Osten, Politik

Skizze eines widerständigen Lebens

„Der Mensch ist erst wirklich tot,
wenn niemand mehr an ihn denkt.“

Bertolt Brecht

Ein Nachruf von telegraph-Redakteur Dirk Teschner

Herbert Mißlitz ist gestorben. Nachbarn seiner Wohnung in Berlin Prenzlauer-Berg benachrichtigten am zweiten Weihnachtsfeiertag letzten Jahres die Polizei, diese fand in der Wohnung seinen Leichnam, der dort seit Mitte November lag. Die Todesursache konnte nicht mehr festgestellt werden, ein Fremdverschulden wurde ausgeschlossen.
Er wurde 1960 geboren und wuchs in Berlin-Grünau in einem kommunistischen Elternhaus auf. Sein Vater war im Journalistenverband, seine Mutter arbeitete bei der FDJ und der NVA. Seine Nachbarschaft bestand aus Kurt Gossweiler, Wälder und Seen.
Er machte nach seiner Schulzeit eine Ausbildung zum Stuckateur und ging schon früh den Weg eines Unangepassten. Monotonie und Alltag waren nichts für ihn. Ende der 1970er Jahre trampte er durch die Republik, in jedes Kaff wo Blues noch Blues und Schnaps noch Schnaps war. Er hatte lange Haare, eine große Leber, liebte Fänger im Roggen, schlief in Scheunen auf Hafer und Weizen und lernte viele Gleichgesinnte kennen.
Schnell wurde es politisch, nicht nur wegen der regelmäßigen Reiberei mit der Vopo wegen Ruhestörung bei Partys oder dem beginnenden Stress des Wehrkreiskommandos wegen seiner Ablehnung des Armeedienstes. Aus Partys entwickelten sich Literaturkreise, aus Literaturkreisen wurden Politzirkel. Ab Anfang der 1980er Jahre engagierte er sich in der Offenen Arbeit in Berlin. Die Offene Arbeit der evangelischen Kirche bot Räume für Kunden, Punks und Querulanten. Es wurde diskutiert, Protesterklärungen verfasst, Veranstaltungen durchgeführt und Samisdat gedruckt.
In Folge des NATO-Doppelbeschlusses und der Aufstellung von neuen atomaren Mittelstreckenrakete in Westeuropa und der Reaktion der Warschauer Pakt-Staaten, kam es 1983 in vielen Ländern zu Protesten. Es bildete sich eine neue Friedensbewegung. Auch in der DDR – es wurden Friedensseminare und Friedenswerkstätte durchgeführt, es kam zu Protestaktion im öffentlichen Raum, zu Inhaftierungen und Ausreisen von Mitgliedern oppositioneller Gruppen in den Westen. Herbert war immer und überall dabei. 1985 wurde er mit einhundert anderen als Wehrdiensttotalverweigerer inhaftiert, nach Druck Seitens der Kirche, der Oppositionsgruppen und dem Ausland wurde sie nach einigen Tagen wieder entlassen.

Nach der Reaktorkatastrophe im ukrainischen AKW Tschernobyl, 1986, schossen neue Umweltgruppen wie Pilze aus dem Boden. Es gab mit den Umweltblättern und Grenzfall wichtige neue Zeitschriften der Opposition. Unter dem Namen Schwarzer Kanal wurden drei Sendungen eines Piratensenders in Ostberlin produziert und mit Hilfe von Mitgliedern der Westberliner Autonomen Szene in der Nähe der Mauer ausgestrahlt.
Herbert fuhr als Kurier durch die Republik, verteilte aktuelle Schriften der Opposition, wie auch den Mitschnitt der ersten Sendung des Ostberliner Piratensenders Schwarze Kanal. Der Autor selbst erhielt im Herbst 86 eine solche Kassette zum Friedensfest in Karl-Marx-Stadt. Das anschließende Weiterverbreiten reichte der Staatssicherheit als Vorwand für Inhaftierung und Verurteilung wegen staatsfeindlicher Hetze aus.

Ab Mitte der 80er Jahre kam es zur Ausdifferenzierung innerhalb der Opposition. Eppelmann paktierte mit der West-CDU und in Berlin spaltete sich die Vorbereitungsgruppe für ein, später verbotenes, Menschenrechtsseminar. In Folge dessen gründete die bürgerliche Fraktion 1986 die Gruppe Initiative Frieden und Menschenrechte und die marxistische Fraktion die Gruppe Gegenstimmen, in der Herbert mitarbeitete.
Beide Teile Berlins feierten 1987 das 750jährige Bestehen. Das hieß in Ostberlin auch intensive Gespräche und Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche für einen ruhigen Ablauf. Die alljährliche Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche wurde abgesagt. Als Reaktion dagegen fanden sich die verschiedensten Oppositionsgruppen, Musiker und Künstler zusammen, besetzten die Räume der Pfingstgemeinde in Berlin-Friedrichshain und veranstalteten den ersten „Kirchentag von Unten“. Seitdem liefen Verhandlungen zur Erlangung eigener Räume. Es gab mit der Umwelt-Bibliothek und den angeschlossenen Galerie und Caféräumen und der Druckerei zwar schon ein wichtiges, autonom betriebenes Projekt in der Zionsgemeinde, aber das reichte längst nicht mehr aus. Und die Leute der K.v.U. kamen mehrheitlich aus der Offenen Arbeit, unter ihnen viele Punks, und suchten vor allem auch einen großen Raum für Veranstaltungen und Konzerte. Herbert war an den Verhandlungen und dem Aufbau bis zum Herbst 89 beteiligt. Die K.v.U. bekam Räume in der Elisabethgemeinde und existiert trotz mehrerer Umzüge bis heute.

Im Januar 1988 wurde er zusammen mit Vera Lengsfeld am Rande der Rosa-Luxemburg-Demo verhaftet. Nach vier Tagen wurde er wieder entlassen. Wogegen die an diesem, wie an folgenden Tagen, inhaftierten Mitgliedern der Gruppe Initiative Frieden und Menschenrechte, Templin, Bohley, Fischer, Hirsch, wie auch Krawczyk, Klier, Lengsfeld die Ausreise in den Westen antraten.
Das Jahr 1988 stand ganz im Zeichen des geplanten Kongresses von IWF und Weltbank in Westberlin und dem sich formierenden Widerstand dagegen. Herbert war Mitgründer der Gruppe AG Weltwirtschaft. Ein Bündnis aus allen Gruppen des linken Spektrums beteiligte sich. Es wurde ein Reader erstellt, Veranstaltungen organisiert, eine Tagung wurde in einer Kirche in Friedrichsfelde organisiert und öffentliche Protestaktionen durchgeführt. Es wurden Banker, die auch in der DDR übernachten durften, mit Münzen vor dem Pergamonmuseum beworfen. Festnahmen waren die Folge, denn die DDR brauchte Devisen und wollte ihre Gäste nicht ärgern. Der Ostblock klaffte auseinander, Polen und Ungarn verhandelten mit IWF und Weltbank, Gorbatschow brachte vieles Durcheinander. Alles steuerte auf den Herbst 89 zu.

Anfang September 89 war Herbert Mißlitz Mitverfasser der Böhlener Plattform – für eine Vereinigte Linke in der DDR. Diese Erklärung gilt als Gründungspapier der späteren Vereinigten Linken (VL). Mit den Anfangszeilen „Entwickelt die enge Zusammenarbeit und das Bündnis der Linken!
Vertretet offensiv die Positionen sozialistischer Demokratie und Freiheit! Erarbeitet eigenständig alternative Konzepte und Programmatik im Geiste einer demokratischen, freiheitlichen sozialistischen Entwicklung in der DDR!“ stellte sie den wichtigsten linken Aufruf im Herbst 89 da. In Vergleich zu den anderen Aufrufen der Oppositionsgruppen und sich neu gegründeter Initiativgruppen, enthielt die Böhlener Plattform den detailliertesten Katalog von Forderungen an ein Reformprogramm.
Sehr schnell kristallisierten sich die Unterschiede der einzelnen Gruppen heraus, auf der einen Seite ging es in Richtung Marktwirtschaft, Wahlen, Reisefreiheit, Wehrersatzdienst – auf der anderen Seite Volkskongress, Betriebsräte, gewählte Betriebsleitungen, unabhängige Gewerkschaften, Reform des Bildungssystems und der Armee.
In einem Interview für das Buch „Verlorene Zeiten. DDR-Lebensgeschichten im Rückblick“ aus dem Jahre 2010 beschreibt Herbert Mißlitz diese Zeit treffend: „Jeder Tag war ein 36-Stunden-Tag: Wenig schlafen, viel debattieren und immer das Gefühl haben, der Zeit hinterher zu rennen. Wir waren einfach noch nicht so weit, waren noch nicht richtig organisiert. Wir haben darüber gestritten, was jetzt unsere Aufgaben sind, woran wir uns mit welchen Zielen beteiligen. Da ist immer mehr abgebaut worden von den ursprünglichen Idealen: Der Volkskongress hat nicht stattgefunden – sollten wir uns an der Modrow-Regierung beteiligen, mit welcher Position gehen wir an den Runden Tisch? Außerdem gingen wir in die Betriebe – das war eine Katastrophe für uns.“
Nach der Volkskammerwahl 1990 war Herbert für die VL kurzzeitig als Mitarbeiter für Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik angestellt. Dann kam der 3. Oktober 1990 und das Ende des Kurzen Sommers der Anarchie und das Ende der DDR.

Bereits vor der Wende knüpfte Herbert, etwa im Rahmen der Anti-IWF Kampagne 1988, engere Kontakte zu linken Gruppen im Westen. Ab 1990 arbeitete und lebte Herbert mit verschiedenen Menschen aus der autonomen und antiimperialistischen Westberliner Szene zusammen und war Teil des Ermittlungsausschuss (EA) im Kreuzberger Mehringhof.
Er beteiligte sich an unzähligen Diskussionszirkeln und war ab 1998 für einige Jahre Redakteur der Zeitschrift telegraph, Nachfolgezeitschrift der wichtigsten DDR-Oppositionszeitung Umweltblätter.
Am 31. Juli 2007 wurde von einem Spezialeinsatzkommando auch seine Wohnung gestürmt und ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Vorwurf: § 129a – Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Mit ihm wurden weitere Personen verdächtigt und Andrej Holm wochenlang inhaftiert. Bei den Verhören wurden Herbert Mißlitz seine umfangreichen Akten vorgelegt, die die Staatssicherheit über ihn angelegt hatte und er wurde über seine damaligen Kontakte zu Mitgliedern des PAC (Pan Africanist Congress) und zur Anti-IWF Aktionswoche befragt. Die Herausgabe der Akten an das BKA seitens der BStU erfolgte unter der Leitung von Marianne Birthler, ehemalige Mitstreiterin aus Oppositionszeiten.
Später gab es eine Hausdurchsuchung im geerbten Haus seiner Großmutter, Grund war diesmal der Vorwurf der Unterstützung und Vertrieb der Zeitschrift radikal.

Nebenbei studierte er ab Ende der 1990er Jahre Slawistik an der Humboldt Universität zu Berlin und später Osteuropawissenschaften an der FU-Berlin, fuhr Taxi und gründete den Osteuropaservice.
Mit diesem letzten Projekt, dem Osteuropaservice, betrieb Herbert wissenschaftliche Forschungen und Recherchen in Archiven, vor allem in Russland. Russland sein Sehnsuchtsland, trotz aller Widersprüche und Enttäuschungen. Dort Fuß zu fassen und zu leben, davon träumte er. Dazu wird es leider nicht mehr kommen – auch der Rätekongress muss jetzt ohne ihn organisiert werden.