Versuch einer Annäherung
Von Michael Mäde – Murray
(Vorab aus telegraph #139/140)
I
Der Dichter Volker Braun hatte 1975 in seinem Band „Gegen die symmetrische Welt“, der Texte aus den Jahren 1969 bis 1973 versammelte, ein Langgedicht mit dem Titel „Allgemeine Erwartung“ veröffentlicht, in dem die produktive Arbeit und die Erwartung an das Leben („Das kann nicht alles sein..“) zentrale Motive sind.
„An diesem Arbeitstag frage ich mich/Unerwarteterweise, in einer Halle/Die vor Hitze flirrt, daß ich die Hände verwechsle:/Was erwarte ich noch von mir/Oder von euch? Beschäftigt/Mit diesen beseßnen Maschinen/Diesen angeeigneten Griffen/in die jeweilige Zukunft, frage ich mich/(Den ich womöglich verwechsle): was wollen wir noch/Über die harten Pläne hinaus?” [1]
Dabei sind die Widersprüche “real“ – sozialistischer Produktion und Reproduktion und ihre apologetische Leugnung ebenso Gegenstand, wie die vorwärtstreibende Dynamik der Arbeit selbst. Dies treibende „Das kann nicht alles sein.“ ist so immer Zeugnis von Anspruch und Kritik des damals 36 jährigen Dichters. „Das ist doch etwas! Was will ich mehr?/Ich Selbstausbeuter, Hennecke, inoffizieller/Held der Arbeit, die eine Sache der Ehre ist/(Die Ventilatoren sind ausgefallen!) /Ich, der schweißtriefend die Ausfallzeit senkt/Und den Stromverbrauch oder den Krankenstand/Der, materiell angereizt, die Initiative ergreift/Der das Volkseigentum vor sich schützt sowie mehrt/Womöglich, der sich Gedanken macht und den Schritt/Vom Ich zum wir, der den Bitterfelder Weg/Nicht mehr Bitterfelder Weg nennt, doch im Prinzip/Weiter geht, und voll Vertrauen, und an der Seite, und,/wie gesagt im Prinzip/ Vorwärtsschreitet, wobei uns der Wind/Nicht ins Gesicht bläst, falls wir die Dokumente richtig/Auswerten und , womöglich, auch lesen/Und Stellung beziehen am Arbeitsplatz/ [2]
Brauns Sprache ist hier ironisch angewandte Phraseologie, dialektisch eingesetzt um den emanzipatorischen Anspruch der Arbeit und des Arbeiters hervorscheinen zu lassen und etwas, das beim Dichter Braun Elixier von Entwicklung ist, der Zweifel: „Und am Abend, nach diesem heißen Tag/sehe ich ein/In etwas Hingestrecktes, mein Leben: /Eine beschlossene Sache./(…) Das kann nicht alles sein.“ Und schließlich: „Was es, womöglich, ist/Das ich erwarte, von mir oder euch/Oder das meiste davon/Das ich verwechseln kann/Aber erwarte, den ganzen Tag/Bis in den Schlaf/In dem ich nichts frage, doch abgründig weiß:/Das meiste/Ist noch zu erwarten.“ [3] Der so durch den Dichter gestaltete Gedankenstrom hat unübersehbar eine optimistische Dimension.
II
Wenige Jahre später, 1977 ändert sich diese Diktion deutlich. In seinem Essay „Büchners Briefe“ legt Volker Braun alle Vermittlung ab und spricht Klartext: Zitat Büchner: „Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es G e w a l t“.
Und Volker Braun münzt das auf die konkreten Verhältnisse im realen Sozialismus: „Ich sehe heute keinen Grund, an Büchners Bekenntnis einen Abstrich zu machen. Solange eine Gesellschaft, sie mag mittlerweile wie immer heißen, auf Gewalt beruht, nämlich solange es“ die da oben und die da unten“ gibt, bedarf es der Gegengewalt, sie zu verändern. Zwar der Charakter dieser Gegengewalt mag sich modeln, er mag feiner werden oder in sozialistischen Staaten gar freundlicher, aber mitnichten nachgiebiger. (…) Wo das Oben und Unten sich nicht mehr in der archaischen Gestalt von K l a s s e n gegenübersteht, aber doch in die verschiedene Stellung der Individuen in der Pyramide der Verfügungsgewalt anzeigt, geht der Kampf nicht mehr um den Platz an der Spitze, sondern um die Zertrümmerung der Pyramide.“ [4] Das ist in der Tat ein radikaler Ansatz der Kritik und ein schonungsloser – von Illusionen freier – Befund des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes, der freilich auf Differenzierung nicht verzichtet:
„Die Staaten, die fähig wären, ihre eigene Gegengewalt zu organisieren (mittels Volksvertretungen, Ausschüssen, Produktionsberatungen, Grundeinheiten der Partei), befinden sich noch im Stadium des Großversuchs: „die Massenproduktion von Demokratie ist noch nicht freigegeben. Sie ist auch, obwohl das Ziel, ein Nebenprodukt- der Jahrtausendarbeit, die vertikale Arbeitsteilung aufzuheben durch die Umwälzung der Produktionsweise von Grund auf.“ [5]
III
In den Jahren 1975 – 1977 liegen freilich weitere politische und kulturpolitische Einschnitte. Der IX. Parteitag der SED kassierte kulturpolitische Freiheiten, die mit dem VIII: Parteitag – in angeblicher Abgrenzung zu den Jahren unter der Führung von Walter Ulbricht- gewährt wurden. Es kam damals ja zu einer scheinbaren „Enttabuisierung“: „ Wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben, Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils.“ (Erich Honecker im Dezember 1971). Auch stieß die als Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik bezeichnete Strategie des Konsumsozialismus auf Kredit bereits in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zunehmend an ihre Grenzen. Im November 1976 löste die Ausbürgerung Wolf Biermanns offenen Widerspruch vieler DDR – Schriftsteller gegen die Kulturpolitik der Partei aus. Dies drückte sich – unter anderem – in Form einer Petition aus. Es kam in der Folge zu zahlreichen Ausschlüssen aus Partei und Schriftstellerverband. Eine Ausreisewelle von DDR – Autoren in den Westen setzte ein. Die äußeren Umstände, die Zuspitzung der Widersprüche und die repressive Reaktion der DDR- Führung mag zur Verschärfung des Tons auch bei Volker Braun beigetragen haben, entscheidend ist etwas anderes. Braun sieht die Früchte der Revolution verfaulen, wie einst Büchner die zarte Pflanze in Polithändel zwischen Absolutisten und Liberalen verdorren sah und schlussfolgerte: „Die ganze Revolution (…) muß von der ungebildeten und armen Klasse aufgefressen werden; das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt (…)“ Braun denkt das konsequent weiter: „Dieser abgetane Satz (Marx fasste ihn schon zehn Jahre später tiefer: als Widerspruch von Kapital und Arbeit) ist der zeitgenössischte noch für jede Revolution (…) Das Verhältnis von Ausführenden und bestimmenden, die wieder die Armen und Reichen sind (arm oder reich an Möglichkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnissen) wird das revolutionäre Element, der Hunger nach schöpferischen Tätigkeit wird die Fahne der Freiheit. Die alten Trennungen Kopfarbeit – Handarbeit, Stadt – Land, Lehre – Produktion usw. umzustürzen, wird das notwendige Bedürfnis der Masse werden. Die Revolution des Apparates muß von der subordinierten Klasse aufgefressen (wir sagen sublimer aufgehoben) werden.“ [6] Das ist ein radikaler, eben an die Wurzel gehender Ansatz. Er taugt letztlich – in seiner dialektischen Anwendung – für die Kennzeichnung dieser Zwischenperiode der realsozialistischen Klassengesellschaft .
IV
Büchner wie Braun studierten die Geschichte der Revolutionen. „Ich fühle mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen (…) Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“, fragt Büchner. Und Braun studiert die Geschichte der Oktoberrevolution „und watete durch das Blut der dreißiger Jahre. Ich sah mich gegen eine Wand von Bajonetten wandern. Ich spürte die Tinte der Lüge brennen auf meiner Haut (…) Die Wahrheit , Genossen, macht nicht schlapp, sie ist unsere Kraft. Die Fragen zu fragen, gestern tödlich, heute ein Schnee. Der Gesamtplan der Wirtschaft, das Tempo der Industrialisierung, der Sozialismus in einem Land: ‚die Partei ist kein Debattierklub‘ – aber die Geschichte diskutiert die Fragen zuende. Viele Verräter von einst wortlos rehabilitiert durch den Gang der Dinge. Ein Gang blutig, hart, irrational: solange wir geduckt gehen, blind, unserer Schritte nicht mächtig. Die sinnlosen Opfer, weil wir die Gangart nicht beherrschen ( es gibt notwendige Opfer). ‚Personenkult‘ die feige Ausrede, die alles erklären soll, ein Augenauswischen. Statt einzuhalten im fahrlässigen Marsch, das Gelände wahrzunehmen, die Bewegung zu trainieren(…)“ . Braun verweist jedoch auch auf die Wissenschaft, die in Büchners Tagen nicht komplett war und auch: „das Besteck, dessen sie sich bedient, lag noch nicht beieinander. Der h i s t o r i s c h e Materialismus: das w i r d ist eins von den Erlösungsworten, die uns in der Kinderkrippe buchstabiert werden. Es muß kein Ärgernis kommen. Wir sind dabei, aus der Welt zu reißen, was uns lügen, morden, stehlen macht.“ [7]
Das Ärgernis kam. Das Training, wo es begann, vermochte den Gang der Dinge nicht aufzuhalten. „Die Revolution des Apparates“ aufzuheben, konnte nicht mehr in die Tat gebracht werden. Braun beschreibt es in seiner Büchner Preisrede im Jahre 2000, von der noch die Rede sein wird, lakonisch: „Volkseigentum plus Demokratie, das ist noch nicht probiert – das ist meine letzte Verblendung, die herrlichste Einbildung: Es ist der Tag (jener 4. November/d.A.) es zu denken, ohne es doch zu glauben, wer soll denn das schöne Dings ins Werk setzen? Es geht um fast alles: den Schmuck der Gleichheit, das Allgemeingut. Das reißt, ich ahne es, die Ordnung herab, ich ahne es ohne Trauer.“ [8]
Dennoch prägte diese (vor allem instinktive) Intention der werktätigen Klassen die ersten Bewegungen im Jahre 1989 in der DDR mindestens bis zum 9. November. Da war jedoch die ökonomische Basis bereits weitgehend unterminiert und große Teile der Klasse der Produktionsarbeiter gingen unversöhnlich mit denen „da oben“ ins Gericht. Progressive, ja utopische Elemente einer möglichen politischen und ökonomischen Reform griffen nicht mehr Raum. Die Restauration der alten Klassengesellschaft stellte die Frage nach dem Grundwiderspruch in rasender Geschwindigkeit und mit neuer Schärfe, die sofort millionenfach konkrete individuelle Auswirkungen zeitigte.
V
Blickt man auf das 20. Jahrhundert zurück, scheint, bei aller zutreffenden Analyse der Gebresten der (zunächst) siegreichen Revolution (die ja gesellschaftlich zu keinem Zeitpunkt ausreichend geleistet wurde), es an einer historisch – materialistischen Einordnung des zentralen Schlüsselereignisses dieses Jahrhunderts nämlich des großen Krieges um die Zivilisation selbst, zu mangeln. Der Vernichtungskrieg der deutschen Faschisten und ihrer Wehrmacht gegen die Völker der Sowjetunion war ein anti-zivilisatorischer Kolonialkrieg ohne Beispiel. Die 27 Millionen Toten der Sowjetunion, die Ströme von Blut, die Millionen Verwundeten und Versehrten, die ungeheureren materiellen Verluste, die Auslöschung der Infrastruktur fast im gesamten europäischen Teil der UdSSR, aber auch in Polen, Jugoslawien, Ungarn und nicht zuletzt in Ostdeutschland, sind zwar, in Hinblick auf die weiteren Entwicklungschancen, Verwerfungen und Krisen erwähnt, aber in ihrer Wirkung auf die Gesellschaft niemals ausreichend analysiert worden.
Seltsamerweise wird hier die Rückwirkung auf die Potentiale und Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung nur eingeschränkt oder lediglich mechanisch geleistet. Nicht einmal eine soziologische Vorstellung von den Verheerungen in den Nachkriegsgesellschaften existierte oder wurde tabuisiert. Ein Grund hierfür liegt zumindest nahe. Die Sorge, dass diese Art von (beinahe unvorstellbarer) Erblast als Entschuldigung, als Entlastung für die dramatischen Defizite der Entwicklung der realsozialistischen Klassengesellschaft eingesetzt werden würde, schien übermächtig und sicher auch nicht gänzlich unbegründet. Aber diese kolossalen Verwerfungen und Lasten, wiederum ausschließlich dem „System“ und der Praxis des Realsozialismus anzulasten, wurde selbst viel geübte Praxis und war mithin frei von jenem historischen Materialismus, den man weithin propagierte aber eben oft nicht praktizierte.
VI
Der Dichter Volker Braun indes hat wie kein anderer Dichter in diesem Land den Prozess der Um – bzw. Rückgestaltung in die kapitalistische Klassengesellschaft begleitet und weiter Antworten auf die nunmehr wieder neuen (und alten) offenen Fragen der Geschichte gesucht. Sein berühmt gewordenes Gedicht „Das Eigentum“ (1990) legt davon ebenso beredt Zeugnis ab, wie seine etwas weniger bekannt gewordene Erzählung „Die hellen Haufen“ (2011), die den Streik der Kalikumpel in Bischofferode zum Ausgangspunkt nimmt. Im Gedicht „Das Eigentum“ ist jeder Vers eine Bilanz, eine profunde Feststellung ohne Zierrat oder wohlfeilen Trost:(„Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen./KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN./Ich selber habe ihm den Tritt versetzt./Es wirft sich weg und seine magre Zierde./Dem Winter folgt der Sommer der Begierde./Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst./Und unverständlich wird mein ganzer Text./Was ich niemals besaß wird mir entrissen./Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen./Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle./Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle./Wann sag ich wieder mein und meine alle.“) [9]
In den Hellen Haufen allerdings, eine Erzählung von einem Aufstand, der nie stattgefunden hat, taucht das Motiv des Widerstands gegen die Verhältnisse stark wieder auf. Es trägt den Widerspruch der Vorgeschichte zwar in sich, greift aber zurück auf das Motiv einer deutschen Revolution – das der Bauernkriege nämlich – und gewinnt dadurch eine sowohl utopische als auch materialistisch – historisch konkrete Sichtweise auf die deutschen Verhältnisse. Im Jahre 2000 sprach man Volker Braun den Georg – Büchner – Preis zu und er hielt aus diesem Anlass eine Rede zur Verleihung. Sie ist, vergleicht man sie mit dem Text von 1977 (Büchners Briefe), ein tastender Versuch der Standortbestimmung und ein sehr skeptischer Blick auf die Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung mit einer beinahe fatalistische Bilanz: „Die Ideologie ist ein schwaches Dolmetsch: r ü c k s i c h t l o s, wo es v o n G r u n d aus heißen müsste. Wo es in diesem Jahrhundert, um den Menschen ging, war an die Gesellschaft kaum gerührt, und wo man die Gesellschaft verändern wollte, wurde nach dem Menschen nicht lange gefragt.“ [10] Und mit dem direkten Verweis auf das 20 Jahrhundert: „Kamen seine Verwirklichungen nicht Verwüstungen gleich, hat es nicht die Ideen verbraucht wie die Leiber, oder schlimmer gesagt: die Ideen realisiert, indem es die Leiber verbrauchte. Man weiß, nach seinen Kriegen und Revolutionen, mehr davon, was ein Mensch ist, und nicht mehr, wie ihm zu helfen ist; man kennt die Bestialität, aber kaum noch die Menschheit. Wenn die Ideen begraben sind, kommen die Knochen heraus.“
Von da auch geht es in (fast) gerader Linie zu einer neuen Qualität historischer Skepsis: „Mit meinem Gegnern teile ich nicht die Sorge, daß uns das Thema abhanden gekommen ist – nein, es könnte sein, daß wir dem Thema abhanden kommen.(…)Es wurde ein Fehler gemacht, wie die Gesellschaft geschaffen worden, und wir machen ihn, indem wir uns in dem Zustand erhalten, es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat, wir werden es nicht aus den Strukturen herauswühlen, wir werden drum die Verhältnisse nicht zerbrechen.“ [11]
Dem Dichter Volker Braun allerdings ist dieser Zwischenbefund nicht ausreichend. Es gibt kein Basta. Auch der Zweifel bleibt lebendig, nicht zuletzt gegenüber den eigenen Befunden. In seinem Lyrikband „Auf die schönen Possen“ (2005) findet sich der u.a. das Gedicht „Das Verschwinden des Volkseigentum“ aus dem Jahre 1991. Es knüpft an Das Eigentum an. Aber auch ein Texte wie „Das Massiv“ („Was sagt ein arbeitsloser Akademiker/Zum Akademiker, der Arbeit hat?/Eine Bockwurst bitte…“) gehört zur ironisch bitteren, für den Leser aber sehr erhellenden Bestandsaufnahme .[12]
VII
Der Lyrikband „Handbibliothek der Unbehausten“, erschienen im Jahre 2016, enthält wieder so einen “geschärften” zentralen Text, den „Kassensturz“: „Jetzt geht’s an Konto, an das Eingemachte./Ich krieg die Krise, weil der Weltkreis krachte./Wo ist nun unser Mut? das Aufbegehren?/Ihr zogt zuhauf und ließt die Seele reisen/Und wart das Volk. Jetzt soll ich Volker heißen/Und meinen Witz von unserer Schwachheit nähren/(…) Die Seelenarbeit für den Mindestlohn./Was sind wir noch zum Schein, was sind wir schon?/Ein Bettelvolk. Ich sags auch mir zum Hohn.” [13]
Das sitzt und ist als Bestandsaufnahme in einer Reihe mit dem “Eigentum” und dem Langtext „Das Verschwinden des Volkseigentum“ (übrigens wunderbar interpretiert von der Sängerin und Schauspielerin Gina Pietsch) zu lesen.
Der dramatische Text jener Jahre „Demos, Die Griechen / Putzfrauen.“ (erschienen 2015) macht deutlich, dass Braun weiter am Hauptbaustein menschlicher Existenz und Entwicklung – der Arbeit – tätig ist und auch aktuelle politische Ereignisse und Wendungen zu verarbeiten weiß. Das Stück basiert u.a. auf dem langen Kampf der 600 Putzfrauen, die vom griechischen Finanzministerium wegen zu hoher Kosten entlassen wurden. Parallel hierzu diktierte die sogenannte Troika der Eurogruppe Griechenland weitere soziale Einsparungen, die dazu geeignet waren die Krise noch weiter zu verschärfen. Diesen Stoff dramatisch zu verarbeiten, ohne auch nur eine Anwandlung von Vereinfachung oder gar Propaganda zuzulassen, macht den Dichter in diesem Land zu einer ausgesprochenen singulären Erscheinung. Das Stück wurde am 16. September 2016, am Berliner Ensemble, unter Regie von Manfred Karge uraufgeführt.
VIII
Im Jahre 2021 ist schließlich Volker Brauns Gedichtband Große Fuge erschienen. Der Band versammelt Texte aus dem Zeitraum Frühjahr bis Herbst 2020. Eine für Volker Braun bemerkenswert kurze Zeit, zumal einige der Texte bereits vorab veröffentlicht wurden.
In den Texten erscheint die Krise von Ökonomie und Gesellschaft verstärkt durch die SARS-CoV-2 – Pandemie. Viele zentralen Themen Volker Brauns finden in den Texten des Bandes, neue, zugespitzte Gestalt. In der Gesundheitskrise („Der Staat geruht zu regieren“) wird bei Braun die Gesellschaftskrise kenntlich: „Ein gewöhnliches Wesen/Fragt im Radio: wie lange geht das schon so?/Daß ein beinahe heilloser Stillstand herrscht,/und sich wies scheint/Nur die Gewinn – und Verlustmaschine dreht/Ohne erkennbaren öffentlich – kulturellen Sinn?“ [14] Die menschengemachte, gesellschaftliche Bedrohung ist allgegenwärtig, sie produziert erst die Klimakrise: „Leg ihn um, The climate of History/Und du läufst, ein panisches Freitagskind/In der Begängnis im Weltgebäude/aus der Geschichte/Kein Telos, eine ‚Handvoll Maximen’/und ein Trampelpfad/Aus den Systemen. Das deine Kunst jetzt/Allein zu sein, mit allen und ernst/Auf dich gestellt wie der Stein, der Halm/und mitzudenken mit den Gebirgen und Meeren./Nur einen Sommer haben wir noch vor es Winter wird.“ [15]
Der letzte Satz von Brauns Büchnerpreisrede, aus dem tiefe Skepsis sprach : „Ich schließe fragend und zögernd, in Ihrer Mitte, für mich: Wie lange hält uns die Erde aus /Und was werden wir die Freiheit nennen?“ [16], findet 20 Jahre später seine lyrische Steigerung in dem Text „NACH UNSERER ZEIT“: „EINE WEISSE YACHT DER MAST GEBROCHEN BEWE-/ GUNGSUNFÄHIG VOR MONDANAO DÜMPELND EIN /KÖRPER FAHL UND BRÜCHIG WIE DRECKIGER/ FEUCHTER SAND ZUSAMMENGESUNKEN AM TISCH/NUR NOCH IN FORM UND HALTUNG EINEM MEN-/SCHEN ÄHNLICH/ So sehe ich die Menschheit treiben/In ihrem Fahrzeug Nach ihrer Zeit/Totenstille Ein Geist ist an Bord” [17]
Im Kontext dieses Bildes scheint mir, muss man auch Brauns weitere Gedichte des Bandes lesen. Der tieftraurige Text ARBEITSPAPIER und der lyrische Einwurf zur Gedenkstätte der frühbürgerlichen Revolution in Bad Frankenhausen, mit dem Monumentalbild von Werner Tübke, (GROßE LEINWAND) das just im Jahre 1989 fertig gestellt wurde: „Die letzte Lücke im Bild für den Schuh des Schmeichlers/ Den er im Nacken spürt Dann ist die Fahne/Fertig und die Staatsmacht am Ende/Der marode Maler der kaputte Staat/ Steigen erschöpft von der Leiter (…)“ [18] erweisen sich als geeignet den resignativen Grundton des Bandes abzurunden.
IX
Allerdings – wie oft bei Braun – so einfach ist es dann eben doch nicht. Einem der Schlüsseltexte des Bandes, „AGGREGAT K“ kommt man so nicht bei.
Aggregat K geht auf eine zwischen 1986- 1988 entstandene Grafikmappe von Carlfriedrich Claus zurück. Was dieses Aggregat bedeutet bleibt ein Stück weit im Dunklen und das soll es wohl auch…(„Ein Gerät, verrostet verdreckt unbrauchbar gemacht/Ein Strommast vielleicht, Metall und Gebein/Verworrener Draht ummantelt mit Blut (…)“ ) [19]
Dunkel erinnern wir uns an ein konkretes: „Und, abgespannt, alle Kraft anspanne/Und der dem Nebenmann, wenn sein Aggregat havariert /Zur Seite stehe, wo sonst, und eine Seite/ Im Buch der guten Taten fülle…“ [20]
Und konkret nur im Detail jetzt: „Claus hat es gezeichnet ganz als Schrift/“Unleserlich“, auf transparentem Papier/beidseitig/Gegen das Licht zu halten, das EINST UND JETZT/(…)Das Aggregat Erinnerung Traum Der Gang in den Schneewald/Bewußtsein..“ [21]
Ein wenig fühlt man sich wie in Barbarossas Kammer, durchaus hoch gestimmt, ein wenig feierlich gar. Dennoch sieht man sich jäh befreit von allen Hoffnungen auf konkrete Veränderungen. Der Topos der Veränderung spiegelt sich noch, wirkt aber, beim näheren Hinsehen, als Kulisse vergangener Kämpfe. Weder dystopische noch utopische Unterströmungen nehmen sich – erkennbar – Raum. Aber: „ Arbeit) „der Stoffwechsel mit der Natur“/Mit der geringsten Kraft organisiert; die unmittelbar auf die Not/Des andern bezogene Handlung, nicht vermittelt/Durch ein Äquivalent; Gemein- /Sinn und – besitz DAS IST DER KERNBEREICH DER FABRIK/Mitleiden-/schaftlich, gemeinsüchtig, eine mögliche/Praxis, um die sich alles wie um die Sonne dreht…“.[22]
In den Anmerkungen Brauns findet sich dann der Hinweis auf das Marx – Zitat: „Die Gesellschaft findet nun einmal nicht ihr Gleichgewicht, bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht.“
Damit ließe sich etwas beginnen.
Quellenhinweise
[1] Volker Braun, „Allgemeine Erwartung” in: Gegen die symmetrische Welt, Mitteldeutscher Verlag, 1975, S. 55
[2] Ebenda, S. 55-56.
[3] Ebenda, S58 -59.
[4] Volker Braun, Büchners Briefe, zitiert nach Volker Braun Die Verhältnisse zerbrechen, Sonderdruck Edition Suhrkamp, Frankfurt Main, 2000, S.35-36
[5] Ebenda, S. 36.
[6] Ebenda, S.43-44.
[7] Ebenda, S.41.
[8] Volker Braun, Die Verhältnisse zerbrechen, Rede zur Verleihung des Georg- Büchner- Preises 2000, S. 22-23.
[9] zitiert aus Volker Braun, Lustgarten Preußen, Suhrkamp-TB, 2000, S. S. 141
[10] Volker Braun, Die Verhältnisse zerbrechen Rede zur Verleihung des Georg- Büchner- Preises 2000, S. 26.
[11] Ebenda, S. 29.
[12] Volker Braun, Auf die schönen Possen, Suhrkamp Verlag 2005 , S.62-63.
[13] Volker Braun, Handbibliothek der Unbehausten, Suhrkamp Verlag 2016, S. 45.
[14] Volker Braun, Große Fuge, Suhrkamp Verlag , 2021, S. 23; SORGEN DES STAATSWESENS.
[15] Volker Braun, Große Fuge, Suhrkamp Verlag, 2021, S. 16; WINDBÜRGER.
[16] Volker Braun, Die Verhältnisse zerbrechen, Rede zur Verleihung des Georg- Büchner- Preises 2000, S. 29.
[17] Volker Braun, Große Fuge, Suhrkamp Verlag, 2021, S. 10, NACH UNSERER ZEIT.
[18] Volker Braun, Große Fuge, Suhrkamp Verlag ,2021, GROSSE LEINWAND, S.47.
[19] Volker Braun, Große Fuge, Suhrkamp Verlag , 2021, AGGREGAT K, S.26.
[20] Volker Braun, „Allgemeine Erwartung” in Gegen die symmetrische Welt, Mitteldeutscher Verlag, 1975, S. 56.
[21] Volker Braun, Große Fuge, Suhrkamp Verlag , 2021, AGGREGAT K, S. 26.
[22] Volker Braun, Große Fuge, Suhrkamp Verlag, 2021, AGGREGAT K, S27.
Foto: Christine Zander, Archiv Peter Gosse, CC-BY-SA 4.0