Eine Rezension von Thomas Klein
Eberhard Aurich hat seine Erinnerungen aufgeschrieben. Für den Versuch der Bewältigung seines Traumas der Herbstrevolution 1989 in der DDR findet er den Begriff „Zusammenbruch“ – er reproduziert damit zunächst einmal nur die Perspektive der frustrierten geschlagenen Herrschaftselite, die nie ein anderes Verständnis für die anwachsende protestierende Minderheit der Herbstrevolutionäre des September 1989 fand, als den der „feindlich-negativen Kräfte“. Der letzte nennenswerte Chef des FDJ-Zentralrats versucht nun in seinem Buch nachträglich eine persönliche Revision dieser Perspektive und verbindet dies mit einer brachialen Abgrenzung vom „Sozialismus als System“. So verfehlt sein Verständnis von der demokratischen Herbstrevolution 1989 als „Zusammenbruch“ ist, so abwegig erweist sich sein retrospektives Bild von der Natur des in der DDR herrschenden Regimes. Letzteres ist die zweifelhafte eigentliche Botschaft seines Lebensberichts. Davon soll später noch die Rede sein.
„Erinnerungen“
Bevor der Leser dieser Rezension jetzt im Folgenden dem Verriss von Aurichs Bekenntnissen entgegensieht (oder ihn befürchtet), will ich den aufklärerischen Ertrag seiner Mitteilungen würdigen, den es zweifellos auch gibt. Sein sehr persönlich gehaltener Erfahrungs- und Erlebnisbericht eines Lebens als Propagandist, Organisator und gefolgschaftstreuer Dienstleister zur Durchsetzung der jugendpolitischen Direktiven der herrschenden Nomenklatura vermittelt eindrucksvoll, wie der Alltag eines Funktionärs in der DDR aussah. Dies ist die Rubrik „Erinnerungen“ seines Buches. Wer sich dafür interessiert, kann Aurich mit Gewinn lesen. Die Glaubwürdigkeit dieser Schilderungen wird durch seine heutige Distanz zu seinem damaligen Wirken eher noch vergrößert, als beschränkt, was die DDR-Verklärer unter seinen Kritikern natürlich ganz anders sehen dürften. Die Beschränkungen seines Blickwinkels resultieren eher daher, dass Aurichs Metier, wie er selbst in einer jüngst stattgefundenen Diskussion betonte, nicht die Auseinandersetzung mit den realen Widersprüchen und Verwerfungen der DDR-Realität, sondern die vermeintliche Formung dieser Realität auf dem Wege der politischen Agitation und Propaganda gewesen sei. Hier ist sein Hinweis, er sei weder Historiker noch Analytiker, sondern Funktionär und Ideologe gewesen, ernst zu nehmen.
„Funktionär funktioniert
Keine Frage? – Keine Frage!
Darauf noch ’ne Lage!“[1]
Angesichts all dessen, was Aurich deshalb von der „DDR-konkret“ so alles entgangen ist, sollten wir ihm seine zweifelhaften retrospektiven gesellschaftspolitischen Reflexionen nicht allzu heftig vorhalten. Es ist aber anzumerken, dass man keineswegs ambitionierter politisch-historisch-interessierter Intellektueller sein musste, um die Obszönitäten und die Verlogenheiten des Überbaus und die schreienden Dissonanzen in der gesellschaftlichen DDR-„Basisrealität“ zu erkennen – alle haben sie gesehen oder durchlitten. Die Frage war nur, ob man gegen diese Verhältnisse anging, sich in ihnen einrichtete, oder an ihrer Erhaltung aktiv mitwirkte. Aurichs Schutzbehauptung angesichts seiner bis zuletzt durchgehaltenen Teilhabe am Systemerhalt:
„Hatten wir in der DDR … eigentlich die Chance, uns über die Geschichte des Sozialismus/Stalinismus [!!] … ein ehrliches und wahres Bild zu machen? Ich behaupte: Nein!“
Das ist einfach falsch. Zu den Tugenden einer nach Hunderttausenden zählenden gefolgschaftstreuen Nomenklatura gehörte es vielmehr, den Berg der offensichtlichen Ungereimtheiten in Propaganda und Realität zu ignorieren oder zu leugnen, anstatt ihnen auf den Grund zu gehen. Zum Anforderungsprofil eines guten Funktionärs gehörte es zudem, all jene, die Letzteres versuchten, daran zu hindern oder bei deren Verfolgung mitzuwirken.
„Dokumente“
Doch zurück zu den erfreulichen Momenten von Aurichs Veröffentlichung: Hier findet sich unter der Rubrik „Dokumente“ erstmals die ausführliche Darstellung des Umgangs mit und des Schicksals von einer Vorlage vom 9. Oktober 1989 für das Politbüro zum Status der Verbundenheit der Jugend mit den Maximen von Partei und Staat sowie ihre Haltung zur „realsozialistischen“ Wirklichkeit. Diese von Aurich mitgestaltete vorsichtige erste Annäherung an diese Wirklichkeit galt Erich Honecker als „größter Angriff der FDJ auf die Parteiführung seit 1949“ (S. 177). Die Schilderung von Aurich darf als Referenzbeispiel für die Austragung innerbürokratischer Rationalitätskonflikte und für die Untauglichkeit selbst jeder noch so weit von reformerischen Ambitionen entfernten kritischen Intervention gelten.
„Einsichten“
Jetzt aber zum Kern dessen, was Aurich in Verarbeitung seiner Erfahrungen nach 30 Jahren als „Einsichten“ präsentiert – also zum wichtigsten Inhalt seiner Botschaft. Diese Botschaft lautet: „Der Sozialismus als System ist zusammengebrochen“ (S. 303ff). Dabei grenzt er sich auch von Michael Schumanns Verheißung „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“ auf dem letzten SED-Parteitag im Dezember 1989 ab: Für Aurich ist „Stalinismus“ ein Kampfbegriff bürgerlicher Ideologen (S. 312), wogegen es doch um die Natur des gesellschaftlichen Systems in den Ländern des sowjetischen Blocks ginge (S. 313). Für Aurich war diese Systemnatur die des „Sozialismus“. Zitat: „Aus diesem Grunde benutze ich hier in diesem Text statt „Stalinismus“ den Begriff „Sozialismus als System““ (S. 315). Aurich verwendet beachtliche Energie darauf, den Begriff „Stalinismus“ zu disqualifizieren. Er verwendet stattdessen den Begriff „Sozialismus als System“. Warum? Wo verortet er sich?
Die Antwort gibt er auf Seite 313: Aurich erklärt, wer heute distanzierend den Begriff „Stalinismus“ verwendet, um die „Idee des Sozialismus“ zu retten, umgeht die Frage, ob nicht in dieser Idee selbst die „Keime der Entartung“ liegen. Anders gesagt: Wer der sozialistischen Idee anhängt, bekommt zwangsläufig den Stalinismus, wobei aber tatsächlich das „System des Sozialismus“ entsteht.
Das kommt einem nun doch sehr bekannt vor: Das ist die Agenda des zeitgenössischen bürgerlichen Antikommunismus, in dessen Echoraum die Begriffsinhalte von Sozialismus, Stalinismus und Kommunismus identisch sind. Jedoch unterscheidet Aurich mehrfach begrifflich seinen „Sozialismus als System“ von der „sozialistischen Idee“ – eine bemerkenswerte logische Unstetigkeitsstelle inmitten seiner Ableitungen. Ebenso kommt der von Aurich eigentlich disqualifizierte Begriff „Stalinismus“ in seinem Text doch immer wieder vor: Beispiele: „Allerdings hat der Stalinismus der deutschen Arbeiterbewegung einen enormen Schaden zugefügt“ (S. 317). (Hier hätte es eigentlich heißen müssen: „Allerdings hat der Sozialismus als System der deutschen Arbeiterbewegung einen enormen Schaden zugefügt.“) Und: „Der Stalinismus (der dogmatische ML) hat der sozialistischen Idee irreparabel geschadet“ (S. 362).
Dies alles ist beileibe keine Sophisterei. Zunächst einmal sei an die beiden prominentesten „Unworte“ in der DDR erinnert: Nach dem XXII. Parteitag der KPdSU wurde in der DDR ein Feldzug gegen das Unwort „Stalinismus“ geführt, um jeden daran zu hindern, auch nur zu denken, in der Sowjetunion herrschten andere Verhältnisse, als sozialistisch-kommunistische. Das andere Unwort war „demokratischer Sozialismus“. Denn das Attribut „demokratisch“ signalisierte die Zweifel desjenigen, der diesen Begriff verwendete, ob der „real Existierende“ auch diese Eigenschaft hatte – mithin, ob er überhaupt „Sozialismus“ war. Wer sich besonders nach dem Prager Frühling 1968 zum demokratischen Sozialismus bekannte, hatte dem bürokratischen Regime im Osten seine Gegnerschaft erklärt. In der DDR bekam man dafür Knast oder Berufsverbot. Im Westen wurde damals eben nicht nur die KPD/DKP, sondern auch die antistalinistische Linke als Gefahr für den von der politischen Klasse definierten Normalzustand bekämpft.
Heute soll mit inversen Denkfiguren das Gleiche bewirkt werden: Der Begriff des Stalinismus ist überwiegend dem Begriff der „Kommunistischen Diktatur“ gewichen. Es reicht ein Blick auf den Zeitverlauf der Umbenennung von Opferverbänden. Der Begriff „Demokratischer Sozialismus“, noch vor 30 Jahren im SPD-Parteiprogramm vorfindlich, wird von den Sozialdemokraten vermieden, um nicht mit dem antikommunistischen Zeitgeist zu kollidieren: Denn heute heißt es, der Sozialismus sei per se antidemokratisch.
Ergo: Wer (wie Aurich) der politbürokratischen Despotie in der DDR unkritisch das Attribut „sozialistisch“ zuerkennt, unterwirft sich der Perspektive des zeitgenössischen bürgerlichen Antikommunismus. Aurich seine essentielle Unkenntnis der langen Geschichte der linken antistalinistischen Opposition und ihrer Diskurse vorzuwerfen, wäre ziemlich billig, denn es war ja gerade sein Geschäft, solche Kenntnisnahme zu verhindern. Diese Opposition hat aber schon lange vor der Nachkriegs-Blockkonfrontation die Natur dieses Herrschaftstyps in der Sowjetunion analysiert (historischer Stalinismus).[2] Bis heute hat die antistalinistische Linke die Invarianten der terroristischen Phase politbürokratischer Diktatur (Hochstalinismus) und der postterroristischen Periode dieses Herrschaftstyps (Despotie bei Zurückfahren innergesellschaftlichen Terrors) in unzähligen Veröffentlichungen expliziert. Dies schließt auch die Kritik der zeitgenössischen philostalinistischen Verfechter und Verharmloser stalinistischer Zwangsvergesellschaftung (Losurdo, Canfora) ein.[3]
Regen oder Jauche?
Die unerbittliche Selbstkritik Aurichs am früheren eigenen Tun und seine brachiale Abrechnung mit dem „Sozialismus als System“ haben natürlich den Widerspruch diverser Schönredner und Verteidiger des DDR-„Realsozialismus“ provoziert. Doch was verbindet eigentlich den „Nestbeschmutzer und Verräter“ Eberhard Aurich mit seinen wütendsten prominenten Kritikern (Egon Krenz und die inzwischen verstorbene Margot Honecker)? Aurich, Krenz und Margot Honecker gehen gemeinsam unerschütterlich davon aus, im sowjetischen Block sei der „Sozialismus als System“ etabliert gewesen – egal ob als „relativ selbstständige Gesellschaftsformation“, wie die Zustände in der DDR eine Zeitlang unter Ulbricht etikettiert wurden, oder als „entwickelte sozialistische Gesellschaft“, wie in der UdSSR seit 1971 und bei Erich Honecker gebräuchlich. Nur: Der Eine (Aurich) distanziert sich nun, handelt sich die Wertung „Wendehals“ ein und fragt fassungslos, ob es denn verboten sei, sich die Sache noch mal zu überlegen. Bei den Anderen (Krenz und Honecker) blieb der Hals starr; sie halten bzw. hielten sich für „prinzipienfeste Kommunisten“ und bewerten selbstkritische Reflexionen als Merkmal des Renegatentums. Ihnen ist die Qualifizierung „stalinistische Betonköpfe“ sicher.
Da ist einem Aurich fast schon wieder sympathisch. Doch wohin es führen kann, wenn sich besonders eifrige ehemalige Vorreiter, Konstrukteure und Schrittmacher der ideologisch-propagandistischen Normen des repressiven SED-Regimes und Dienstleister bei deren Durchsetzung nach ihrer Niederlage neu erfinden, zeigt der Fall Günter Schabowski. Es hat diesen inzwischen verstorbenen Diener aller Systeme bis zum Wahlkampfhelfer der CDU im Berliner Wahlkampf 2001 geführt.
Eine solche Karriere hat zwei Voraussetzungen: Zum einen die Unterwerfung unter das herrschende zeitgenössische Verdikt gegenüber allem, was des „sozialistischen“ verdächtig ist. Zum anderen eine systeminduzierte opportunistisch-devote charakterliche Aufprägung und Anpassungsbereitschaft, die auch schon früher bei innerbürokratischen Rationalitätskonflikten karriereförderlich gewesen war. Solcherart „Wendehalsigkeit“ wird auch heute jenseits jeder „realsozialistischen Sozialisation“ produziert und ist weiterhin sehr gefragt. Hier wiederum erscheint die Halsstarrigkeit des Ex-Superbürokraten, Kopflangers und DDR-Verklärers Egon Krenz fast schon wieder sympathisch. Doch er gehört in die Phalanx der nicht minder unappetitlichen zeitgenössischen Rechtfertiger des SED-Herrschaftssystems (RotFuchs[4], einige Autoren der „jungen Welt“, neuerdings in vorderster Front wieder die DKP).
Fazit
Wer sich nicht zwischen Krenz und Aurich entscheiden mag (was nur zu verständlich ist), wäre gut beraten, sich wieder dem gemeinsamen Gegenstand des Streits der vermeintlichen Antagonisten zuzuwenden. Eine marxistische Kritik des sogenannten „real existierenden Sozialismus“ musste diesem System den sozialistischen Charakter gänzlich absprechen. Rudolf Bahro beispielsweise führte mit seiner These vom „real existierenden Sozialismus“ als „Nominalsozialismus“[5] den Beweis, dass sich unter der ideologischen Hülle des „Realsozialismus“ gerade das Gegenteil jener von Marx definierten ersten Phase kommunistischer Gesellschaften verbarg [6]: Die assoziierte Arbeit von freien und gleichen Produzenten war nach Marx bereits im Sozialismus der Ausgangspunkt in der noch vom Kapitalismus gezeichneten und sich zukünftig auf zu schaffenden eigenen Grundlagen entfaltenden ganz neuen Produktionsweise. Stattdessen kennzeichnete den „Realsozialismus“ das Fortbestehen kommandierender und kommandierter Arbeit, die Verallgemeinerung der kapitalistischen Fabrikhierarchie für alle abhängig Beschäftigten und das Staatseigentum als einem auf die Spitze getriebenen Privateigentum.[7] Linke Oppositionelle in der DDR mussten sich zunächst radikal von den Selbstbildern des Regimes emanzipieren. Wer sich etwa als Marxist mit der tatsächlichen Natur des in der DDR installierten politischen und ökonomischen Systems befasste, erkannte es als antiemanzipatorisch, dirigistisch, antilibertär, ausbeuterisch und repressiv. Die Herrschaft der SED-Bürokraten war paternalistisch, in einem erstaunlichen Ausmaß bürgerlich – kurz: antisozialistisch. Die Natur dieser sich selbst als „real existierender Sozialismus“ etikettierende stalinistische und poststalinistische Diktatur war, gemessen am Marx´schen Kommunismusbegriff, antikommunistisch. Der Vergesellschaftungstyp dieser Systeme war der einer Zwangsvergesellschaftung. Auch mit der Dämpfung der terroristischen und polizeistaatlichen Attribute dieser Diktatur über das Volk musste jeder herrschaftsgeleitete Modernisierungsversuch wegen des Fortwirkens der Systeminvarianten scheitern. Stagnation und Agonie als gesellschaftliche Entwicklungsperspektive waren also systemimmanent. Ein Ende dieser Entwicklung konnte daher nicht das Ergebnis eines Reformprozesses, sondern nur das Resultat des Sturzes dieser Politbürokratie sein. Linke Opposition in der DDR war in diesem Sinne eine unmissverständliche Kampfansage an jede stalinistische und poststalinistische Diktatur. Jeder linke Oppositionelle verstand sich in diesem Sinne als „Staatsfeind“ und wurde vom Regime auch als solcher behandelt.
Für Funktionäre wie Krenz und Aurich entstand der „Kontakt“ mit solchen Kreisen nur dann, wenn es darum ging, sie arbeitsteilig und auftragsgemäß „unschädlich zu machen“. Deren „Denke“ war ihnen fremd oder suspekt. Aurich glaubt auch heute noch ernsthaft, dass im „Realsozialismus“ das Privateigentum in gesellschaftliches Eigentum umgewandelt worden sei (S. 388). Ein „Volkseigentum“ (S. 22), so erklärt er aus heutiger Sicht, fördere nur Faulheit und Verantwortungslosigkeit, aber kein Eigentümerbewusstsein!!
Konsequenterweise kennt Aurich auch nur den Begriff des „Zusammenbruchs“ für das Ende der DDR, findet keinen Zugang zu den herbstrevolutionären Akteuren des Jahres 1989 und hat keinen Anlass, auch über die Niederlage der linken antistalinistischen Opposition nach 1990 nachzudenken. Zu „Wendezeiten“ hat Eberhard Aurich die Antifa-Aktivisten und die protestierenden Rockmusiker hingehalten, auf die Zeit nach dem 40. DDR-Jahrestag vertröstet und versucht, die Musiker zu veranlassen, ihre Resolution nicht mehr öffentlich zu verlesen. Die wegen ihrer Meinungsbekundungen 1988 relegierten Ossietzky-Schüler bezeichnet er heute noch als „DDR-feindliche Provokateure“ (S. 71). Interessant ist seine Mitteilung, dass auf die skandierte Losung „Wir wollen raus!“ der Ausreisewilligen auf den Leipziger September-Montagsdemos seitens der auf Befehl dorthin beorderten sämtlichen Leipziger FDJ- und Parteifunktionäre anweisungsgemäß mit dem Ruf „Wir bleiben hier!“ geantwortet wurde (so Annemarie Pester, FDJ-Chefin des Bezirks Leipzig, an Aurich, S. 63). Die oppositionellen Demonstranten und deren Selbstlegitimation finden keine Erwähnung. Die Leipziger September-Montagsdemos waren also angeblich von der ersten Demo an eine Veranstaltung der Ausreisewilligen und der Funktionärskohorten! Sehr merkwürdig…
Eberhard Aurich zitiert in seinem Buch gern Bertolt Brecht. Ich antworte ihm gern mit einem Brecht-Text, dessen Veröffentlichung auf einer FDJ-Wandzeitung 1978 im Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften mir als verantwortlichem Redakteur das Verbot dieser Wandzeitung durch die FDJ-Kreisleitung der Akademie der Wissenschaften der DDR einbrachte:
Ka-meh über die Verwirklichung der Großen Ordnung
Ka-meh sagte den Arbeitern: Hütet euch vor Leuten, die euch predigen, ihr müsstet die Große Ordnung verwirklichen. Das sind Pfaffen. Sie lesen wieder einmal irgendetwas in den Sternen, was ihr machen sollt. Jetzt seid ihr für die große Unordnung da, dann sollt ihr für die Große Ordnung da sein. In Wirklichkeit handelt es sich für euch doch darum, eure Angelegenheiten zu ordnen; das machend schafft ihr die Große Ordnung. Die schlimmen Erfahrungen, die ihr mit der Großen Unordnung gemacht habt, mögen euch da leiten und dazu einige Erfahrungen angenehmer Art, die euresgleichen bei gewissen Aufständen gemacht haben. Es wird aber gut sein, wenn ihr nicht in Gedanken eine Wohnung bis auf den letzten Nagel im Kopf einrichtet, die es dann zu „verwirklichen“ gilt. Behaltet euch lieber so viel wie möglich vor. Beim Planen zerstreitet man sich leichter als beim Ausführen und beim Ausführen fällt einem mehr ein als beim Planen. Hütet euch, die Diener von Idealen zu werden; sonst werdet ihr schnell die Diener von Pfaffen sein.
(Aus: Bertolt Brecht, Me-Ti. Buch der Wendungen)
[1] Wolf Biermann, Lied vom Funktionär.
[2] Ein Überblick findet sich etwa in: Christoph Jünke (Hrg.), Marxistische Stalinismuskritik im 20. Jahrhundert. Eine Anthologie. Neuer ISP-Verlag, Köln 2017.
[3] Siehe dazu: Christoph Jünke, Der lange Schatten des Stalinismus: Sozialismus und Demokratie gestern und heute. ISP, Köln 2007.
[4] Aus der Leitsätzen des RotFuchs-Fördervereins e. V.: „Die DDR war die größte Errungenschaft in der Geschichte der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung“. Der Vereinsvorsitzende Arnold Schölzel ist Mitglied der DKP und war von 2000 bis 2016 Chefredakteur der jW.
[5] Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Hamburg 1977.
[6] Hier folgt Bahro der dialektischen Trinität von „nominell-formell-reell“ in der Hegelschen Logik. Siehe dazu: Bernd Gehrke, Welchen Charakter hatte die Epoche der Sowjetunion? Marx, die Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus und eine „formell-kommunistische Produktionsweise“ ohne Formbestimmung? Anmerkungen zu einem Artikel von Thomas Kuczynski, in: Lunapark 21 Nr. 41/2018.
[7] Ebenda.