Dokumentarfilm „Bettina“, Dt. 2022, Buch und Regie: Lutz Pehnert
Von Angelika Nguyen
Von der ersten Minute an ist klar: Hier weiß ein Filmemacher um seine Mittel.
Der Berliner Mauerpark im weichen Licht eines Sommerabends, wo einst die Mauer stand, hier geht es spontan zu, privat und öffentlich zugleich. Viele Junge bewegen sich zum Wiesen-Konzert ohne Eintritt. Da nimmt die Regie den Originalton weg und ersetzt ihn im Off mit dem Gesang von Bettina Wegner, von ganz woanders her und aus einer anderen Zeit: das alte Volkslied „Wenn ich ein Vöglein wär‘“. Passt es? Ja, es passt.
So widersprüchlich harmonisch startet das Porträt der Sängerin und Liedschreiberin Bettina Wegner, die, obwohl vom Namen her vielen bekannt, kaum jemand kennt. In diese Lücke geht der Film – zwischen Image und Wirklichkeit seiner heute 74jährigen Protagonistin.
Zum ersten Mal im Film zu sehen ist sie auf einer Probe, mit dem Rücken zur Kamera. Singt, fällt aus höchstem Pathos („..nicht einsam zu sterben und Frieden zu schließen und nie wieder schießen“) rasch in das für sie typische Unzeremonielle: „Ick hab Rippenschmerzen.“ Die unprätentiöse Art der Wegner weckt sofort Sympathie. Das ist ostdeutsches Kulturerbe. Reflektiert sein und trotzdem unverblümt. Blitzschnelle Empathie, niedrige Klassenschranken. Von sich selbst nicht so viel Aufhebens machen. Sich nicht besser fühlen als andere, aber auch nicht schlechter.
Aus der Fülle an Material aus privaten und öffentlichen Archiven und eigenen Interviews baut der Regisseur Bettina Wegners Leben filmisch neu zusammen zu einer spannenden Erzählung. Wie ein roter Faden gehen durch den Film die Audio-Gerichtsprotokolle von 1968, als Bettina Wegner angeklagt wurde wegen der Verbreitung von Flugblättern gegen den Einmarsch in Prag, die die ehemalige Straftäterin nach dem Mauerfall auf Tonkassetten zufällig wiederfand. Mit der Wucht des dokumentarischen Beweises führen die Aufnahmen live zwei wichtige historische Tatsachen vor: einen um sich schlagenden Staat, der jede Kommunikation ablehnt und in Opposition dazu die bereits glasklare politische Haltung der 20jährigen Bettina Wegner, deren damals schüchtern-kindliche Stimme über ihre wahre Stärke hinwegtäuschte. Auf den Polizeifotos: eine schmale, ernste Frau mit hohen Wangenknochen.
Es sind auch Kleinigkeiten. Es ist der Aschenbecher neben ihr auf der Couch während des Interviews, es ist die Art, wie sie rauchend ihre Ellenbogen auf die Knie stützt vor dem Probenraum, es sind die Schuhe, die sie auf der Bühne auszieht, weil sie lieber direkt den Boden spürt, es ist der Teddy auf dem ungemachten Bett, wo sie als junge Frau Gitarre spielt und wie sie auf Fotos ihre Kinder umarmt.
Sie erzählt von Perry Friedmans Import des „Hootenanny-Clubs“ in Berlin Anfang der 60iger, der ihr wichtig war und wo alle jene wöchentlich zusammenkamen, die etwas vorzulesen, zu tanzen, zu singen hatten. Bis das „denen“ irgendwann suspekt wurde und die FDJ via „Oktoberklub“ praktisch übernahm. „Das Spontane, das Freie war weg. Und dit war nich mehr meins.“ Zum Thema Berlinern gibt es Wegners schöne Geschichte aus der Kindheit, von der Abmachung zwischen Eltern und Töchtern: Für jedes berlinerte Wort wurde ihnen ein Pfenning vom Taschengeld abgezogen. „Na, ick hab keen Taschenjeld mehr jesehn.“ Auch später an der Schauspielschule habe man ihr Hochdeutsch beibringen wollen. Ohne Erfolg, wie man hört.
Auf der Couch mit dem gehäkelten Überwurf, die Zigarettenspitze in der Hand, holt Bettina Wegner den berühmten Thomas Brasch, ihre „ganz große Liebe“, vom Sockel und erzählt in drei, vier rauen Sätzen ihre Geschichte mit ihm. Der das schöne Mädchen haben wollte und es noch vor der Geburt des gemeinsamen Sohnes verließ. Ein Sohn, dem er kein Vater wurde, gerade er, der seinem eigenen Vater so viel vorwarf. An der Schwangerschaft und der Geburt ihres Sohnes sei sie, 20jährig, erwachsen geworden, so stellt Bettina heute fest. Und vielleicht war es genau das, was Thomas im Leben fehlte.
Der privaten Zäsur folgte die politische. Im Geburtsjahr des Sohnes, 1968, die Panzer in Prags Straßen, die Toten und Verletzten, die spätere Selbstverbrennung von Jan Palach, dem Wegner ein Lied widmete. Die Antworten von Bettina Wegner vor Gericht können beitragen zu einem Bild von jenen, die den Sozialismus nicht abschaffen, sondern besser machen wollten. Sie hätte es „sofort falsch“ gefunden, dass die Truppen da in Prag waren und hätte „Zettelchen“ geschrieben “ („Deutsche raus aus Prag“, „Es lebe das rote Prag“) und in der Pankower Mühlenstraße verteilt. Da geht die Kinderstimme in tiefere Tonlagen und wird sehr bestimmt. Die Revolution verstieß ihre Kinder, sperrte sie ein, schloss sie vom Studium aus. Es war der Anfang vom Ende des Sozialismus. Bettina Wegner, verurteilt wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu Haft von einem Jahr und vier Monaten, ausgesetzt zur „Bewährung in der Produktion“, verkraftete den Schichtbetrieb in der Fabrik nicht, zumal mit dem Baby, nahm bedrohlich ab, durfte den Rest der Zeit in eine Bibliothek. Die zeitweise Gemeinschaft mit den Arbeiterinnen war eine wichtige Erfahrung, auch an sich selbst: dass sie nach der Schicht nur noch ins Bett fiel, um am nächsten Morgen nur wieder raus zu müssen.
Den Weg des Protestes, wenn sie etwas nicht richtig findet, geht Bettina Wegner auch nach der Ausbildung zur Sängerin weiter, jetzt handwerklich noch besser gewappnet.
Die heute tiefe Rauchstimme der Wegner, ihre Präzision, ihre Melancholie, ihre Ironie. Man schmeißt sich weg vor Lachen, als sie todernst erzählt, wie sie Klaus Schlesinger, ihrem späteren Ehemann, imponieren wollte mit einem „modischen Westwort“, es aber falsch aussprach. „Jetzt biste fustiert, wa?“ Und wie sie eine wichtige Liebe einst „vergeigt“ hat, erzählt sie, von ihrem langen Alleinsein seither, blickt zurück ohne Ausflüchte und ohne Eitelkeit.
Spät, absichtlich spät, bringt der Film das bekannteste Lied von Wegner: „Sind so kleine Hände“. Das Lied von 1978, das sie irgendwann nicht mehr mochte. Weil so viele sie nur damit identifizierten, hatte sie es lange nicht mehr in ihrem Repertoire. Sollte heißen: Hey, ich habe auch noch andere Lieder geschrieben. Dass sie es dann doch nochmal singt, Jahrzehnte nach dem Mauerfall, erklärt sie auf der Bühne, in herrlicher Selbstdistanz, so: Eine Punkband hätte das Lied für sich abgeändert, das trägt sie vor. „Sind so kleine Biere, ist so wenig drin, darfste nich schnell trinken, is sonst alles hin.“ Nachdem der Gebrauchswert des Liedes damit erwiesen war, hätte sie sich wieder damit vertragen.
Der Film räumt auf mit dem Kitsch, der Bettina Wegner umgab. Er räumt auf mit dem Image der Sentimentalen oder auch Naiven, die sicher vor allem im Westen wegen ihres Berlinerns – das dort nur in einer bestimmten sozialen Schicht üblich war – unterschätzt wurde. Die Kamera leuchtet das asketische Gesicht in allen Lebensaltern aus und erkundet es als Spiegel eines Menschen, der alles zusammen ist: verletzlich und zäh, poetisch und bodenständig, suchend und klar. Eine Bühnenarbeiterin, eine Dichterin, eine Sängerin, deren Authentizität ihr größtes Pfund ist. Das Gebot „Nie als anderer erscheinen“ aus ihren zehn „Geboten“ ist wohl das, was ihr am nächsten ist.
Dann der endgültige Rausschmiss aus der DDR 1983. Dabei wollte sie bleiben. Versucht vergeblich, einem Westjournalisten zu erklären, warum sie die DDR menschlicher fand als die BRD – und worin für sie Glück besteht. Aufhorchen lässt Bettina Wegners heutiges Bekenntnis zur DDR als vertrauter Ort, den sie vermisst. Der Westen blieb ihr fremd bis heute. Sie spricht von Theodor Kramer, dem heimatlosen österreichischen jüdischen Dichter, der nach England gehen musste und von seinem Lied „Andre, die das Land so sehr nicht liebten“, das sie vertont hat. Anschließend lässt Pehnert sie das Lied in voller Länge singen, dazu Alltagsszenen aus der DDR der 70iger, spielende Kinder, ein Liebespaar, Karl -Marx-Allee. „Ich doch musste mit dem eignen Messer/meine Wurzeln aus der Erde drehen.“ Gänsehaut…
Es gibt viel zu entdecken in dem Film: an seiner Protagonistin, an dem verschwundenen Land und vielleicht auch an uns selbst.