtung für mich. Bei diesem Wort sah ich klar. Wejen Ausdrücken. Deswegen und daherum würde ich meine Arbeit am Tagebuch aufnehmen.« In seiner 1947 erstmals erschienenen profunden Kritik der Sprache des Dritten Reiches – aus dem Tagebuch war das »Notizbuch eines Philologen« mit dem Titel LTI (Lingua Tertii Imperii) geworden – hatte Klemperer seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass das »schwerwiegendste Wort unserer Übergangsperiode«, das Wort Entnazifizierung, eines Tages verschwunden sein wird, »weil der Zustand, den es beenden sollte, nicht mehr vorhanden ist. Aber eine ganze Weile wird es bis dahin noch dauern, denn zu verschwinden hat ja nicht nur das nazistische Tun, sondern auch die nazistische Gesinnung, die nazistische Denkgewöhnung und ihr Nährboden: die Sprache des Nazismus. (…) Die LTI ist wirklich total gewesen, sie hat in vollkommener Einheitlichkeit ihr ganzes Großdeutschland erfasst und verseucht.«

Klemperers Biograph Peter Jacobs schreibt in Victor Klemperer – Im Kern ein deutsches Gewächs zu dessen Vorgehen: »Nicht das Etymologische, der Ursprung des Wortes, nicht das Semantische, der eigentliche Wortsinn, nicht die Stilübung, sondern die Art des Umgangs mit dem deutschen Wortmaterial im Dritten Reich, die Verbiegungen, die Tarnungen, die Missbräuche, die Lügengewebe – das schlüsselt der Philologe auf, um in seiner Bedrängnis an die Wahrheit heranzukommen, die in dieser Zeit wie nie zuvor dem Volk, das diese Sprache spricht, vorenthalten wird.«

Die Reste der LTI sind aus der deutschen Sprache nie völlig verbannt worden, sie wesen in ihr fort, ohne dass es völkischer Gaulandser oder Pegidazis bedurft hätte. Ein nazistisch vergifteter Begriff wie Kulturschaffende sollte in linken Medien tabu sein. Matthias Heine, Autor des Buches Verbrannte Wörter: Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht,  führte in einem Interview der Deutschen Welle vom 19.03.2019 aus: »Wenn Künstler gegen vermeintlich rassistische Bestrebungen von Horst Seehofer protestiert haben und dieser Aufruf dann als Aufruf von so und soviel hundert Kulturschaffenden bezeichnet wurde, dann entbehrt das nicht einer gewissen Ironie, dass man unter einer Bezeichnung, die aus dem NS-Sprachgebrauch stammt, gegen das Aufkommen eines neuen Rassismus protestiert.«