Kultur

Nach der 24. Woche

„RambaZamba“, Dokumentarfilm, 90 Min., Dt. 2023, Regie: Sobo Swobodnik

Von Angelika Nguyen

Zuerst nur Musik zu sich bewegenden Menschenkörpern auf einer Bühne, weiche Konturen, von Tüchern erzeugt. Ein rein sinnlicher Anfang. Wir werden hineingezogen. Keine Erklärung, kein Off-Kommentar. Das passt zu den Menschen, von denen hier erzählt wird. In diesem Film agieren zentral nur Menschen mit Trisomie 21 (Downsyndrom), also jene, die sonst eher nur am Rand vorkommen.

Der Film begleitet Schauspielerinnen und Schauspieler des Ostberliner Theaters „RambaZamba“ anderthalb Stunden lang. Er ist dabei, als ihnen kleine Digitalkameras übergeben und erklärt werden. Menschen erklären Menschen, wie ein Gerät funktioniert. Etwas ganz Alltägliches. Nur dass hier die erklärenden Menschen ohne kognitive Einschränkung sind und die, denen sie die Kameras übergeben, Menschen mit Downsyndrom.

Mit diesen Kameras inszenieren diese dann kleine filmische Selbstporträts, zeigen die Welt aus ihrer Perspektive. Da ist Sebastian Urbanski, der seine Freundin Juliana Götze gerade zu Besuch hat, er filmt sein Wohnzimmer, den Kragenbär aus Plüsch, den er seit früher Kindheit hat, er filmt sich im Spiegel und wie sie Koffer packen und im Urlaub unterwegs sind. Da ist Hieu Pham, die mit der Kamera ebenfalls ihr Zuhause, in dem sie mit Eltern und Geschwistern lebt, zeigt, manchmal hält sie inne und nimmt sich selbst im Bild wahr.

Die optisch besonders prägnante Zora Schemm filmt sich dagegen die ganze Zeit nur nah, gibt den Blick auf das Umfeld nicht frei, schaut mit einem Auge in die Kamera, atmet, sagt nichts. Wieder ein anderer filmt den alltäglichen Weg mit der Straßenbahn zur Kulturbrauerei, auf deren Gelände das Theater RambaZamba liegt. Wie er das sagt: „Und da ist das RambaZamba!“ klingt es wie: Und da ist mein Zuhause.

Diese Selbstporträts sind eine Ebene der Erzählung. Eine andere sind die Proben im Theater zu einem neuen Stück: „Der Golem“. Ansagen vom Regisseur Jacob Höhne. Er erörtert die Frage: Wie fühlt sich der Rabbi, der den Golem erschafft? In Trippelschritten marschieren viele Rabbis am Rand der Bühne entlang, alle sehen einander sehr ähnlich mit Hut und Schläfenlocken der jüdischen Orthodoxie. Aber jeder der Rabbis will einzigartig sein.

Wir sind dabei, wie ein Stück erarbeitet wird.

Der Film macht klar: das hier ist kein Mitleidstheater, keine Auffangstation für Outsider, keine „Werkstatt für Menschen mit Behinderung“, sondern ein professionelles Theater mit sehr besonderen Bedingungen. Während andere Theater Menschen mit kognitiven und körperlichen Einschränkungen eher ausschließen, ist eine solche Einschränkung im „RambaZamba“ überhaupt Voraussetzung für die Aufnahme.

Der Film beobachtet den verschiedenen Umgang der Spielenden mit gedruckten Stücken, deren Texte es immerhin auswendig zu lernen gilt. Ein grundlegendes Handwerk beim Schauspiel. Hier aber sind nicht alle auf demselben Niveau. Lesen und Schreiben sind unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeiten im Ensemble.

Reizvoll am RambaZamba ist auch die Mischung des Repertoires: sowohl Klassiker wie „Medea“, „Woyzeck“ oder „Hamlet“ oder eben „Der Golem“ oder das adaptierte Brecht-Stück „Der gute Mensch von Downtown“ als auch moderne, eigens für das Ensemble geschriebene Stücke („Am liebsten zu Dritt“), in denen das zentrale Lebensthema der Spielenden gestaltet wird: Leben mit Downsyndrom, Erfahrung mit Ausgrenzung und Abwertung, aber auch Radikalität, Ermutigung und Selbstbefähigung.

Der Erfolg des Theaters beruht nicht auf Mitleid, sondern auf Berührung des Publikums. Und genau darum geht es ja in allen Stücken. Das Universale im Besonderen finden. Die Bühne als anarchistischer Ort von Neuordnung und die Gelegenheit, sinnlich tätig zu werden.

Dieser Dokfilm ist sanft, von gewisser Leichtigkeit und scheinbar ohne Kampfansage, ohne Erklärungen, ohne Politik. Und doch ist er schwerwiegend, kämpferisch, erklärend, hochpolitisch. Brisant für unsere Gesellschaft. Denn der Film, so wie er heute da im Kino sein kann, hat einen langen Weg hinter sich.

Es begann 1976, als die ostdeutsche Schauspielerin Gisela Höhne ihr erstes Kind bekam: Moritz. Moritz hatte das Downsyndrom. Gisela Höhne erlebte, dass sie damit ziemlich allein gelassen wurde. Zwei Jahre später, gerade erst 29jährig, musste sie, die bis dahin mit großem Erfolg gespielt hatte, ihren Beruf aufgeben, weil die Betreuung von Moritz ihr daneben zu schwierig gemacht worden war. Noch in der DDR führte ihr Leben mit Moritz dazu, dass sie mit beeinträchtigten Menschen künstlerisch arbeitete, zuerst in einem Zirkus. Nach dem Mauerfall, als so etwas möglich wurde, gründete sie zusammen mit Moritz’ Vater Klaus Erforth das Theater „RambaZamba“.

Der allmähliche Welterfolg dieses ersten Theaters seiner Art hat nicht nur künstlerische Bedeutung, sondern reicht weit in die Gesellschaft hinein. Das Theater erzählt und klärt zugleich durch seine bloße Existenz darüber auf, dass Menschen mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen durchaus in der Lage sind, eigene künstlerische Perspektiven zu entwickeln, ihre hohe emotionale Intelligenz einzusetzen für Teamarbeit, für Spielräume, für die Öffentlichkeit – und in einem gewissen, geschützten Rahmen ein selbstständiges Leben zu führen. Man muss sie nur lassen.

Die Deutung klassischer Stücke aus der Sicht von Menschen mit Downsyndrom ist ein wichtiger künstlerischer Motor des Theaters. Und es ist stabil: Jacob Höhne, Gisela Höhnes zweiter Sohn, übernahm 2017 als neuer künstlerischer Leiter den Staffelstab. Im Film sieht man ihn und Verbündete ohne Beeinträchtigung das Theater leiten und rahmen und das Ensemble immer wieder herausfordern und fordern.

Der Film ist auch eine Antwort auf den deutschen Spielfilm „24 Wochen“ von 2016, ein intellektueller Improvisations-Film, der auf der damaligen Berlinale Furore machte. „24 Wochen“ erzählt von einem späten Abbruch im 6. Schwangerschaftsmonat, nachdem die Eltern erfahren haben, dass das Kind Downsyndrom und – um es erzählerisch wohl besser zu gewichten – einen schweren Herzfehler hat. Als mutiger Film um ein moralisches Dilemma gefeiert, enthält „24 Wochen“ jedoch eine menschenverachtende Botschaft. Nicht wegen des Abbruchs selbst, sondern wegen der Art, wie er die Entscheidung nachvollziehbar macht. Der Film bediente sich in einer Sequenz nämlich des Mitspiels von Akteurinnen des RambaZamba-Theaters. Die Art der Inszenierung dieser Menschen, die engagiert an diesem Film beteiligt waren, ist befremdlich. Sie werden nicht individuell, sondern als leicht übergriffige, eigenartige Horde erzählt, ihr Anderssein wird betont.

Danach bezeichnet die Tochter der Hauptfigur Menschen mit Downsyndrom als „eklig“, was der Film fatalerweise als Auflehnung inszeniert. Der Film bezog sich im Subtext auch auf die Diskussion um die kostenfreien Bluttests zur Erkennung von Trisomien am Ungeborenen und des damit erlaubten späten Abbruchs.

Gisela Höhne lehnt diese Tests ab und sieht sie als „verheerende Botschaft“ an die Gesellschaft. Dass es schwierig ist, ein Kind mit Downsyndrom zu bekommen und großzuziehen, ist keine Frage. Aber es ist auch immer so schwierig wie die Gesellschaft es den Eltern macht. Gisela Höhne hätte, gibt sie zu, Moritz mit diesem Vorab-Bluttest nie bekommen. Und damit nie die Chance, ihn und seine Fähigkeiten kennen und lieben zu lernen – und das Theater „RambaZamba“ zu gründen.

Ähnlich erging es der mehrfach ausgezeichneten Schauspielerin Angela Winkler, die ihre 1982 geborene Tochter Nele zunächst nicht akzeptieren wollte. Heute steht sie mit ihr zusammen auf der Bühne.

Mit diesem so schön kommentarlosen, dahinfließenden Dokumentarfilm lernen wir Sebastian, Hieu, Juliana, Jonas, Moritz, Zora und die anderen näher kennen und erfahren ihre Talente, Eitelkeiten, Vorlieben, ihre verschiedenen Temperamente und Eigenarten, ihre besondere Attraktivität. Und dass die gewisse innere Freiheit, die Menschen mit Downsyndrom eigen ist, ihnen in die Hände spielen kann – für das hohe Handwerk von Kunst.