Zum Tod von Wolfgang Kohlhaase
Von Angelika Nguyen
„Is ohne Frühstück!“ sagt Sunny und lässt das Rollo ihrer Berliner Hinterhofwohnung hochschnellen. Auf den Protest des Mannes in ihrem Bett („Deinetwegen bin ick extra nich arbeiten jejangen.“) antwortet Sunny: „Is ja auch ohne Diskussion.“ Mit diesem Dialog beginnt der Film „Solo Sunny“ und umreißt rasch Lebenssituation und Lebensanspruch der Hauptfigur, der jungen Ostberlinerin Ingrid Sommer, genannt Sunny. Dabei ist ihr Leben gar nicht so lustig. Die Geschichte der Schlagersängerin und ehemaligen Fabrikarbeiterin Sunny handelt von Einsamkeit und missglückter Liebe, von gleichgültigen Kollegen und einem Selbstmordversuch. Das waren gewisse Tabubrüche im Osten, und es ging nicht nur um Sunnys Privatleben. Im Subtext handelt der Film auch von der Krise des Sozialismus, verlorenen Idealen, Leere, Stagnation. Das kam aber nicht als deprimierendes Sozialdrama daher, sondern leicht, fast tänzerisch. Leichtigkeit und witzige Dialoge waren da längst Markenzeichen des Autors Wolfgang Kohlhaase, der diesen 1980 erschienenen Film geschrieben und gemeinsam mit dem Regisseur Konrad Wolf inszeniert hat.
1931 in Berlin geboren, gehörte Kohlhaase zu jener deutschen Generation, deren Sozialisation abrupt geteilt war: Kindheit und frühe Jugend in der Nazizeit, spätere Jugend und junges Erwachsensein nach Kriegsende. Bei der Gründung der DDR, die für die nächsten 40 Jahre seine Heimat wurde, war Kohlhaase gerade 18. Es war die Aufbaugeneration, die noch vor dem Mauerbau entscheiden konnte, zumal in Berlin, ob sie fortan hüben oder drüben leben wollte. Diese enge geographische Nähe zweier Welten im Berlin des Kalten Krieges ist Grundlage des packenden Plots von Berlin, Ecke Schönhauser, den Regisseur Gerhard Klein 1956 nach dem Skript von Wolfgang Kohlhaase inszenierte. Es war schon ihr dritter gemeinsamer Film.
Kohlhaase und der elf Jahre ältere, viel zu früh gestorbene Gerhard Klein hatten einige Gemeinsamkeiten. Beide waren Berliner, Arbeitersöhne und Autodidakten und mochten eine bestimmte realistische Filmsprache.
Sie gingen raus aus den Studios, auf die Straßen und in echte Wohnungen, die das soziale Leben wirklich atmeten und nicht nur symbolisierten. Das Klappern von Geschirr in einem Hinterhof klingt anders als zwischen aufgebauten Pappwänden im Atelier, wie auch das Zuschlagen echter, schwerer Haustüren, der echte Lärm von Autos. Obwohl in Berlin, Ecke Schönhauser sich der Held klar für die sozialistische Seite Berlins entscheidet, war das offizielle Misstrauen groß. Der spätere Film der beiden „Berlin um die Ecke“ (1965) wurde noch während der Produktion verboten und erst 1987 aufgeführt.
1968 begann Wolfgang Kohlhaases langjährige Zusammenarbeit mit Konrad Wolf mit Ich war 19. Kohlhaase konnte das reichhaltige Material aus Konrad Wolfs Biographie in einer Stationendramaturgie bündeln und spannend verknüpfen. Der Film erzählt von dem 19jährigen Konrad Wolf alias Gregor Hecker, der als Leutnant der Roten Armee aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland „heimkehrt“ und im April 1945 mit einem Lautsprecherwagen über Land zieht, um deutsche Soldaten zum Überlaufen zu bewegen. Die Begegnung des untergehenden Systems mit den Siegern bot öfters Gelegenheit zu Situationskomik. Zum Beispiel als ein Dienst habender Wehrmachtsoffizier nicht glauben will, dass sich am anderen Ende der Telefonleitung bereits Vertreter der Roten Armee befinden und schreit „Seid ihr alle besoffen?“. Aber es wird auch die Tragik der letzten Kriegstage erzählt, gleich zu Beginn ist ein erhängter deutscher Deserteur zu sehen, und einmal wird ein blutjunger russischer Soldat auf einer Wiese vor Gregors Augen erschossen.
Wolf und Kohlhaase schufen zusammen noch drei weitere Filme, bis zum frühen Tod Konrad Wolfs. Wieder verlor Kohlhaase einen wichtigen Freund und Regisseur.
1982 erschien Kohlhaases letzte bedeutende Autorenarbeit in der DDR mit Der Aufenthalt (Regie: Frank Beyer), eine aus dem dicken Hermann-Kant-Roman heraus gezogene Filmnovelle, brillant lakonisch geschrieben und inszeniert. Hier geriet viele Jahre nach Wolfgang Staudtes Klassikern erneut der Durchschnittsdeutsche in den Fokus – und sein Verhältnis zur deutschen Schuld. Nach diesem Film zog sich Kohlhaase auf eine gewisse Art zurück.
Ende des Jahrzehnts brach die DDR zusammen und mit ihr das gesamte soziale und politische Bezugssystem der Filmgeschichten Kohlhaases. Eine Erschütterung, vielleicht der ähnlich, die Kohlhaase als 14jähriger erlebte. Elf Jahre mussten vergehen, ehe Wolfgang Kohlhaase, inzwischen 69 Jahre alt, wieder mit Kino anfing und für den Regisseur Volker Schlöndorff die Geschichte einer RAF-Figur aufschrieb, die wie einst Inge Viett im Osten eine neue Identität erhält (Die Stille nach dem Schuss, 2000). Fünf Jahre später meldete sich Kohlhaase bei dem eine Generation jüngeren Regisseur Andreas Dresen mit einem Filmentwurf. Daraus wurde der große Erfolg „Sommer vorm Balkon“ (2005). 25 Jahre nach „Solo Sunny“ erzählte Wolfgang Kohlhaase wieder eine berlinische Geschichte im noch unsanierten Altbau in Prenzlauer Berg, über Liebe, Sehnsucht, Alkohol und vor allem die Freundschaft zwischen Nike und Katrin. Andreas Dresen wurde Kohlhaases neuer Regiepartner, wieder trafen sich zwei mit ähnlicher Perspektive und Sympathie füreinander. Sie machten noch zwei weitere Filme zusammen.
2017 erschien in der Düsternis dunkler Holztäfelung unter dem Titel „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (Regie: Matti Geschonneck) Kohlhaases letzter Kinofilm, wieder eine Romanadaption, eine Art DDR-Rückblende.
Er hatte sich nie wirklich zur Ruhe gesetzt, hatte Brüche verwandelt in Vorwärtsbewegung, in neue Freundschaften, neue Geschichten. Zärtliche Neugier trieb ihn wohl und ein reges Interesse daran, wie Menschen sich zueinander verhalten, unter ganz konkreten Bedingungen. In Berlin und anderswo.
Der Text ist neu bearbeitet und erschien zuvor im März 2021 in der MOZ.